Reaktion der Bevölkerung auf Vertragsabschluss BRD– UdSSR (II)
28. September 1970
Information Nr. 1012/70 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR auf den Abschluss des Vertrages UdSSR – BRD
Aus allen Bezirken wird übereinstimmend berichtet, dass die Meinungsäußerungen der Bevölkerung aller Schichten zum Vertragsabschluss1 vom Umfang und der Intensität her stark zurückgegangen sind.
Die gegenwärtige Situation in der Reaktion der Bevölkerung zu diesem Problem ist dadurch gekennzeichnet, dass ein großer Teil der Bürger im Hinblick auf die noch ausstehende Ratifizierung des Vertrages durch den Bonner Bundestag2 eine abwartende Haltung bezieht.
Bei den vorliegenden Meinungsäußerungen der Bevölkerung der DDR ist weiterhin typisch, dass der Vertrag UdSSR – BRD überwiegend als positiv und nützlich beurteilt wird.
Vorherrschend sind Ansichten, wonach der Vertrag entsprechende Voraussetzungen biete, vorhandene Spannungen in Europa abzubauen. Mehrfach wird der Vertrag als Ausdruck der kontinuierlichen Friedenspolitik der SU und der sozialistischen Staatengemeinschaft und in diesem Zusammenhang als Niederlage für das gesamte kapitalistische System eingeschätzt.
Wiederholt treten Äußerungen in der Richtung auf,
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der Vertrag schaffe günstige Bedingungen im Zusammenhang mit der Erreichung der Sicherheit in Europa;
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der Vertrag schaffe Voraussetzungen für die völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die BRD und andere kapitalistische Staaten;
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der Vertrag ebne den Weg für die konstruktive Weiterführung der Verhandlungen zwischen beiden deutschen Staaten. Er rege die Staatsführungen in der BRD und in der DDR an, die »Denkpause« in der Deutschlandfrage3 zu nutzen;
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die Verhandlungen zwischen der UdSSR und der BRD hätten gezeigt, dass man mit der BRD erfolgreich verhandeln könne, ohne dass die Klärung der Grundsatzfragen beeinträchtigt würde und die prinzipielle Position der DDR verlassen werden brauche.
Weiterhin ausgeprägt – wenn auch im Verhältnis zur Periode unmittelbar nach Abschluss des Vertrages weitaus geringer – sind spekulative Erwartungen im Zusammenhang mit Fragen der sogenannten menschlichen Erleichterungen (Erweiterung der wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Zusammenarbeit DDR – BRD, größere Freizügigkeit im Reiseverkehr nach WD/WB, Passierscheinabkommen,4 Kultur- und Sportaustausch).
In allen Bezirken und in allen Schichten der Bevölkerung treten nach wie vor unklare Auffassungen über die Machtverhältnisse in der BRD und speziell zur Stellung, Rolle und Funktion der SPD im staatsmonopolistischen System Westdeutschlands auf.
(Forderung der Unterstützung der SPD als »kleineres Übel« gegenüber dem Rechtskartell;5 teilweise Unterstützung der Konzeption der Brandt6-Regierung, eine »Annäherung« an die sozialistischen Staaten zu erreichen.)
Diese Unklarheiten umfassen außerdem solche Komplexe wie
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das Nichterkennen der Aggressivität des westdeutschen Imperialismus,
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eine Befürwortung der friedlichen Koexistenz zwischen der DDR und der BRD ohne Abgrenzung zu Fragen der ideologischen Koexistenz zwischen der DDR und der BRD.
In letzter Zeit treten vermehrt – besonders in Kreisen der Intelligenz – Meinungsäußerungen zur stattgefundenen Konferenz des politisch-beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages7 auf, wobei diese Tagung häufig mit dem vorher abgeschlossenen Vertrag UdSSR – BRD in Verbindung gebracht wird.
Bei überwiegend zustimmender Haltung zum Stattfinden dieser Tagung und bei Erkennung der Wichtigkeit der dort behandelten Probleme wird mehrfach aber auch in der Form diskutiert,
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die DDR habe in Moskau eine »Zurechtweisung« erfahren. Die offiziellen Beratungen hätten nur fünf Stunden gedauert. Für die DDR bedeutungsvoller seien die Vorbesprechungen mit der sowjetischen Staatsführung gewesen. Es »spreche für sich«, wenn über den konkreten Inhalt und das Ergebnis dieser Besprechungen keine Veröffentlichungen erscheinen würden;
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es sei sichtbar geworden, dass sich die Partei- und Staatsführung der DDR in einer Phase der Anpassungsschwierigkeiten befände;
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die DDR wolle sichern, dass sie ihren ersten Rang gegenüber Bonn behalte und ihr das Monopol in der Festlegung der Deutschlandpolitik erhalten bleibe; das sei ihr in Moskau jedoch nicht in vollem Umfange gelungen;
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offensichtlich sei den DDR-Politikern in Moskau klargeworden, dass die SU im Gegensatz zur DDR eine »gemäßigtere und verständigungswilligere Politik« betreibe und in diesem Zusammenhang auch zu »vertretbaren Zugeständnissen« bereit sei; den sozialistischen Ländern sei damit ein »Signal« für die Lösung aller Konflikte auf friedlichem Wege gegeben worden;
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es sei erkennbar, dass es in der sowjetischen Führung Unterschiede in der Einschätzung und Haltung gegenüber der westdeutschen Regierung, aber auch der DDR geben würde;
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die Politik der sozialistischen Staaten weise in zunehmendem Maße Eigenständigkeiten auf und es erfolge eine ungenügende Abstimmung.
(Vereinzeltes Auftreten der Frage, unter welchem Aspekt eine Einschätzung der bestehenden sozialistischen Staatengemeinschaft erfolgen solle.)
In den Meinungsäußerungen der Bevölkerung werden z. T. Spekulationen angestellt, wonach eventuell mit einer baldigen neuen Initiative der UdSSR im Hinblick auf die angestrebte Sicherheitskonferenz8 zu rechnen sei.
Zum Teil wird eingeschätzt, dass die Reaktion der DDR-Publikationen zum Vertragsentwurf, zur Konferenz des politisch-beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages und zu den derzeitigen Aktivitäten der Regierungen zu bevorstehenden Verhandlungen mit der BRD nicht ausführlich genug und zu zurückhaltend sei, was als Mangel empfunden wird.
Obwohl diese angeführten Fragenkomplexe im Zusammenhang mit der politisch-ideologischen Auseinandersetzung über Wesen, Charakter und Auswirkungen des Vertrages UdSSR – BRD und mit Problemen der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten nach wie vor eine Rolle in der Meinungsäußerung der Bevölkerung spielen, haben sich in der letzten Zeit deutliche Verschiebungen im Hauptinhalt der Diskussionen ergeben.
Immer stärker treten – vom Vertrag abgeleitet – sachbezogene Probleme hervor, die die Beziehungen der UdSSR zur DDR, die Entwicklung ihrer weiteren wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Zusammenarbeit betreffen.
Während von einem Teil der Bürger der DDR diese Probleme z. T. unterschwellig, verschwommen und allgemein in die Diskussion in stärkerem Maße mit einbezogen werden, treten bei einer Reihe Angehöriger der Intelligenz – besonders der technischen und wissenschaftlichen – konkret formulierte Fragen der gegenwärtigen und perspektivischen Zusammenarbeit DDR – UdSSR auf, wobei die Beantwortung in diesen Kreisen nicht immer von einer festen Klassenposition aus erfolgt. Meinungsäußerungen in dieser Hinsicht sind auch von leitenden Kadern und Mitarbeitern von Industrieministerien, wissenschaftlichen Instituten und Einrichtungen der DDR bekannt.
In diesen Äußerungen werden die im Zusammenhang mit dem Vertrag UdSSR – BRD von beiden Seiten vor allem auf den Gebieten der Ökonomie und der Wissenschaft und Technik angeblich entwickelten Aktivitäten zur engeren Zusammenarbeit und Kooperation in den Vordergrund gestellt.
Es überwiegen im Allgemeinen Befürchtungen, dass die UdSSR durch ihre verstärkte Orientierung auf die wissenschaftlich-technische und ökonomische Zusammenarbeit mit Westdeutschland und anderen kapitalistischen Staaten nicht mehr in der Lage sei, die Zusammenarbeit mit der DDR im bisherigen Umfange aufrechtzuerhalten. Daraus werden Benachteiligungen der DDR gegenüber anderen Ländern abgeleitet.
Außerdem sind Erscheinungen in den Meinungsäußerungen zu erkennen, in denen die Richtigkeit der Politik der UdSSR – insbesondere auch die Aufrichtigkeit ihrer Beziehungen zur DDR – in Zweifel gestellt werden.
In Spekulationen wird hervorgehoben, die UdSSR sei aufgrund einer bevorstehenden »inneren ökonomischen Krise« zu ökonomischen Verhandlungen mit der BRD »gezwungen«.
Der Vertrag sei ein konstruktiver Kompromiss, der den »Vorwand« für die durch die UdSSR von der BRD angenommenen Kredite liefere.
Im Bereich der Wissenschaft und Technik – besonders unter Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Mitarbeitern der Bereiche der DAW – sind verbreitet Diskussionen und Auseinandersetzungen über die weitere Entwicklung und Gestaltung der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit DDR – UdSSR im Gange. Diese Diskussionen haben sich besonders im Zusammenhang mit dem offiziellen Besuch einer Delegation des westdeutschen Wissenschaftsministeriums unter Leitung des Ministers Leussink9 in der UdSSR wesentlich verstärkt.
Ein leitender Wissenschaftler bezeichnete den Vertragsabschluss in diesem Zusammenhang als eine »unangenehme Geschichte« und betonte, für die DDR sei es das Beste, wenn der westdeutsche Bundestag den Vertrag nicht ratifizieren würde. Mehrfach wird die Befürchtung ausgesprochen, im Ergebnis des Vertrages UdSSR – BRD könnten weitere Verträge über wissenschaftlich-technische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten abgeschlossen werden. Offenbar sei der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Leussink, mit der Vorbereitung dieser Verträge beauftragt und es sei anzunehmen, dass der sowjetische Ministerpräsident Kossygin10 die Angebote nutzen würde.
Die DDR habe nichts Gleichwertiges zu bieten. Deshalb könnte die weitere Entwicklung so verlaufen, dass die Zusammenarbeit UdSSR – BRD in Wirtschaft und Wissenschaft erstrangig verläuft und die Beziehungen zur DDR in den Hintergrund treten. Einige leitende Mitarbeiter des Zentralinstituts für solarterrestrische Physik der DAW, die in die Interkosmosarbeit einbezogen sind, wiesen in ersten Stellungnahmen im internen Kreis darauf hin, dass sich im Gefolge von Leussink auch ein verantwortlicher Wissenschaftler für Raumfragen befinden soll.
Ihrer Meinung nach deute alles darauf hin, dass sich auf diesem Forschungsgebiet eine Zusammenarbeit zwischen der UdSSR und der BRD anbahne, die die gesamte Interkosmosarbeit der sozialistischen Länder belasten könnte. Insbesondere sei zu befürchten, dass Westdeutschland mit seinem – ihrer Meinung nach – gegenüber der DDR größeren Potenzial auf dem Gebiet der Raumforschung ein attraktiverer Partner für die UdSSR als die DDR sei. Bei dieser Entwicklung sei abzusehen, dass die Zusammenarbeit DDR – UdSSR auf dem Gebiet der Erforschung und Nutzung des kosmischen Raumes in den Hintergrund treten würde.
Leitende Mitarbeiter der Hauptabteilung »Internationale Beziehungen« der DAW wiesen in individuellen Gesprächen darauf hin, in letzter Zeit sei die Tendenz festzustellen, dass es für ausländische Wissenschaftler – vor allem aus Frankreich und den USA – leichter sei, sowjetische Forschungseinrichtungen zu besuchen als für Wissenschaftler der DDR. Sie wiesen darauf hin, während der Verhandlungen UdSSR – BRD sei u. a. vereinbart worden, dass im September 1970 eine repräsentative Delegation von Wissenschaftlern der BRD in die UdSSR reist.11 Für den gleichen Zeitpunkt sei jedoch durch frühere Abmachungen eine Delegation der DAW von sowjetischer Seite eingeladen gewesen (Besuch der sibirischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Nowosibirsk). Von der UdSSR sei ohne Begründung der Vorschlag unterbreitet worden, die Reise der DDR-Wissenschaftler vom September auf Oktober zu verlegen. Von Wissenschaftlern der DAW wird dieser Vorschlag so gewertet, dass die UdSSR in den Verhandlungen mit Brandt Zugeständnisse auch auf wissenschaftlich-technischem Gebiet gemacht habe, die die DDR benachteiligen.
Auch im Bereich der chemischen Industrie werden diese Probleme stark diskutiert. Das fand besonders seinen Niederschlag während der Internationalen Ausstellung »Chemie 70«,12 während der bei dem in Moskau anwesenden DDR-Ausstellungspersonal Unsicherheiten in der Auffassung über die Haltung der sowjetischen Seite zur DDR-Chemie auftraten. Diese Unsicherheiten wurden hervorgerufen durch eine einseitig überbetonte Berichterstattung des Pressereferenten der DDR-Ausstellung, Hackemesser,13 über eine Pressekonferenz der UdSSR-Ausstellungsleitung am 9.9.1970, während der Hackemesser besonders auf den Geheimhaltungsaspekt bezüglich der Ausführungen des Ministers für chemische Industrie der UdSSR, Konstandow,14 hinwies.
Genosse Konstandow habe nach Auffassung von leitenden Mitarbeitern der chemischen Industrie der DDR das Leistungsvermögen der DDR-Chemie in ungenügendem Maße dargestellt und gewürdigt.
Eine angeblich unrichtige Darstellung der gemeinsamen Arbeiten an der Entwicklung einer Hochdruckpolyäthylenanlage von 50 bis 60 kt/a habe sogar zu einem Gespräch zwischen Genossen Konstandow und leitenden Funktionären der chemischen Industrie der DDR führen müssen, um die Gesamtproblematik richtigzustellen.
Eine Reihe Wissenschaftler sei darüber irritiert, dass die angekündigte DDR-Regierungsdelegation unter Leitung des Genossen Rauchfuß15 nicht zur »Chemie 70« eingereist wäre.
Nach Bekanntwerden der Nichteinreise der Regierungsdelegation zur »Chemie 70« wurden zum Teil solche Schlussfolgerungen gezogen, dass eine Verschlechterung der Beziehungen UdSSR – DDR vorliege. (Die sachlichen Zusammenhänge stellten sich jedoch so dar, dass unter Berücksichtigung des Charakters der »Chemie 70« und der Protokollfestlegung gegenüber den anderen sozialistischen Ländern selbst vom Genossen Botschafter Bittner16 und dem Leiter der Handelsvertretung der DDR, Genossen Kerber,17 die Entsendung einer solchen Regierungsdelegation zur »Chemie 70« für nicht zweckmäßig gehalten wurde.)
Aus einer Reihe weiterer dem MfS vorliegenden Hinweisen geht hervor, dass von Wissenschaftlern der DDR dem Auftreten und Verhalten von Wissenschaftlern der UdSSR auf internationalen Tagungen und Konferenzen verstärktes Interesse entgegengebracht wird. Dabei wurde das Auftreten von Wissenschaftlern der UdSSR auf einigen wissenschaftlichen Tagungen der letzten Zeit zum Teil missbilligt.
So gab es z. B. unter Wissenschaftlern der DDR kritische Bemerkungen zum Auftreten sowjetischer Philosophen während des VIII. Internationalen Hegel-Kongresses (23. – 29.8.1970) in Berlin und des Internationalen Symposiums für Fotointerpretation (10. – 16.9.1970) in Dresden. Im Wesentlichen wird kritisiert, dass von den Wissenschaftlern der UdSSR in ihren Beiträgen aktuelle politisch-ideologische Fragen umgangen würden und auch in den Diskussionen die offensive Teilnahme an ideologischen Auseinandersetzungen ausbleibe. Selbst bei direkten politisch-ideologischen Angriffen gegen die UdSSR bzw. die sozialistischen Länder (Hegel-Kongress) wäre von den Vertretern der UdSSR nicht reagiert worden. Es wird geschlussfolgert, dass sich eine bestimmte »Rücksichtnahme« anbahne, die auf den Vertragsabschluss UdSSR – BRD zurückzuführen sei.
Obwohl der Vertrag als ein Erfolg der UdSSR zu bewerten sei, bliebe das Bemühen der UdSSR, mit der BRD unter allen Bedingungen, vor allem auf wissenschaftlich-technischem und ökonomischem Gebiet ins Geschäft zu kommen, äußerst zweifelhaft (Äußerungen leitender Mitarbeiter des Zentralinstituts für physikalische Chemie der DAW).
Ihrer Ansicht nach sei dies das Äquivalent der UdSSR für die »Zugeständnisse« Brandts.
Weitere Meinungsäußerungen beinhalten, der verstärkte wissenschaftliche Austausch UdSSR – BRD erhöhe die Gefahr einer gewissen Isolierung der Wissenschaftler der DDR, da sie im Gegensatz zu den sowjetischen Kollegen zu geringe Möglichkeiten hätten, Kontakte zu Wissenschaftlern Westdeutschlands und des kapitalistischen Auslandes zu unterhalten. Die UdSSR habe ihren Wissenschaftlern einen »weiteren Vorteil« verschafft, der die DDR-Wissenschaftler immer stärker in eine »Statistenrolle« zwänge. Die einseitige Orientierung auf die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit mit der UdSSR sei deshalb nicht länger vertretbar.
Verstärkt werden aus vielen Bereichen der Wissenschaft und Ökonomie der DDR in diesem Zusammenhang Spekulationen bekannt, wonach auch die DDR »nachziehen« und die Verbindung auf wissenschaftlich-technischem Gebiet zur BRD »liberalisieren« könnte. Es wird betont, dass die Schaffung dieser Verbindung auch mit anderen Ländern notwendig sei, um den wissenschaftlich-technischen Stand der DDR aufrechtzuerhalten.
So vertraten z. B. leitende Mitarbeiter des Instituts für hohe Energien in Zeuthen die Auffassung, dass die Schaffung einer »offenen Atmosphäre« in der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit für die DDR-Wissenschaftler von Bedeutung sei.
Anlage zur Information Nr. 1012/70
Hinweise zur Information Nr. 1012 vom 28. September 1970 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR auf den Abschluss des Vertrages UdSSR – BRD
Berlin, den 28.9.1970
Auf der Grundlage vorwiegend interner und zuverlässiger Informationen haben wir eine Ausarbeitung über den gegenwärtigen Stand der Reaktion der Bevölkerung der DDR auf den Abschluss des Vertrages UdSSR – BRD gefertigt. In dieser Information sind eine Reihe besonders aussagekräftiger inoffizieller Meinungsäußerungen vornehmlich aus dem Bereich der Wissenschaft und Technik der DDR verarbeitet worden. Da es sich bei den sich äußernden Personen in einer Vielzahl um leitende und profilierte Wissenschaftler handelt, halten wir das für zweckmäßig, Ihnen persönlich davon Kenntnis zu geben.
Bereits in der Vergangenheit wurde die Reaktion der Bevölkerung der DDR auf den Abschluss des Vertrages vom MfS aufmerksam verfolgt. Über die Argumente auf politisch-ideologischem Gebiet liegt in diesem Zusammenhang auch eine detaillierte Information des MfS (Nr. 803/70) vor.
Gegenwärtig ist die Situation in der Reaktion der Bevölkerung dadurch gekennzeichnet, dass die Meinungsäußerungen vom Umfang und der Intensität stark zurückgehen.
Allerdings haben sich in letzter Zeit bei Wissenschaftlern und Wirtschaftskadern deutliche Verschiebungen im Hauptinhalt der Diskussionen ergeben.
Immer stärker treten – vom Vertrag abgeleitet – sachbezogene Probleme hervor, die die Beziehungen der UdSSR zur DDR, die Entwicklung der weiteren wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Zusammenarbeit betreffen.
In diesen Äußerungen werden die im Zusammenhang mit dem Vertrag UdSSR – BRD von beiden Seiten vor allem auf den Gebieten der Ökonomie und der Wissenschaft und Technik angeblich entwickelten Aktivitäten zur engeren Zusammenarbeit und Kooperation in den Vordergrund gestellt. Es verstärken sich Befürchtungen, wonach die UdSSR die Zusammenarbeit mit der DDR nicht mehr im bisherigen Umgange aufrechterhält.
Unter anderem sind folgende Meinungsäußerungen typisch:
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Es zeichne sich eine verstärkte Orientierung der UdSSR auf die wissenschaftlich-technische und ökonomische Zusammenarbeit mit der BRD und anderen kapitalistischen Staaten ab. Der Vertrag UdSSR – BRD sei eine »unangenehme Geschichte«. Für die DDR sei es das Beste, wenn der westdeutsche Bundestag den Vertrag nicht ratifizieren würde. Die DDR habe der UdSSR nichts Ebenbürtiges zu bieten. Die DDR würde dann als zweitrangig betrachtet.
(u. a. Prof. Dr. Thießen, Ehrenvorsitzender des Forschungsrates der DDR)
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Die Zusammenarbeit UdSSR – BRD könne die gesamte Forschungsarbeit der sozialistischen Länder belasten. Die BRD habe ein größeres Potenzial und sei ein attraktiverer Partner als die DDR.
(Prof. Schmelowsky, Diplom-Ingenieur Zimmermann/Zentralinstitut für solarterrestrische Physik der DAW)
Zusammenarbeit UdSSR – BRD werde die Position der Wissenschaftler der DDR schwächen, erhöhe die Gefahr der Isolierung der Wissenschaftler der DDR, dränge sie in eine »Statistenrolle«
(u. a. Dr. Reich, Dr. Seifert/Zentralinstitut für physikalische Chemie der DAW; Dr. Wolf, theoretischer Physiker des Instituts für hohe Energien in Zeuthen)
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Die Aufrichtigkeit er Beziehungen der UdSSR zur DDR werden in Zweifel gestellt.
Die vorliegende Information ist so abgefasst, dass sie möglicherweise einem weiteren Kreis von Mitgliedern des Politbüros zur Verfügung gestellt werden kann, wenn es für zweckmäßig erachtet wird.