Reaktion der Bevölkerung der DDR zu den Ereignissen in Polen
23. Dezember 1970
Information Nr. 1371/70 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR zu den Ereignissen in der VR Polen
Nach Verbreitung der Meldungen über die Ereignisse in der Volksrepublik Polen1 durch die Rundfunk- und Fernsehsender am 16.12.19702 traten diese Ereignisse und Vorkommnisse, ihre möglichen Zusammenhänge und Auswirkungen, immer stärker in den Mittelpunkt der Diskussionen unter den verschiedensten Schichten der Bevölkerung der DDR.
Das Interesse an Informationen über die weitere Entwicklung der Lage in der VR Polen nahm in den folgenden Tagen zu. Dabei war bis zum 18.12.1970 insgesamt die Tendenz zu verzeichnen, dass sich ein großer Teil der Bürger durch Westsender informierte. In diesem Zusammenhang wurden verbreitet Zweifel an der Aktualität und Objektivität der Meldungen der Publikationsorgane der DDR geäußert. Nach der Rundfunk- und Fernsehansprache des Ministerpräsidenten der VR Polen3 und der umfassenden Berichterstattung in der DDR-Presse änderte sich diese Tendenz und es wurde von vielen Bürgern als positiv bewertet, dass Presse, Rundfunk und Fernsehen der DDR in breiterem Umfang über die Lage in der VR Polen informierten.
Von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung werden die Aktionen und Ausschreitungen der anarchistischen, rowdyhaften und kriminellen Elemente verurteilt und es wird allgemein bedauert, dass es zu solchen Zwischenfällen, die Menschenleben forderten, kommen konnte.
Die straffen und energischen Maßnahmen der polnischen Partei- und Staatsführung zur Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe und Ordnung und das konsequente Vorgehen der Sicherheitskräfte werden befürwortet und unterstützt.
Insgesamt kann eingeschätzt werden, dass von der Mehrheit der Bevölkerung der DDR die Situation in der VR Polen kritisch betrachtet wird, wobei in den Diskussionen immer wieder zum Ausdruck gebracht wird, dass die polnische Arbeiterklasse unter Führung ihrer Partei die Kraft aufbringen werde, die Ausschreitungen unter Kontrolle zu bringen und alle Angriffe auf die sozialistischen Errungenschaften zurückzuschlagen.
Gleichzeitig herrscht bei vielen Bürgern Besorgnis darüber, dass die Ausschreitungen und ihre Auswirkungen in erster Linie den Feinden des Sozialismus und vor allem den imperialistischen und revanchistischen Kräften nützen.
Es wird befürchtet, dass die Einreise in der VR Polen das sozialistische Lager und insbesondere die Einheit und Geschlossenheit der Warschauer Vertragsstaaten schwächen könnten.
Als eine der Hauptursachen für die Unruhen und Ausschreitungen in der VR Polen wird allgemein die Einführung der preisregulierenden Maßnahmen4 zu einem so »ungünstigen Zeitpunkt« wie kurz vor den Weihnachtsfeiertagen angesehen.
Durch die Verteuerung der Grundnahrungsmittel sei vor allem der Lebensstandard der Arbeiter betroffen worden.
Als weitere Ursachen und Anlässe wurden in den Diskussionen solche Fakten genannt, wie
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die polnische Arbeiterpartei habe der ideologischen Arbeit bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, sie spiele in der Parteiarbeit eine untergeordnete Reihe;
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es zeigten sich jetzt die Auswirkungen gewisser »Halbwahrheiten«, wie das inkonsequente Verhalten gegenüber negativen Jugendlichen und Angehörigen der Intelligenz, Duldung revisionistischer Auffassungen und Tolerierung breiter kirchlicher Einflüsse;
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in der VR Polen habe es keine klare Linie in der Wirtschaftspolitik gegeben. In den letzten Jahren sei eine gewisse Liberalisierung eingetreten und man habe die westlichen Einflüsse auf ökonomischem Gebiet unterschätzt;
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auf dem Gebiet der Landwirtschaft habe man die ökonomischen Gesetze verletzt. Es zeigten sich jetzt die Auswirkungen der inkonsequenten Linie hinsichtlich der Bildung landwirtschaftlicher Genossenschaften;
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der Vertrag mit Westdeutschland5 habe mit dazu beigetragen, eine ideologische Aufweichung in der VR Polen einzuleiten. Die polnische Führung habe den wachsenden Einfluss der BRD unterschätzt und die Lage im eigenen Lande nicht richtig eingeschätzt.
In verschiedenen Diskussionen, insbesondere in Kreisen von Studenten und Angehörigen der pädagogischen Intelligenz, wird das Ausbrechen der Unruhen in den »ehemaligen deutschen Ostgebieten« damit in Zusammenhang gebracht, dass mit der Vertragsunterzeichnung die »letzte Möglichkeit zur friedlichen Wiederangliederung dieser Gebiete an Deutschland« genommen worden sei. Dieser Umstand habe neben den ökonomischen Missständen ebenfalls mit zu den Ereignissen beigetragen.
In einer Reihe von Meinungsäußerungen werden die Ereignisse in der VR Polen mit der konterrevolutionären Entwicklung in der ČSSR im Jahre 19686 verglichen. Dabei wird jedoch überwiegend die Meinung vertreten, dass in der VR Polen im Gegensatz zur damaligen Zeit in der ČSSR die Machtfrage klar ist und Armee und Sicherheitsorgane voll und ganz hinter der Partei- und Staatsführung stehen.
Einzelne Bürger bringen zum Ausdruck, dass die Partei- und Staatsführung der VR Polen nichts aus den Ereignissen in der ČSSR gelernt hätte.
In diesem Zusammenhang wurden auch einige Befürchtungen geäußert, dass die Truppen der Warschauer Vertragsstaaten genauso in der VR Polen eingreifen könnten wie 1968 in der ČSSR.
Im Zusammenhang mit den Ereignissen in der VR Polen werden insbesondere hinsichtlich der ökonomischen Entwicklung, des Lebensstandards und ideologischer Probleme häufig Vergleiche zur Entwicklung in der DDR angestellt.
Dabei gelangt der größte Teil der Bürger zu der Feststellung, dass
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die Partei- und Staatsführung in der DDR eine bessere Politik betreibt,
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ökonomische Maßnahmen taktisch klüger und mit der Bevölkerung löst (Zusammenhang mit Diskussionen zum 14. Plenum des ZK der SED),7
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die DDR wesentlich weiter als die VR Polen ist und
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die politisch-moralische Einheit der Bevölkerung der DDR wesentlich gefestigter ist.
Neben diesen positiven Meinungsäußerungen gibt es in geringem Umfang negative und spekulative Vergleiche, wobei man sich hauptsächlich solcher Argumente bedient wie:
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die Preiserhöhungen in der VR Polen seien der Anfang von ähnlichen Maßnahmen im gesamten sozialistischen Lager.
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die Polen seien selbst schuld an dieser Entwicklung, da sie im Vergleich zu den Arbeitern in der DDR eine schlechtere Arbeitsmoral und -disziplin hätten.
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die DDR müsse jetzt – obwohl die eigene wirtschaftliche Lage angespannt sei – verstärkt der VR Polen wirtschaftlich helfen.
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die Ereignisse in Polen werden den anderen sozialistischen Staaten wieder erhebliche finanzielle Mittel kosten.
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wenn die DDR nicht das »sozialistische Schaufenster« nach dem Westen wäre, ginge es den DDR-Bürgern nicht besser als den Polen.
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innerhalb des sozialistischen Lagers gäbe es zu große Unterschiede im Lebensniveau der Bevölkerung. Es wäre besser, wenn sich die sozialistischen Staaten untereinander unterstützen, anstatt den Ländern Asien und Afrikas so großzügige Hilfe zu gewähren.
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die Entwicklung in der VR Polen sei etwa die gleiche wie in der DDR. Die Arbeiter in Polen seien nur konsequenter und lassen sich nicht alles gefallen.
Verschiedentlich werden, besonders von Angehörigen des ehemaligen Mittelstandes, der Intelligenz, von Studenten und Hausfrauen, Spekulationen hinsichtlich möglicher Auswirkungen der Ereignisse in der VR Polen auf die DDR geäußert.
Derartige Spekulationen beinhalten insbesondere Befürchtungen, dass es ab Januar 1971 auch in der DDR zu Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln, Textilien und anderen Waren des täglichen Bedarfs kommen könne.
Dabei werden u. a. solche Meinungen geäußert wie:
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die DDR-Regierung mache es geschickter, es werde gesagt, die Qualität habe sich erhöht und damit könne auch der Preis erhöht werden.
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Versorgungsschwierigkeiten mit »schleichenden Preiserhöhungen« in der DDR könnten zu ähnlichen Reaktionen der Bevölkerung führen wie in der VR Polen.
Im Zusammenhang mit solchen Meinungen gab es einige Einzelstimmen, die auch in der DDR auf Unruhen, Demonstrationen und Streiks spekulieren. Dabei kam es zu solchen Äußerungen wie »was die Polen machen ist richtig, so etwas müssten wir auch tun, dann würde es bei uns anders aussehen und wir würden auch mehr zu kaufen bekommen«.
Andererseits brachten einige dieser Personen jedoch zum Ausdruck, dass es besser wäre, sich ruhig zu verhalten und keine negativen Diskussionen zu führen. Partei und Regierung in der DDR würden derartige Erscheinungen gar nicht erst aufkommen lassen und die Sicherheitsorgane passen zu genau auf.
Negativ-feindliche Diskussionen traten bisher nur vereinzelt auf. Territoriale oder objektmäßige Schwerpunkte bildeten sich nicht heraus.
Derartige Diskussionen und Äußerungen beinhalten im Wesentlichen:
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Sympathie für die streikenden Arbeiter in der VR Polen,
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Zweifel an der Beteiligung antisozialistischer und krimineller Elemente an den Ausschreitungen,
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Verleumdung der Partei- und Staatsführung der VR Polen,
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antisowjetische Äußerungen (Schuld an der wirtschaftlichen Lage in der VR Polen hätte die Sowjetunion, die polnische Parteiführung stünde unter sowjetischen »Druck«),
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Verleumdung der Partei- und Staatsführung der DDR,
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das Bedauern, dass solche Ereignisse in der DDR nicht zustande kommen und die Hoffnung, dass der »Deutsche auch endlich einmal aufwachen« müsste,
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dass solche Ereignisse der Parteiführung und der Regierung zeigen würden, dass man mit den Arbeitern nicht machen könne, was man wolle.
Zum 7. Plenum des ZK der PVAP
Die Beschlüsse des 7. Plenums des ZK der PVAP8 finden unter allen Schichten der Bevölkerung starke Beachtung, lassen jedoch gegenwärtig, wie die gesamte Reaktion zu den Vorkommnissen in der VR Polen, eine rückläufige Tendenz erkennen.9
Im Mittelpunkt der Diskussionen stehen
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der Rücktritt des Genossen Gomułka,10
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die Wahl des Genossen Gierek11 zum 1. Sekretär des ZK der PVAP,
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die Funktionsentbindung weiterer Mitglieder des Politbüros,12
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die Fernsehansprache des Genossen Gierek.13
Zum Rücktritt des Genossen Gomułka wird mehrfach geäußert, dass die Entscheidung überraschend erfolgt sei. Die Begründung zum Rücktrittsersuchen des Genossen Gomułka wird verbreitet mit Skepsis aufgenommen. Es sei vorher nicht bekannt gewesen, dass Genosse Gomułka krank sei; außerdem sei es ein »eigenartiger Zufall«, dass gleichzeitig noch weitere Funktionäre zurücktreten.
Folgende Grundtendenzen sind festzustellen:
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starke Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Begründung des Rücktritts des Genossen Gomułka,
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Unverständnis der Annahme des Rücktrittsersuchens mit Hinweisen auf die politischen Verdienste des Genossen Gomułka,
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Zweifel an der Einheitlichkeit und Kollektivität der Parteiführung der PVAP (die »fehlerhafte Politik Gomułkas« sei ein Beweis für die Leitung eines sozialistischen Staates durch »eine« Person; es herrsche eine »Anarchie«, die zu schwerwiegenden politischen Fehlern führe),
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Zweifel an der Einheitlichkeit und Geschlossenheit der sozialistischen Staatengemeinschaft (die sozialistischen Staaten würden ihre Politik ungenügend abstimmen; Erfahrungsaustausche über politisch-ideologische Fragen und die aktuelle Politik der einzelnen Länder fänden nur in ungenügendem Maße statt),
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Befürchtungen – und vereinzelt auch Spekulationen – auf eventuelle Veränderungen der Generallinie der PVAP, (die VR Polen könnte der DDR »in den Rücken fallen«; stärkere Ablehnung an die BRD),
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Befürchtungen hinsichtlich einer möglichen Verschärfung der Lage durch den Rücktritt Gomułkas,
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Zweifel, dass durch »Ablösung« des Genossen Gomułka und anderer Funktionäre die Gesamtsituation in der VR Polen entscheidend verändert werden kann,
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Schlussfolgerungen, dass durch die Rücktritte leitender Genossen der PVAP die negativen und feindlichen Elemente in ihrem Auftreten eine Bestätigung gefunden hätten. (Wenn die Arbeiter »auf die Barrikaden gehen«, ändert sich etwas; sogar höchste Funktionäre »sitzen dann in ihrem Sessel nicht mehr sicher«).
Der Wahl des Genossen Gierek zum 1. Sekretär der PVAP stehen die sich äußernden Bürger der DDR überwiegend abwartend gegenüber. Es wird betont, Genosse Gierek sei, gemessen an der Berichterstattung der Presse der DDR, in der zurückliegenden Zeit wenig in Erscheinung getreten, man müsse abwarten, ob er diese Funktion erfüllen könne.
Vereinzelt wird betont, Genosse Gierek sei »nicht durch die Moskauer Schule gegangen« (wobei sich die interessierten Personen offensichtlich auf westliche Verlautbarungen stützen). Er sei ein Wirtschaftsfachmann. Mit seinem Einsatz würden Hoffnungen auf eine rationellere Wirtschaftspolitik deutlich. In einer Reihe Argumente wird darauf verwiesen, dass es bisher noch keine offiziellen Stellungnahmen zum Regierungswechsel seitens der SR- und der DDR-Regierung bzw. Parteiführung gäbe. Offenbar habe der überraschende Funktionswechsel auch dort »Bestürzung« hervorgerufen, zumal Genosse Gomułka bisher immer als »vertrauenswürdig« und »linientreu« gegolten hätte.
Von interessierten Bürgern wird den Ausführungen des Genossen Gierek große Aufmerksamkeit geschenkt.
Die Darlegungen werden mit großer Mehrheit begrüßt. Besondere Beachtung fanden die von ihm dargelegten Probleme
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der fehlerhaften Wirtschaftspolitik in der VR Polen,
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des Verständnisses für die Motive der Handlungen der Arbeiter,
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(es würde nicht nur von »feindlichen Elementen und Rowdys« gesprochen, sondern »zugestanden«, dass Teile der Arbeiterklasse berechtigt Kritik geübt hätten),
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der Respektierung der Demokratie der Partei,
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der künftigen umfassenden Beratung mit der Arbeiterklasse und der Intelligenz.
Es wird betont, die Ausführungen des Genossen Gierek seien sehr sachlich gehalten und wären so abgefasst, dass sie bei den Arbeitern Verständnis finden.
Anerkennung finden die Beschlüsse der 7. Tagung des ZK der PVAP vor allem zu den Fragen
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der Verbesserung der materiellen Lage der Familien mit niedrigem Einkommen und der kinderreichen Familien,
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der notwendigen Verbesserungen und Korrekturen in der Wirtschaftspolitik der VR Polen,
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der Beibehaltung der festen Freundschaft zur SU und zu den sozialistischen Staaten.
Wiederholt wird in Meinungsäußerungen hervorgehoben, die polnische Regierung stünde vor allem vor dem Problem, bestimmte innenpolitische Fragen zu lösen. Der Schwerpunkt läge gegenwärtig deshalb nicht so sehr auf der Durchsetzung der Außenpolitik.
Es müsse abgewartet werden, wie sich die VR Polen und die neue Führungsspitze der Partei zum Vertrag VR Polen – BRD verhalte. Es könne bisher nicht eingeschätzt werden, ob Genosse Gomułka, der sich sehr für den polnisch-westdeutschen Vertrag eingesetzt habe, eine Politik verfolgt habe, die auch die Anerkennung der neuen Parteiführung findet.
Vereinzelt wird argumentiert, es sei auch abzuwarten, ob die »Versprechungen«, die Genosse Gierek in seiner »Antrittsrede« gegeben hätte, eingehalten werden könnten. Offenbar sei die VR Polen wirtschaftlich in eine Lage geraten, die keine sofortigen Verbesserungen für die Arbeiterklasse zulassen könne.
Von einer Reihe Bürger wird geäußert, in der DDR sei die Bevölkerung »in einer günstigeren Lage«. Das 14. Plenum hätte klar dargelegt, worin unsere Schwierigkeiten bestehen, und die Bevölkerung sei über diese Situation unterrichtet worden. Damit habe das 14. Plenum in der DDR auch einen »ideologischen Vorlauf« geschaffen für Schwierigkeiten, die sich eventuell auch hier in wirtschaftlicher Hinsicht noch ergeben könnten.
In vereinzelten Diskussionen wird darauf hingewiesen, dass die Vorgänge in der VR Polen jedoch auch für die Parteiführung der DDR »eine Lehre« gewesen sei. Sich häufende Versorgungsschwierigkeiten und »schleichende Preiserhöhungen« in der DDR seien nicht geeignet, Sympathien der Bevölkerung zu erringen. Durch in letzter Zeit zunehmende Gerüchteverbreitung, Aufstellungen von Behauptungen, wonach ab 1971 auch in der DDR mit spürbaren Preiserhöhungen zu rechnen sei, werden in geringem Umfang auch solche Meinungen laut, dass es unter diesen Umständen ebenfalls »zu schwierigen Situationen ähnlich wie in Polen« kommen könnte.