Reaktion der Bevölkerung im Hinblick auf das Treffen in Kassel (I)
30. Mai 1970
Information Nr. 526/70 über die Reaktion der Bevölkerung im Hinblick auf das Treffen in Kassel
Aus allen Bezirken der DDR wird übereinstimmend berichtet, dass das bevorstehende Treffen in Kassel1 gegenwärtig noch keine umfassende Resonanz bei der Bevölkerung findet. Das zeigt sich u. a. auch im Umfang der Diskussionen, der noch als gering einzuschätzen ist.
Interessierte Diskussionen zur Gesamtproblematik werden hauptsächlich von Mitgliedern der SED sowie in strukturbestimmenden Betrieben der Industrie sowie im Bauwesen geführt. Dagegen werden aus Bereichen der Landwirtschaft lediglich Einzeldiskussionen bekannt.
In den bisher bekannt gewordenen Argumenten wird die Fortsetzung des Treffens auf Regierungsebene beider deutscher Staaten begrüßt. Die Verhandlungsgrundsätze der Regierung der DDR werden unterstützt.
Mehrfach wird der aktive Beitrag der Regierung der DDR für die Festigung des Friedens und die Gewährleistung der europäischen Sicherheit gewährleistet.
Die Bonner Regierung würde durch die konsequente Haltung der Regierung der DDR herausgefordert, zur Grundfrage der Gegenwart Stellung zu nehmen. Die Forderung der DDR nach völkerrechtlicher Anerkennung wird als eine dem gegenwärtigen Entwicklungsstand entsprechende Notwendigkeit betrachtet. Erneut sei demonstriert worden, dass die DDR gegenüber Westdeutschland in der Offensive bleibe.
Häufiger werden in den Diskussionen Vergleiche gezogen zwischen den Erklärungen Brandts2 in Erfurt und zum darauffolgenden Verhalten der Bundesregierung. Es wird geäußert, die Gegensätze würden bei derartigen Vergleichen offen zutage treten. Die Erklärungen Brandts werden als Täuschungen der Weltöffentlichkeit charakterisiert.
Seine Zustimmung zum Treffen auf Regierungsebene in Kassel sei geheuchelt und lediglich von der Zielstellung diktiert, als »Sprecher der Werktätigen« im Gespräch zu bleiben.
Im Vordergrund der zustimmenden Stellungnahmen zum Treffen in Kassel stehen solche Argumente wie:
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Das Erfurter und Kasseler Treffen kam bzw. kommt auf alleinige Initiative der Regierung der DDR zustande. Die Übereinkommen zum Treffen sind Ausdruck des Bemühens der DDR um Frieden und europäische Sicherheit.
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Die Regierung der DDR zeigt Bereitschaft, politische Probleme auf dem Verhandlungswege zu lösen.
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Der gegenseitige Austausch der Standpunkte zwischen beiden Verhandlungspartnern sei nützlich und beweise den Willen der DDR, die Politik der friedlichen Koexistenz gegenüber Westdeutschland durchzusetzen.
Auf dieser Grundlage könnten für die Zukunft eine Zuspitzung von Konflikten ausgeschaltet und Voraussetzungen für eine friedliche Entwicklung geschaffen werden.
Neben der Würdigung der Initiative und Verhandlungsbereitschaft der DDR wird in vielen Diskussionen begrüßt, dass die DDR den fortlaufend von westlicher Seite inszenierten Störmanövern, besonders auch der von Regierungsvertretern der Bundesrepublik betriebenen Hetze gegen die DDR, wirksam begegne und reale, annehmbare Lösungen herbeiführe, in deren Ergebnis das Treffen in Kassel durchgeführt werden könne.
Es wird betont, die DDR-Delegation solle in Kassel an ihrer Verhandlungskonzeption festhalten.
Großes Vertrauen wird in die Verhandlungsfähigkeit des Genossen Stoph3 gesetzt. Genosse Stoph habe während der Verhandlungen in Erfurt bewiesen, dass er einem Verhandlungspartner wie W. Brandt das notwendige Maß an Konsequenz und »Kaltblütigkeit« entgegensetzen könne.
In einer Reihe Argumente wird Besorgnis hinsichtlich der Sicherheit der Delegation der DDR bei dem Aufenthalt in Kassel zum Ausdruck gebracht. Besonders für Genossen Stoph sei die Reise nach Kassel ein »Risiko«, da er mit Repressalien zu rechnen hätte.4 Hetzkampagnen in Westdeutschland können außerdem bewirken, dass es zu ernsthaften Ausfällen aufgeputschter Jugendlicher oder Mitglieder der NPD gegen unsere Delegation käme. Es besteht Unklarheit, inwieweit unsere Delegation gegen provokatorische Ausfälle in Westdeutschland abgesichert wird.
Tendenzen des Abwartens und der Zurückhaltung sind in allen Bezirken vorhanden. Es wird betont, man müsse erst die Ergebnisse des Kasseler Treffens abwarten, bevor man sich dazu äußern könne. Aktionen der Bonner Regierung in den letzten Wochen, wie Verhaftung von DDR-Journalisten,5 Ergebnisse des SPD-Parteitages6 und Haltung zum Aufnahmeantrag der DDR in die WHO,7 ließen darauf schließen, dass Bonn an einer Entspannung der Lage und an konkreten Ergebnissen in Kassel nicht interessiert sei.
Der weitaus größte Teil der vorliegenden Stimmungsberichte beinhaltet – häufig neben einer grundsätzlich zustimmenden Tendenz zur Verhandlungsbereitschaft unserer Regierung im Allgemeinen – starke Zweifel an konkreten Ergebnissen des Treffens in Kassel.
Dabei sind solche Auffassungen verbreitet, wie:
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Die Standpunkte der beiden Regierungsdelegationen sind derart verhärtet und voneinander entfernt, sodass an eine Annäherung nicht im Entferntesten gedacht werden könne.
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Brandt steht unter dem Einfluss der westdeutschen Monopole und kann weder einer Annäherung zwischen beiden deutschen Staaten noch einer Anerkennung der DDR zustimmen. Dadurch ist das Kasseler Treffen von vornherein zum Scheitern verurteilt.
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Die Entwicklung in WD zeige klar, dass die westdeutsche Regierung den DDR-Vertragsentwurf,8 der die Grundlage weiterer Verhandlungen bilden sollte, ignoriere.
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Durch die Haltung Bonns sei es bisher zu keinen echten politischen Fortschritten gekommen. Durch die in Westdeutschland unverändert gebliebenen Machtverhältnisse sei auch keine Änderung der politischen Haltung zu erwarten.
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Es zeichne sich weiterhin ab, dass Westdeutschland nicht von seinem Standpunkt der Alleinvertretungsanmaßung9 abgehe. Damit sei fruchtbringenden Verhandlungen jegliche Basis genommen.
Insgesamt ist festzustellen, dass Spekulationen und übertriebene Erwartungen an die Ergebnisse des Kasseler Treffens bei Weitem nicht den Umfang erreicht haben wie zur Zeit der Vorbereitung und Durchführung des Treffens in Erfurt.
Die klare Verhandlungskonzeption der Regierung der DDR schließe von vornherein illusionäre Vorstellungen aus und konzentriere darauf, dass es zunächst um die Klärung wichtiger politischer Grundsatzfragen gehen müsste.
Gegenüber dem vor dem Erfurter Treffen in größerem Umfang aufgetretenen Ansichten, es müsste zunächst um »Detailfragen« verhandelt werden, herrscht gegenwärtig die Einsicht vor, dass bei weiteren Treffen die »großen politischen Fragen« im Vordergrund stehen müssten.
Von vielen Bürgern wird erkannt, dass es der Delegation um Brandt lediglich um Werbung von Sympathien gehe, wenn sie die sogenannten menschlichen Erleichterungen wiederholt und vordergründig in die Verhandlungskonzeption aufnimmt.
Wiederholt treten Argumente in Erscheinung, wonach die Kommunikationsmittel der DDR angeblich zu gering über die Vorbereitungen zum Treffen in Kassel berichten.
Mehrfach wird die Veröffentlichung von Details der Vorverhandlungen verlangt, häufig mit dem Argument, man könne sich sonst kein Urteil zum möglichen Ablauf und zum zu erwartenden Ergebnis bilden.
In anderen Diskussionen wird konstruiert, in den DDR-Publikationen würden deshalb zu wenig Informationen über die Vorbereitungen des Kasseler Treffens vermittelt, weil die DDR nicht an einem positiven Ausgang der Verhandlungen interessiert wäre.
In den Einschätzungen wird hervorgehoben, dass gegenwärtig ein Ansteigen des Empfangs der Westsender zu verzeichnen ist, wobei die Betroffenen offen zum Ausdruck bringen, sie seien an den Kommunikationen westlicher Rundfunk- und Fernsehstationen zum bevorstehenden Kasseler Treffen interessiert. Die Westsender würden ausführlich über Einzelfragen informieren und damit ein Bild über den Ablauf der kommenden Verhandlungen vermitteln.
Wiederholt wird zum Ausdruck gebracht, die westdeutsche Regierung würde die mögliche längere Vorbereitungszeit auf den Tagungsort dazu nutzen, das Treffen so attraktiv wie möglich zu gestalten, dabei keine finanziellen Ausgaben scheuen und bestrebt sein, damit vor der Öffentlichkeit an Prestige zu gewinnen.
Vereinzelt wird hervorgehoben, für das Treffen in Kassel wären keine Beschränkungen hinsichtlich der Anzahl der Zulassung von Journalisten aus aller Welt vorgesehen. Damit hätte sich die westdeutsche Regierung eine positive Ausgangsbasis für die Berichterstattung im internationalen Maßstab gesichert, da die Darstellung der Fakten weitgehend davon abhängig sei, welche Atmosphäre für die Berichterstatter geschaffen würde.
Die spekulativen Meinungen beinhalten in der Reihenfolge ihres Umfanges insbesondere solche Tendenzen:
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Die Verhandlungen würden vonseiten der DDR-Regierung noch kurzfristig abgesagt werden, da sie sowieso »sinnlos« seien und die Bonner Regierung den Alleinvertretungsanspruch geltend machen wolle.
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Nach wie vor werden auf der Grundlage der westlichen Demagogie von einem Teil der interessierten Bürger (besonders Rentner, Bewohner der Grenzgebiete, aber auch Jugendliche und geringe Teile der Berliner Bevölkerung) Maßnahmen hinsichtlich »Erleichterungen« im Grenzgebiet, im Reiseverkehr zwischen der DDR und Westdeutschland bzw. der DDR und Westberlin, im Besucherverkehr und in der Erweiterung des »innerdeutschen« Handels erwartet.
Nur in Einzelargumentationen wird die Möglichkeit einer sofortigen Annäherung beider deutscher Staaten bis zur Wiedervereinigung Deutschlands in Erwägung gezogen.
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Weitere Einzeldiskussionen beinhalten Ansichten, wonach »Liberalisierungsmaßnahmen« auf allen Gebieten (genannt wird Handel, Kultur, Sport) eingeleitet werden könnten.
Gegenwärtig mehren sich solche Meinungen, wonach gemäß dem Stand der Vorverhandlungen zu erwarten sei, dass in Kassel das vorläufige letzte Gespräch auf Regierungsebene stattfinde. Weitere Verhandlungen würden auf die Ebene von Fachministerien und Kommissionen gedrängt. Die Übereinkunft über derartige Verhandlungen könnte das einzige Ergebnis des Kasseler Treffens sein.
Negative und feindliche Äußerungen zu den bevorstehenden Verhandlungen in Kassel wurden in allen Bezirken bisher nur in geringem Umfang bekannt. Überwiegend sind sie als Einzelerscheinungen zu werten.
Sie werden meist von dem MfS bereits bekannten politisch-feindlich eingestellten Personenkreisen, von Bürgern, die Westverwandtschaft besitzen oder mit westdeutschen/Westberliner Bürgern in aktivem Briefverkehr stehen, geführt.
Der Einfluss der westlichen Rundfunkstationen ist bei diesen Diskussionen besonders stark spürbar, wobei das Abhören dieser Sender mehrfach auch offen eingestanden wird.
Folgende Tendenzen sind vorherrschend:
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Anlehnung und Begrüßung der Bonner Ostpolitik10 hinsichtlich der »Politik der kleinen Schritte«.11
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Zustimmung zur Verhandlungskonzeption der Bonner Regierung und Forderung, die DDR solle Kompromisse eingehen und »menschliche Erleichterungen sowie humanitäre Maßnahmen« befürworten.12
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Die DDR solle die »starre Haltung« aufgeben. Die Bundesregierung hätte bei den Verhandlungen über die Postschulden13 auch Entgegenkommen gezeigt.
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Über die »Mauer« hinweg lasse sich schlecht verhandeln, »geheime Wahlen« wären günstiger, um die »Situation zu klären«.
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Unter den »östlichen« Politikern herrsche Nervosität. Das äußere sich u. a. darin, dass von der Regierung der DDR bisher noch keine Erklärung im Hinblick auf das Treffen in Kassel abgegeben worden sei.
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Die Regierungsspitze der DDR habe sich in Moskau »die letzten Anweisungen« zum Vorgehen in Kassel geholt. Die DDR-Regierung sei außerstande, selbstständige, von Moskau unabhängige Entscheidungen zu treffen.
Aus weiteren Einzeldiskussionen ist ersichtlich, dass versucht wird, die Brandt-Regierung aufzuwerten.
Dabei wird betont, Brandt habe die Sympathien der Arbeiter auf seiner Seite, da er im Interesse der Werktätigen verhandeln würde. In letzter Zeit sei festzustellen, dass die Bundesregierung durch bestimmte Maßnahmen (genannt werden die Vereinbarungen zwischen den Postministerien14 und das Angebot von Krediten seitens Westdeutschlands15) an tatsächlicher Entspannung und an »menschlichen Erleichterungen« interessiert sei. Im Gegensatz zur DDR habe sie konkrete Schritte in dieser Richtung unternommen.