Reaktion der Bevölkerung zum Meinungsaustausch DDR– BRD
25. November 1970
Information Nr. 1247/70 über die Reaktion der Bevölkerung zum vorgesehenen Meinungsaustausch DDR – BRD
Zum vereinbarten Meinungsaustausch DDR – BRD1 ist gegenwärtig nur eine geringe Reaktion unter der Bevölkerung der DDR festzustellen. Häufig wird eingeschätzt, dass die bisher veröffentlichten Hinweise dazu wenig bekannt sind bzw. nicht besondere Beachtung gefunden haben.
Mehrfach wird über eine solche Tendenz berichtet, dass konkrete Diskussionen zum bevorstehenden Meinungsaustausch erst nach direktem Ansprechen oder auf Befragen geführt werden.
Der überwiegende Teil der bisher bekannt gewordenen Äußerungen zum bevorstehenden Meinungsaustausch trägt zustimmenden Charakter.
Dabei wird die erneute Initiative der Regierung der DDR allgemein als aktiver Beitrag zur Entspannung und Verbesserung der Lage in Europa gewertet.
Es wird betont, der Zeitpunkt der Vorschläge unserer Regierung sei wiederum richtig gewählt worden, und die DDR bleibe gegenüber Westdeutschland weiterhin in der Offensive.
Häufig werden die Forderungen der DDR nach völkerrechtlicher Anerkennung als eine dem gegenwärtigen Entwicklungsstand entsprechende Notwendigkeit unterstrichen, die maßgeblichen Einfluss auf die Sicherung des Friedens in Europa ausübe.
Der auf Initiative der Regierung der DDR zustande kommende Meinungsaustausch mit der Regierung der BRD wird als Ausdruck der gemeinsamen Entspannungspolitik der Staaten des sozialistischen Lagers betrachtet.
Dabei wird der Meinungsaustausch DDR – BRD als passfähiges Glied der gemeinsamen Politik der sozialistischen Länder, wie sie sich im Abschluss eines Vertrages zwischen der UdSSR und der BRD2 und der Paraphierung des Vertrages zwischen der VR Polen und der BRD3 zeige, gewertet.
Weiter wird erklärt, die Initiative der DDR-Regierung beweise erneut die Bereitschaft zur Herstellung friedlicher Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten.
Die DDR zwinge die westdeutsche Regierung zu einer klaren Stellungnahme hinsichtlich der bestehenden Realitäten, besonders zu den Fragen der Grenzregelung und der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR.
Wiederholt taucht das Argument auf, die »Denkpause«4 sei zuerst von der Regierung der DDR beendet worden. Dadurch sei die BRD »herausgefordert« worden, erneut zu den Fragen der Gegenwart Stellung zu nehmen.
In vielen Diskussionen wird von der Bevölkerung der DDR – zum Teil auch neben der grundsätzlichen Zustimmung – eine abwartende Haltung zu den bevorstehenden Gesprächen eingenommen.
Dabei wird mit Hinweis auf die Verhandlungen Stoph5 – Brandt6 in Erfurt und Kassel7 betont, man müsse erst sehen, was »aus den Gesprächen herauskomme«, dann könne man sich eine Meinung dazu bilden.
In mehreren Fällen wird geäußert, man müsse auch die Ergebnisse der Verhandlungen der Botschafter der vier Großmächte in Westberlin8 abwarten; das Ergebnis dieser Verhandlungen übe wahrscheinlich entscheidenden Einfluss auf den Meinungsaustausch zwischen der DDR und der BRD aus.
Verbreitet ist Skepsis hinsichtlich der Erreichung von Erfolgen im Ergebnis der Verhandlungen vorhanden.
Unter Hinweis auf die Gespräche in Erfurt und Kassel wird betont, die Verhandlungen würden doch keine konkreten Fortschritte bringen.
Das drückt sich u. a. in folgenden Meinungsäußerungen aus:
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Die von der DDR angestrebten Ziele würden von der BRD verworfen. Aufgrund vorhandener Erfahrungen wird nicht erwartet, dass die von der DDR geforderten Voraussetzungen für erfolgreiche Verhandlungen erfüllt werden.
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Die beiden Verhandlungspartner würden von der Lösung der von ihnen formulierten Grundsatzfragen nicht abweichen. Daran würden die Verhandlungen scheitern.
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Es seien sowieso keine konstruktiven Ergebnisse zu erwarten, da die SPD/FDP-Regierung keine Schritte gegen das Rechtskartell unternehmen kann und wird.
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Die Verhandlungen hätten keinen Zweck, an den bestehenden Verhältnissen würde sich sowieso nichts ändern. Es müsse erst einmal abgewartet werden, bis die BRD die mit anderen sozialistischen Ländern abgeschlossenen Verträge ratifiziert.
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Die BRD zeige keine Bereitschaft, die DDR völkerrechtlich anzuerkennen. In diesem Zusammenhang seien die Gespräche nutzlos.
Gegenwärtig werden Spekulationen besonders in zwei Richtungen angestellt:
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welchen Inhalt die Gespräche haben könnten, welche Verhandlungsgrundsätze den Gesprächen zugrunde liegen;
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welche »messbaren« Ergebnisse erwartet werden könnten, wobei unter »messbar« besonders solche bindenden Festlegungen verstanden werden, die persönliche Vorteile einschließen.
Über den Inhalt der bevorstehenden Gespräche wird spekuliert, sie könnten besonders folgende Probleme betreffen:
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die Konkretisierung eines Abkommens im Zusammenhang mit dem Transitverkehr,
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eine Aussprache über die besondere politische Einheit Westberlin,
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ein Abkommen über die Ausgabe von Passierscheinen anlässlich der Weihnachtsfeiertage für die Bewohner Westberlins.9
Viele Spekulationen über angeblich bevorstehende Vereinbarungen hinsichtlich der Ausgabe von Passierscheinen – die besonders in der Hauptstadt der DDR und in den umliegenden Bezirken auftreten – resultieren daraus, dass »der Sachverständige in diesen Angelegenheiten Dr. Kohl«,10 zu den Gesprächen delegiert wurde.
Neben ausgesprochenen Hoffnungen, dass ein Passierscheinabkommen abgeschlossen werden sollte, stehen aber auch in gleichem Umfang Äußerungen, wonach Verwandtenbesuche aus Westberlin zu Weihnachten nicht erwünscht seien.
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Die Spekulationen über mögliche »messbare« Ergebnisse der Gespräche beziehen sich besonders auf solche Probleme, wie
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Erwartungen hinsichtlich sogenannter menschlicher Erleichterungen, besonders im Reiseverkehr zwischen der DDR und der BRD/WB;
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Aufhebung bestehender Maßnahmen zur Grenzsicherung (Sonderregelungen zur Einreise in die Grenzgebiete11/besonders Äußerungen aus den Grenzbezirken);
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Vereinbarungen über einen großzügigeren Zollverkehr auf privater Basis;
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Ausweitung des Handels zwischen der DDR und der BRD, Neuregelungen in Bezug auf die Verstärkung der Wirtschaftsbeziehungen und des Warenaustausches zwischen der DDR und der BRD (mit Hinweis auf Versorgungsschwierigkeiten in der DDR/dadurch könnten Versorgungslücken geschlossen werden);
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engere Bindung an die westdeutsche Wirtschaft;
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Wiederbelebung der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit mit der BRD, gemeinsame Bearbeitung wissenschaftlicher Aufgaben (besonders aus Bereichen der technischen und wissenschaftlichen Intelligenz, aber auch der Handwerker und Gewerbetreibenden);
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günstige Teilnahmebedingungen an der Olympiade in München;12
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Forcierung des Austausches von Sportdelegationen
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(besonders bezogen auf die Verhandlungen zwischen den Sportverbänden der DDR und der BRD in München, die im Zusammenhang mit den Gesprächen auf Regierungsebene gesehen werden müssten).
In stärkerem Maße wird auch die Westberlinfrage in die Spekulationen einbezogen.
Es sei zu erwarten, dass beide Seiten zu »Zugeständnissen« bereit seien. Anderenfalls werde keine Verhandlungsbasis erreicht. Die DDR müsse erkennen, dass die Westberlinfrage nicht allein von ihr entschieden werden könne. Darum müssten die Anforderungen »zurückgeschraubt« werden.
Es könne erwartet werden, dass zu Westberlin ein »freier Zugang« geschaffen würde, der nicht mehr im Bereich der Kontrollorgane der DDR liegen könne.
Vereinzelt wird spekuliert, den Westberliner Bürgern würden z. B. in Fragen der Einreise in die DDR die gleichen Rechte wie den Bundesbürgern eingeräumt. Damit sei auch das Problem eventueller Passierscheinabkommen gelöst.
Wiederholt wird in den Argumenten auf die abgeschlossenen Verträge UdSSR – BRD und VR Polen – BRD verwiesen.
Dabei wird behauptet, die DDR sei aufgrund dieser Verträge »gezwungen«, ebenfalls die Verhandlungen mit der BRD zu forcieren.
Anderenfalls würde die DDR an Prestige besonders in den sozialistischen Staaten verlieren. Käme es nicht zu Verhandlungen zwischen der DDR und der BRD, müssten die sozialistischen Staaten zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die DDR »weiterhin einen harten Kurs« verfolge, »keine Flexibilität« zeige und »nicht an einer Entspannung in Europa interessiert« sei. Daraus ergebe sich auch der »moralische Druck« für die Regierung der DDR, eine variablere Politik gegenüber der BRD zu betreiben.
Bezogen auf die Deutschlandpolitik der Regierung der DDR wird geäußert, der »günstigste Zeitpunkt« für Verhandlungen sei erkannt worden. Es sei nach der Paraphierung der Verträge in Moskau und Warschau damit zu rechnen, dass es auch zu »Zugeständnissen« der BRD gegenüber der DDR kommen könnte. Die DDR müsse außerdem auch vor der internationalen Öffentlichkeit ein Entgegenkommen gegenüber der SPD/FDP bekunden, damit dem massiven Druck der Rechtskräfte erfolgreich Widerstand entgegengesetzt werden könnte. Das Vorgehen der DDR diene den fortschrittlichen und friedliebenden Kräften in der BRD.
Wiederholt tauchen Äußerungen auf, die eine Aufwertung der Politik der führenden Kräfte der BRD beinhalten.
Danach sei die Initiative zu den bevorstehenden Verhandlungen der BRD zuzuschreiben. Die Verträge UdSSR – BRD und VR Polen – BRD hätten bewiesen, dass die SPD/FDP-Regierung gewillt sei, ihren Beitrag zur Entspannung in Europa zu leisten.
Die beiden abgeschlossenen Verträge seien als »Meisterstück Bonner Diplomatie« einzuschätzen. Es sei »beachtenswert«, dass Brandt und seine Berater – genannt wird besonders Bahr13 – nach verhältnismäßig kurzer Regierungszeit bedeutende Verhandlungen mit sozialistischen Staaten führen konnten, während Jahre vorher keinerlei Verbindungen zustande gekommen wären.
Eine Reihe Äußerungen beinhalten jedoch auch gleichzeitig Vorbehalte zur Bonner Politik. Dabei wird eingeschätzt, es handele sich bei den Verhandlungen in Moskau, Warschau und Berlin um einen »politischen Schachzug Bonns« zur Isolierung der DDR von den übrigen sozialistischen Ländern.
Die Bonner Politik gegenüber der DDR sei »gefährlich« und laufe darauf hinaus, die DDR zugrunde zu richten bzw. in der Endkonsequenz »einzuverleiben«.
Häufig wird gefordert, die Bonner Regierung solle zunächst die Verträge von Moskau und Warschau ratifizieren, sonst seien weitere Verhandlungen nutzlos und dienten nur dazu, die Bevölkerung irrezuführen.
Direkt negative und feindliche Äußerungen zu den bevorstehenden Gesprächen sind Einzelfälle.
Sie beinhalten:
Die DDR betreibe keine eigenständige Politik. Die Verhandlungen DDR – BRD seien von der UdSSR »angeordnet«.
Sollten die Verhandlungen ergebnislos verlaufen, liege die Schuldfrage allein bei der DDR. Die Verhandlungen in Moskau und Warschau hätten bewiesen, dass bei entsprechendem »Verständnis« Erfolge erzielt werden könnten.
Kritisiert wird im Zusammenhang mit dem Meinungsaustausch die Informationspolitik der DDR. Es werde zu wenig über den Inhalt und die Verhandlungsrichtlinien veröffentlicht. Die Bevölkerung sei nicht über Details der vorgesehenen Gespräche informiert. Verwiesen wird dabei auf Publikationen der Westsender, die über den konkreten Verhandlungsverlauf nähere Einzelheiten angekündigt hätten.
Erfahrungen aus der Vergangenheit – verwiesen wird auf die Gespräche VR Polen – BRD – hätten bewiesen, dass die Westsender besser informierten, und man müsse sich bei bestehendem Interesse darauf orientieren.
Übereinstimmend wird eingeschätzt, dass vordergründig Versorgungsfragen von der Bevölkerung diskutiert werden und dadurch die Gespräche über den bevorstehenden Meinungsaustausch in den Hintergrund treten.
Im Zusammenhang mit Versorgungsfragen werden besonders auftretende Mängel kritisiert bei
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Molkereiprodukten (Butter, Margarine, Öl, Sahne),
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Fleisch- und Fleischwarenerzeugnissen (besonders zum Wochenanfang),
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Bohnenkaffee,
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Textilien (Besonders Kinderbekleidung),
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festen Brennstoffen.
In zunehmendem Maße tritt in allen Bezirken das Gerücht einer bevorstehenden Rationierung der Molkereiprodukte und der Fleisch- und Fleischwarenerzeugnisse auf.