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Reaktion von in der DDR tätigen polnischen Arbeitskräften

21. Dezember 1970
Information Nr. 1351/70 über die Reaktion von in der DDR tätigen polnischen Arbeitskräften zur Lage in der Volksrepublik Polen

[Faksimile von Blatt 1]

Nach den dem MfS vorliegenden Informationen gehen die in der DDR beschäftigten polnischen Arbeitskräfte ordnungsgemäß und im Allgemeinen diszipliniert ihrer Arbeit nach. Vereinzelt gibt es Hinweise, wonach die Arbeitsintensität dieser Personenkreise besonders in den letzten zwei Tagen durch verstärkte Diskussionen über die Vorgänge in der VR Polen1 in geringem Umfang beeinträchtigt wurde. Diskussionen wurden teilweise in kleineren Gruppen am Arbeitsplatz geführt, wobei vereinzelt auch DDR-Bürger in die Gespräche mit einbezogen wurden.

Übereinstimmend berichten die Bezirke, dass von polnischen Arbeitern, die in DDR-Betrieben tätig sind, keine Sympathiebekundungen oder Solidaritätserklärungen für die provokatorischen Kräfte abgegeben wurden.

Es ist festzuhalten, dass unter den polnischen Bürgern ein starkes Informationsbedürfnis hinsichtlich der Vorkommnisse in der VR Polen besteht. Sie zeigen sich in der Mehrheit sehr interessiert, Details über die Geschehnisse in Erfahrung zu bringen. Ein Teil der polnischen Staatsbürger lässt erkennen, dass sie den Sender »Freies Europa«2 in polnischer Sprache nach ihrer Arbeitszeit intensiv abhören, um über die Ereignisse »besser informiert« zu sein.

Vereinzelt wurden von ihnen DDR-Bürger angesprochen, darüber zu berichten, welche Meldungen westliche Rundfunk- und Fernsehstationen über die Ereignisse in Polen gesendet hätten.

In der Technischen Hochschule Ilmenau, [Bezirk] Suhl, suchten einige polnische, sowjetische und bulgarische Studenten die Abteilung Ausländerbetreuung auf und stellten Fragen zu den Vorkommnissen in Polen mit dem Ziel, sich »Klarheit« darüber zu verschaffen. Die Studenten traten sachlich und in keiner Weise provokatorisch auf.

Bei vielen polnischen Arbeitern in der DDR besteht Unruhe bzw. Sorge um ihre in der VR Polen wohnenden Familienangehörigen. Es bestehen Bedenken, dass sie durch Schießereien oder andere Auseinandersetzungen Schaden erleiden und sie in der DDR nicht rechtzeitig darüber verständigt würden.

Die Diskussionen der in der DDR arbeitenden polnischen Facharbeiter richten sich in erster Linie auf die konkreten Ereignisse in der VR Polen.

Insgesamt werden die Ausschreitungen verurteilt, bestimmte Protestaktionen und Streiks werden jedoch teilweise als gerechtfertigt angesehen.

In größerem Maße werden dabei Meldungen westlicher Rundfunkstationen kommentiert und wiedergegeben.

In diesem Zusammenhang tauchen auch vereinzelt Gerüchte angeblicher Augenzeugen auf, dass z. B. in der Nähe der Grenze DDR/VR Polen ein Lebensmittelzug vollkommen ausgeplündert und das Zugbegleitpersonal erschossen worden sei, dass sowjetische Reisezüge, die sich auf der Durchfahrt durch Polen befunden hätten, zerstört worden seien.

Unterschiedliche »Schätzungen« werden über die Anzahl der Toten und Verletzten auf den Seiten der Miliz und der Arbeiter vorgenommen. Irgendwelche Panikstimmungen unter polnischen Bürgern gab es in diesem Zusammenhang jedoch nicht.

Eine Reihe polnischer Bürger äußert den Wunsch, möglichst schnell durch polnische Zeitungen oder durch zuständige Funktionäre der Betriebe, in denen sie arbeiten, über die Vorgänge und Zusammenhänge informiert zu werden. Es wurde begrüßt, dass die DDR-Publikationen über die Fernsehansprache des polnischen Ministerpräsidenten und Veröffentlichungen der »Trybuna Ludu«3 berichteten.4 Doch würde das zur Charakterisierung der Verhältnisse in der VR Polen noch nicht ausreichen.

Am häufigsten werden von den in der DDR befindlichen polnischen Staatsbürgern nachfolgende Argumente gebraucht:

  • Die Lage in der VR Polen habe sich im letzten Jahr immer mehr zugespitzt. Es seien laufend Preisregulierungen und mehrere (genannt werden zwei oder drei) offizielle Preiserhöhungen erfolgt. Die Versorgung mit wichtigen Grundnahrungsmitteln werde nur ungenügend aufrechterhalten. Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung Polens einen niedrigen Verdienst habe, werde sie nicht kontinuierlich mit qualitätsmäßig guten Konsumwaren versorgt.

  • Das »Bandentum« sei in bestimmten Teilen Polens nie recht beseitigt gewesen. Die Kriminalität steige, und es gäbe in starkem Maße Raubüberfälle und Rowdytum.

  • Die Miliz habe auch in der Vergangenheit nicht alle provokatorischen und rowdyhaften Vorfälle in der Hand gehabt.

  • Die unzufriedene Stimmung unter der Bevölkerung Polens sei in letzter Zeit immer weiter angewachsen, da der Lebensstandard sinke und seit Jahren keine Vorwärtsentwicklung zu erkennen sei.

  • Nicht nur unter den Arbeitern und Bauern, auch unter den Ärzten Polens sei eine »schwierige Situation« vorhanden. Die Ärzte würden schlecht bezahlt und forderten höhere Entlohnung. In verschiedenen Gebieten Polens hätten die Ärzte in den vergangenen Wochen gestreikt.

Vereinzelt wird geäußert, dass viele Bürger der VR Polen bereit seien, ihren Wohnsitz in andere sozialistische Staaten, besonders in die DDR, zu verlegen, falls sie dazu die behördliche Genehmigung erhalten würden. In der DDR wäre das Leben sehr viel »angenehmer«, die Preise wären erschwinglich und man bekäme für sein Geld eine annehmbare Qualität zu kaufen. In einigen Fällen, z. B. bei polnischen Ärzten und Studenten, besteht die Absicht, auch über Weihnachten in der DDR zu bleiben.

Wiederholt wird von polnischen Arbeitern in der DDR der Wunsch geäußert, den gesamten Lohn in DDR-Währung zu erhalten. Gleichzeitig sollte ihrer Meinung nach eine Lockerung in den Ausfuhrbestimmungen nach Polen eintreten, die auf den Kreis der polnischen Vertragsarbeiter beschränkt sein könnte.

Mehrfach wurde von polnischen Arbeitern betont, sie wären »außerordentlich froh« darüber, in der DDR arbeiten und die Annehmlichkeiten (genannt werden die verhältnismäßig billigen Grundnahrungsmittel) nutzen zu können. Sie befänden sich damit in einem Vorteil gegenüber ihren polnischen Landsleuten.

In einigen Fällen wird sinngemäß erklärt: »Wir wohnen in der DDR, und uns geht es hier gut. Was in Polen passiert, interessiert uns nicht. So eine ›Revolte‹ dort ist nichts Neues. Es gibt in Polen viele sich feindlich gegenüberstehende Gruppen.«

Bedenken werden in einigen Fällen dahingehend ausgesprochen, dass ihnen nach dem Weihnachts- bzw. Neujahrsurlaub durch die polnischen Behörden die Wiederaufnahme ihrer Arbeit in den Betrieben der DDR verweigert werden könnte.

Konkrete offizielle Diskussionen oder Handlungen, dass sich polnische Vertragsarbeiter mit den provozierenden Elementen in der VR Polen solidarisierten, wurden nicht bekannt. In einer Reihe Argumente werden die Ausschreitungen verurteilt und geäußert, dass die Arbeiter ihre Unzufriedenheit auch auf anderem Wege und im sachlichen Gespräch hätten vorbringen müssen.

Im Zusammenhang mit der Darlegung der in der VR Polen vorhandenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten wird jedoch auch mehrfach von polnischen Vertragsarbeitern Stellung gegen die bisherige Politik von Partei und Regierung der VR Polen genommen.

Diese Argumente weisen besonders folgende Tendenzen auf:

  • Ausschreitungen habe sich die Partei selbst zuzuschreiben. Der Zeitpunkt für die Preiserhöhungen sei außerordentlich ungünstig gewählt worden. Man könne besonders kinderreichen Familien eine derartige Verteuerung vor den Festtagen nicht zumuten.5

  • Die Partei und Regierung habe Situation und Stimmung unter den Arbeitern unterschätzt.

  • Die Maßnahmen würden nicht gerade von »politischem Fingerspitzengefühl« der Parteiführung der VR Polen zeugen.

  • Keine richtige politisch-ideologische Vorbereitung und Überzeugung der Bevölkerung über die Regulierungsmaßnahmen sei mit eine Ursache für die Ausschreitungen.

  • Die Regierung habe aus dem Aufstand in Poznań 19566 keine Schlussfolgerungen gezogen und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten auf die Arbeiter »abgeschoben«.

  • Eine Ursache für die Entwicklung seien Fehler in der Landwirtschaftspolitik, indem zu zögernd Maßnahmen zur Vergenossenschaftlichung eingeleitet wurden.

  • Die Preiserhöhungen für Lebensmittel seien »nicht durchdacht«. Preisherabsetzungen für Konsumgüter seien nur für Funktionäre und die wenigen Gutverdienenden gedacht, da sich die Arbeiter diese Gegenstände in der Mehrzahl sowieso nicht kaufen könnten. Dagegen richteten sich die Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel besonders gegen die kinderreichen Familien, die solche hohen finanziellen Mittel für einen angemessenen Lebensstandard nicht aufbringen könnten.

  • Für die Preiserhöhungen sei von der polnischen Regierung eine relativ »magere Begründung« gegeben worden, die von den Arbeitern nicht verstanden würde.

  • Falls die Preiserhöhungen nicht rückgängig gemacht würden, gäbe es unter den Arbeitern keine Ruhe; dann müsste mit weiteren Unruhen und Forderungen gerechnet werden.

  • Es sei eine »falsche Politik«, gegen die Arbeiter mit Schießbefehl und Panzern zu reagieren. Das würde erst recht den Protest dieser Kreise hervorrufen. (Einzeldiskussion).

Typisch für diese Diskussion ist, dass sie trotz dieser eindeutigen Aussagen verhältnismäßig vorsichtig geführt werden. Einige polnische Gastarbeiter äußerten, nicht durch negative Diskussionen auffallen zu wollen, da sie u. U. dann ihren Arbeitsplatz in der DDR verlieren könnten.

So sind ausgesprochen negative Diskussionen z. B. in der Richtung, dass es im Westen besser als in Polen und auch in der DDR und als im Sozialismus überhaupt sei, nur vereinzelt festzustellen.

In einem Fall wurde bekannt, dass sich ein in der DDR zeitweilig aufhaltender polnischer Bürger (Eisenbahner) in Gegenwart von DDR-Bürgern äußerte, es wäre zweckmäßig, eine Pistole bei sich zu haben; es wäre gut, wenn mit Gomułka7 »Schluss gemacht« werde. (Entsprechende Maßnahmen wurden eingeleitet.)

Aus den Bezirken wird übereinstimmend berichtet, dass von polnischen Bürgern in der DDR verstärkt Einkäufe (Lebensmittel und Konsumwaren) getätigt werden.

Die durchgeführten Kontrollen im Bereich der Zollämter der Bezirksverwaltung Frankfurt/O. ergaben jedoch bisher keine Feststellungen auf eine stark erhöhte Ausfuhr von Waren. Größere Mengen ausgeführter Nahrungsmittel durch polnische Bürger entsprachen den Familiengrößen und sind z. T. auch im Zusammenhang mit Weihnachtseinkäufen zu werten.

Reaktionen auf die Veränderung im Politbüro der PVAP liegen zzt. noch nicht vor.8

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    22. Dezember 1970
    Information Nr. 1355/70 über Einbrüche bei der Fa. Thalmann KG Stahlbau, Berlin-Lichtenberg, Herzbergstraße 111

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    21. Dezember 1970
    Information Nr. 1349/70 über den Doppelmord am Sekretär für Wissenschaft, Volksbildung und Kultur der SED-Bezirksleitung Schwerin und dessen Tochter am 16. Dezember 1970