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Reaktion von Wirtschaftsfunktionären zur Preisregulierung

22. Dezember 1970
Information Nr. 1356/70 über einige Hinweise zur Reaktion wirtschaftsleitender Funktionäre im Zusammenhang mit vorgesehenen Regulierungen von Einzelhandelsverkaufspreisen in der DDR

[Faksimile von Blatt 19]

Dem MfS wurden in den letzten Tagen eine Reihe interner Hinweise bekannt, wonach besonders im Bereich Preise des Ministeriums für Handel und Versorgung eine bestimmte – offenkundig berechtigte – Unzufriedenheit und Unsicherheit im Zusammenhang mit der weiteren Durchführung der Maßnahmen des Ministerratsbeschlusses vom 3.6.1970 (GVS-Material über die Entwicklung der Endverbraucherpreise) besteht.1 Die in diesem Zusammenhang bekannt gewordenen Diskussionen beziehen sich auch besonders auf die Vorgänge in der VR Polen und ihre unmittelbaren Ursachen.2 Die Unsicherheit verantwortlicher Mitarbeiter z. B. im Bereich Preise des MHV kommt u. a. in solchen Äußerungen zum Ausdruck, ob das Vorgehen einzelner Fachbereiche und Ministerien hinsichtlich »eigenmächtiger« Vorstellungen zur Veränderung der Endverbraucherpreise in der DDR für verschiedene Waren in der gegenwärtigen Situation als richtig zu beurteilen sei, wobei gleichzeitig eine Reihe Vorbehalte gegen diese Maßnahmen geäußert werden.

Nach diesen Informationen habe am 16.12.1970 beim Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Genossen Willi Stoph,3 eine Beratung im Beisein der Minister Halbritter,4 Sieber,5 Ewald6 und Bernhardt7 stattgefunden, während der festgelegt worden sei, diese Maßnahmen in Durchführung des Ministerratsbeschlusses vom 3.6.1970 zur Überwindung des Widerspruchs Kaufkraft – Warenfonds8 weiter fortzuführen und das vorgesehene Senkungsvolumen um 90 Millionen Mark zu vergrößern.

Die Notwendigkeit dieser Maßnahmen findet bei verantwortlichen Mitarbeitern im wesentlichen Verständnis. Sie äußern, Ziel der vorgesehenen Preismaßnahmen sei die bessere Durchsetzung der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und Verbesserung der Versorgung, insbesondere durch Abbau der Subventionen, Erhöhung von Endverbraucherpreisen unter stärkerer Beachtung von Angebot und Nachfrage mit dem Ziel zusätzlicher Kaufkraftbindung und Akkumulation, Gewährung von Ausgleichen, Festlegung bestimmter Grundsätze der Preisbildung für neue Erzeugnisse mit höherem Gebrauchswert und stärkere Arbeit mit Einführungspreisen.

Die bereits konzipierten Maßnahmen beinhalten umfangreiche Verbraucherpreiserhöhungen in Höhe von 788,5 Mio. Mark Jahresauswirkung und beziehen sich auch auf Erzeugnisse des Grundbedarfs.

Nach Feststellungen des Bereiches Preise beim Ministerium für Handel und Versorgung erfolgen jedoch neben den zentral festgelegten und vorbereiteten Maßnahmen zur Überwindung des Widerspruchs Kaufkraft – Warenfonds von den verschiedensten Organen in zunehmendem Maße eigene Festlegungen und Entwicklungen eigener Programme, die im Prinzip alle auf eine Steigerung der Endverbraucherpreise hinzielen. Diese Ausarbeitungen laufen nach Ansicht von Mitarbeitern des Bereiches Preise beim MHV zum Teil außerplanmäßig und »außerhalb der zulässigen Normen«. Daraus würden sich z. B. bei Mitarbeitern des Bereiches Preise des MHV einige ideologische Probleme zur Preispolitik, insbesondere zur EVP-Entwicklung ergeben.

Es sei offensichtlich, dass leitende Wirtschaftsfunktionäre in Fragen der Preispolitik unterschiedliche Auffassungen vertreten; die »Meinungen leitender Funktionäre« zu Problemen der EVP würden sich laufend wandeln.

Es bestünden keine konkreten, schriftlich fixierten Beschlüsse; es seien keine Kennziffern vorhanden, die eine Einheitlichkeit des Vorgehens bei der Bildung neuer EVP garantieren könnten.

Es wird gefordert, dass eine einheitliche Konzeption für vorgesehene Preismaßnahmen erarbeitet werden sollte, die von den verschiedensten Verantwortungsbereichen auch einheitlich durchgesetzt werden müsste, ohne dass Abweichungen von diesen Kennziffern zugelassen werden.

Der Beschluss des Ministerrates vom 16.3.1967 (GBl. II/67, Nr. 25) »Über das System der Ausarbeitung, Bestätigung und Kontrolle der Industrie- und Einzelhandelsverkaufspreise«,9 der die Verantwortlichkeit der Preisbildung der IAP und EVP verantwortlich regelt, werde von einer Reihe Ministerien nicht beachtet.

(Der Beschluss beinhaltet Grundsätze und Aufgabenstellung des Amtes für Preise, Rechte und Pflichten der Industrieminister bei der Bildung der IAP, die Verantwortlichkeit des MHV bei der Bildung der Konsumgüter- und Verbraucherpreise, die Rechte des Ministerrats, die Preisbildung einiger Positionen des Grundbedarfs selbst zu entscheiden.)

Es zeichne sich immer mehr die Tendenz ab, dass sowohl das Amt für Preise als auch andere Ministerien Vorlagen für Preisveränderungen beim Ministerrat einbringen, die nicht mit dem MHV abgestimmt sind und einen Verstoß gegen den Beschluss des Ministerrates vom 16.3.1967 darstellten.

So habe Genosse Minister Ewald am 16.12.1970 eine »Direktive über Maßnahmen zur Durchführung einer hohen Materialökonomie in der Milchwirtschaft«10 an die Räte für Landwirtschaftliche Produktion und Nahrungsgüterwirtschaft der Bezirke und an die Hauptdirektoren der milchwirtschaftlichen Vereinigungen der Bezirke gegeben, die u. a. Maßnahmen zur Einsparung von Butterfett enthält. Diese Maßnahmen sind nicht mit dem MHV, das in der Endkonsequenz für diese Veränderungen verantwortlich gemacht wird, abgestimmt worden.

Die Maßnahmen sehen vor, den Anteil an Butterfett bei gleichem Preis zu verringern, wobei der Fettanteil nicht mehr auf die Verpackung aufgedruckt werden soll. Zur Einsparung von Butter soll ab 4.1.1971 eine neue Buttersorte mit einem geringeren Butterfettanteil unter Zusatz von 5 % Sonnenblumenöl erscheinen, deren EVP um 3,20 Mark höher liegt als bei herkömmlicher Butter.

Bei Rückfragen durch Mitarbeiter des Bereiches Preise des MHV beim Amt für Preise und auch beim Staatlichen Komitee für Aufkauf und Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse beim RLN über das Zustandekommen dieser Verfügung und bei Hinweise auf mögliche Auswirkungen bei der Bevölkerung sei von dort geantwortet worden: »Abgestimmt ist diese Festlegung mit niemandem, aber ihr kennt doch die Beschlüsse« (gemeint ist der Beschluss des Ministerrates vom 2.12.1970 über die Einsparung von 5 kt Butter11) … »Wir müssen diese Maßnahmen durchführen; die Preise müssen so bleiben, und es muss so gemacht werden, dass die Bevölkerung nichts merkt«.

Nach Meinung einiger Mitarbeiter des Bereiches Preise beim MHV könne man jedoch nicht darauf vertrauen, dass »niemand etwas merkt«; zuerst werde diese Maßnahme bei den Arbeitern der Milchwirtschaft bekannt; sie bliebe auch den Preisinspekteuren des Handels nicht verborgen, und es sei damit zu rechnen, dass die Eingaben und Beschwerden der Bevölkerung an das MHV/Bereich Preise, das dafür verantwortlich zeichnet, zunehmen.

Vom Minister für Bezirksgeleitete und Lebensmittelindustrie, Gen. Krack,12 sei eine Vorlage zur Erhöhung der EVP bei Spirituosen direkt an den Ministerrat eingebracht worden, der sich auf den Beschluss des Ministerrates vom 3.6.1970 beziehe.

Auch diese Festlegungen wurden nicht mit dem MHV abgestimmt und die vorgeschlagene EVP-Bildung wurde direkt vom Gen. Minister Krack vorgenommen.

Unter anderem wurde vom Minister Krack vorgesehen, die Bierpreise generell zu erhöhen, was zunächst abgelehnt wurde.

Gleichzeitig wurde von Minister Krack eine Änderung der Fischpreise vorgesehen, ohne das MHV davon zu verständigen.

Ohne das MHV zu informieren, ließ Genosse Minister Ewald eine Vorlage zur Veränderung der Wildpreise erarbeiten, wobei er gleichzeitig die EVP festlegte. Erst aufgrund eines Protestes von Staatssekretär Lemke13/MHV wurde ein Mitarbeiter des Bereiches Preises des MHV zu Beratungen über die Preisbildung beim Rat für landwirtschaftliche Produktion und Nahrungsgüterwirtschaft hinzugezogen. Die Preisvorstellungen wurden vom Ministerrat bestätigt. Der Termin für die Preisveränderungen bei Wild wurde später kurzfristig vom 1.1.1971 auf den 1.2.1971 verschoben.

In den verschiedensten Fällen wird von Ministern unter Beibehaltung des Preises eine Qualitätsveränderung des Erzeugnisses angewiesen.

So wurde z. B. eine Maßnahme des Genossen Minister Krack infolge unzureichender Bereitstellung von Kakao eine Veränderung in der Rezeptur bei Schokoladenerzeugnissen vorgenommen. Danach erhalten verschiedene Backwaren anstelle einer Schokoladenglasur nur eine Hartfettglasur unter Beibehaltung des bisherigen EVP.

Vom Genossen Dr. Koch,14 Vorsitzender des Staatlichen Komitees für Aufkauf und Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse wurden Grundsätze zur Neuregelung der Verbraucherpreise für Blumen und Zierpflanzen erarbeitet und im Zusammenhang mit den ökonomischen Systemreglungen der Landwirtschaft dem Präsidium des Ministerrates zur Bestätigung vorgelegt. Erst nachträglich wurde das MHV am 4.12.1970 nach entsprechender Anforderung davon informiert, welche neuen Verbraucherpreise ab 1.1.1971 in Kraft treten sollen. Danach verändert sich z. B. der Preis für zehn Stück Chrysanthemen von 18,00 Mark auf 37,50 Mark (Preis wird nach Jahreszeit gestaffelt), Gartenrosen von 10,50 Mark auf 32,50 Mark, Gartentulpen von 3,00 Mark auf 8,50 Mark usw. Der Preis für Gummibäume wird von 2,70 auf 2,20 Mark herabgesetzt.

Nach Äußerungen aus dem Ministerium für Handel und Versorgung gäbe es gegenwärtig sehr viele Beispiele, die in Richtung der Erhöhung der Endverbraucherpreise gehen würden. Es habe den Anschein, dass viele Minister Preisveränderungen vornehmen zugunsten ihrer ökonomischen Rentabilität, wobei sie sich auf den schriftlich nicht vorliegenden Beschluss des Ministerrates vom 3.6.1970 stützen. Die Hauptargumente der Produktionsminister sind im Wesentlichen folgende: Bilanz Kaufkraft – Warenfonds muss in Ordnung gebracht werden; Warenvolumen reicht nicht aus; Stützungen müssen beseitigt werden. Von Mitarbeitern des MHV wird in diesem Zusammenhang jedoch darauf hingewiesen, dass die EVP-Veränderungen zwangsläufig zu einer IAP-Veränderung zugunsten des Produktionszweiges führen. Da die Industrie und die übrigen Produzenten ihre Produktion nach dem IAP planen, würde eine Verbesserung des IAP objektiv zu einer Erhöhung der ökonomischen Effektivität des Zweiges führen. Ökonomische Kennziffern ließen sich Mithilfe des erhöhten Preises schneller erreichen als durch Rationalisierungsmaßnahmen und Steigerung der Arbeitsproduktivität. Diese Aspekte würden gegenwärtig von den Industriezweigen nur ungenügend beachtet.

Aus den Bezirken der DDR ist dem MfS bekannt, dass in zunehmendem Maße von der Bevölkerung Diskussionen über das Preisniveau bzw. über »illegale Preissteigerungen« in der DDR geführt werden.

Es werden eine Reihe Beispiele angeführt, wonach unter Beibehaltung der Qualität für die verschiedensten Erzeugnisse höhere Endverbraucherpreise gefordert würden. Angeführt werden von der Bevölkerung besonders Ober- und Unterbekleidung für Kinder, Damen und Herren; Schuhe und Lederwaren, Stoffe, Möbel, Haushaltsartikel, Öfen u. a.

Diese Meinungsbildung von Teilen der Bevölkerung findet auch Niederschlag in zahlreichen Eingaben, die z. T. um 100 % gegenüber dem Vorjahre zu diesem Problem angestiegen sind. Es ist einzuschätzen, dass nur ein geringer Teil der Bevölkerung sich in Form von Eingaben an staatliche Dienststellen wendet. Zum größten Teil werden mündliche Beschwerden gegenüber dem Verkaufspersonal geführt.

In diesem Zusammenhang treten folgende Argumente in den Vordergrund:

  • Die sozialistische Preispolitik sei nicht stabil und planmäßig. »Schleichende Preisveränderungen und -erhöhungen« seien an der Tagesordnung.

  • Es wird nicht verstanden, wieso »trotz ständiger Erfolge bei der Steigerung der Arbeitsproduktivität und Senkung der Selbstkosten alles teurer wird«.

  • In den Zeitungen würde ständig von Produktionserfolgen berichtet; der Lebensstandard der Bevölkerung verschlechtere sich jedoch infolge erhöhter Preise.

  • Vieles werde mit »Qualitätsverbesserungen« begründet. Diese seien jedoch nicht sichtbar und müssten angezweifelt werden. Es handele sich um eine »Verschlechterung« der Preisfestsetzungen vor der Bevölkerung.

  • In der DDR würde von den Preiserhöhungen in Westdeutschland und in anderen kapitalistischen Ländern berichtet. In Wirklichkeit sehe es in der DDR nicht anders aus; es würde lediglich vermieden, die Bevölkerung auf die Preiserhöhungen offiziell aufmerksam zu machen.

  • Die jüngsten verfügten Lohnverbesserungen für Berufe mit geringem Verdienst seien lediglich darauf zurückzuführen, dass eine Reihe von Waren des täglichen Bedarfs teurer geworden wären. Es handele sich in diesem Sinne nicht um eine Lohnverbesserung, sondern um einen »finanziellen Ausgleich«, um das Existenzminimum dieser Kreise zu garantieren.

In letzter Zeit, besonders seit etwa Anfang Dezember 1970, ist in allen Bezirken der DDR und in allen Bevölkerungsschichten ein starkes Ansteigen von Gerüchten und Behauptungen zu verzeichnen, wonach in kürze – genannt werden Termine ab Januar 1971 – viele Waren des täglichen Bedarfs teurer würden. Diese Argumente traten besonders auch im Zusammenhang mit Diskussionen der Bevölkerung über bestehende Schwierigkeiten in der Versorgung auf.

So wurden Behauptungen über angebliche bevorstehende Preiserhöhungen bei Butter, Fleisch- und Fleischwarenerzeugnissen, festen Brennstoffen, Energie und Textilien festgestellt. Gleichzeitig wird argumentiert, dass eine Rationierung bei Butter und Fleisch unmittelbar bevorstünde. Infolge der Verbreitung der Behauptung, dass das Angebot an Bohnenkaffee stark eingeschränkt werde, kam es in einigen Kreisen und Bezirken bereits zum verstärkten Aufkauf.

In den letzten Tagen wurden in allen Bezirken der DDR – wenn auch jeweils in geringem Umfang – »Vergleiche« zur Situation in der VR Polen angestellt. Die Ursachen der provokatorischen Ausschreitungen werden in einem sinkenden Lebensstandard der polnischen Bevölkerung und in den Preiserhöhungen gesehen.

Es wird angenommen, dass auch in der DDR bei Erhöhung der Preise für Grundnahrungsmittel eine »schwierige Situation« entstehen könnte.

In der VR Polen seien die Beschlüsse »vom grünen Tisch aus« gefasst und die Situation unter der Bevölkerung nicht berücksichtigt worden.

Gleichzeitig wird mehrfach geäußert, dass es in der DDR sicher »so weit nicht kommen« würde, da die Partei und Regierung die Situation »in der Hand« habe und der Bevölkerung derartige »Belastungen nicht zumuten« würde.

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    Information Nr. 1364/70 über eingeschleuste Hetzschriften

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