Schwere Grenzprovokation
16. Juli 1970
Information Nr. 713/70 über eine schwere Grenzprovokation vom Gebiet der besonderen politischen Einheit Westberlin aus gegen eine motorisierte Streife der NVA-Grenztruppen am 9. Juli 1970
Am 9.7.1970, gegen 22.15 Uhr, wurde im Grenzabschnitt Klein Glienicke, Bezirk Potsdam, von Westberlin aus auf eine motorisierte Streife der NVA-Grenztruppen durch mehrere Schüsse aus einer Schnellfeuerwaffe ein heimtückischer Mordanschlag verübt.
Die Untersuchungen des MfS haben ergeben:
Am 9.7.1970, gegen 22.00 Uhr, erhielt die im Abschnitt Klein Glienicke eingesetzte motorisierte Grenzstreife der 4. Kompanie des Grenzregimentes 48, Potsdam, den Auftrag, im Ortsteil Klein Glienicke eine Kontrolle der Staatsgrenze durchzuführen.
In Erfüllung dieses Befehls befuhr die Grenzstreife mit dem Fahrzeug Trabant-Kübel, Kennzeichen VA 84–9621, bei einer Geschwindigkeit von 20 bis 25 km/h und abgeblendeten Scheinwerfern die Strecke Waldmüllerstraße – Wannseestraße – Am Wandrand – Böttgerberg.
Auf der Rückfahrt vom Böttgerberg, ca. 77 m nach dem Wendepunkt, wurde die motorisierte Grenzstreife gegen 22.15 Uhr in der Straße »Am Waldrand« aus Richtung Westberlin unvermittelt und direkt von der Grenzsicherungsanlage aus beschossen.
Die Angehörigen der motorisierten Grenzstreife, Gefreiter [Name 1, Vorname] als Postenführer und Kraftfahrer und Soldat [Name 2, Vorname] als Posten, geben an, dass sie wenige Sekunden vor dem Beschuss von der Oberkante der Grenzsicherungsanlage (Grenzmauer) mit gerichtetem Licht angeleuchtet worden seien. Ferner wurden von ihnen aus Richtung der Lichtquelle zwei kurze Feuerstöße sowie Mündungsfeuer einer Waffe wahrgenommen.
Ohne das Feuer zu erwidern, verließ die motorisierte Grenzstreife mit erhöhter Geschwindigkeit unverletzt den Tatort und verständigte die Alarmgruppe.
Zur Situation in dem betreffenden Grenzabschnitt ist zu bemerken, dass die Straße »Am Waldrand« unmittelbar und parallel zur Staatsgrenze DDR – Westberlin verläuft.
Die Grenzsicherungsanlage besteht in diesem Bereich aus einer 3,30 m hohen Betonwand, deren Oberkante mit einem Betonrohr abschließt.
Auf dem Gebiet der DDR wird die Straße im Wesentlichen von Kleingartenanlagen begrenzt.
Auf Westberliner Seite befindet sich im Tatortbereich ein Hochwaldbestand, der bis unmittelbar an die Grenzsicherungsanlagen heranreicht.
Der objektive Tatbefund, zwei Ein- bzw. Durchschüsse am linken vorderen Kotflügel, zwei Ein- und Durchschüsse am unteren Mittelteil des Fahrzeuges, wobei der Kolben der Maschinenpistole, die befehlsgemäß in der MPi-Halterung des Fahrzeuges befestigt war, durchschossen wurde, vier weitere, davon unabhängige Projektileinschläge auf der Fahrspur des Trabant-Kübel, die Sicherstellung von sieben Patronenhülsen, der Fund eines deformierten Projektils und eines Projektilstahlkernes, das Vorhandensein eines provisorischen Hochstandes, der unter Verwendung eines ehemaligen Sektorenhinweisschildes auf Westberliner Seite mit Stricken an der Grenzsicherungsanlage (Betonwand) befestigt wurde sowie die Ergebnisse der Tatrekonstruktion beweisen eindeutig das Vorliegen einer Grenzprovokation durch gezielten Beschuss der motorisierten Grenzstreife von der Position des genannten Hochstandes und unter Verwendung einer Schnellfeuerwaffe aus einer Schussdistanz von 5,50 m.
Der Streifenwagen der NVA-Grenztruppen wurde ausnahmslos an seiner linken Seite aus einer abfallenden Schussbahn (Neigungswinkel ca. 35 Grad) von schräg hinten (Auftreffwinkel ca. 60 Grad) getroffen.
Die ballistische Untersuchung und Begutachtung der sichergestellten sieben Patronenhülsen sowie der beiden Projektile ergab, dass es sich bei der Tatmunition um Pistolenpatronen vom Kaliber 9 mm Parabellum (Luger) handelt, die in den Jahren 1950 und 1951 in der ČSSR hergestellt worden ist.
Aus einschlägigen Fachschriften ist bekannt, dass Patronen derartigen Kalibers in Westdeutschland und Westberlin im Handel erhältlich sind. Die Tatmunition kann aus einer Vielzahl entsprechender Pistolen, Maschinenpistolen (ca. 40 verschiedene Modelle) und einigen Karabinermodellen verschossen werden.
Das Modell der bei dieser Grenzprovokation benutzten Tatwaffe konnte deshalb bisher noch nicht identifiziert werden.
Bewiesen ist jedoch, dass sämtliche aufgefundene Tathülsen von einer Waffe verschossen worden sind.
Waffen mit den gutachtlich festgestellten Systemmerkmalen der Tatwaffe finden in den bewaffneten Organen der DDR ebenso wie die Tatmunition vom Kaliber 9 mm Parabellum keine Verwendung.
Die Untersuchungen des MfS beweisen in ihrer Gesamtheit, dass es sich bei den Meldungen in den Westberliner Presseorganen »Der Abend« vom 10.7.19701 und »Die Welt« vom 11.7.19702 – die übereinstimmend zum Inhalt haben, dass zwei männliche Personen am festgestellten Tatort bei privaten Filmaufnahmen über die Staatsgrenze von Grenzsicherungskräften der DDR beschossen worden seien – um provokatorische, zweckgerichtete Falschmeldungen handelt.
In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass in den letzten Wochen vom Gebiet der besonderen politischen Einheit Westberlin aus ein erheblicher Anstieg grenzprovokatorischer Anschläge gegen die Staatsgrenze der DDR im Bereich der Hauptstadt der DDR, Berlin, und des Außenringes um Westberlin zum Bezirk Potsdam festzustellen ist.
Im Zeitraum vom 1.1.1970 bis 10.7.1970 wurde in insgesamt 15 Fällen von Westberlin aus gegen Angehörige der NVA-Grenztruppen sowie im Grenzgebiet arbeitende DDR-Bürger die Schusswaffe zur Anwendung gebracht.
Ein erheblicher Anstieg (insgesamt fünf Fälle) ist besonders seit dem 19.6.1970 festzustellen.
In allen Fällen führten diese, von bisher unbekannten Tätern von Westberlin aus durchgeführten provokatorischen Anschläge zur akuten Gefährdung von Menschenleben.
Am 2.4.1970, gegen 10.05 Uhr, wurden auf die im Abschnitt Mengerzeile in Berlin-Treptow eingesetzten Grenzsicherungskräfte der NVA aus Luftdruckwaffen fünf Schuss und am 4.4.1970, gegen 17.20 Uhr, im Abschnitt Bouchéstraße zehn Schuss abgegeben.
Am 7.5.1970 wurden NVA-Grenzsicherungskräfte im Abschnitt Leipziger Straße in Schildow durch zwei Westberliner Zöllner aus zwei Luftdruckpistolen (sechs Schuss) beschossen.
Am 19.6.1970, in der Zeit von 8.30 Uhr bis 9.15 Uhr, gaben bisher unbekannte Personen von Westberlin aus im Abschnitt Bouchestraße, Berlin-Treptow, ca. 80 bis 100 Schuss aus Luftdruckwaffen auf das Territorium der DDR ab.
Bei dieser Grenzprovokation wurden drei Zivilpersonen und ein VP-Angehöriger, die zu dieser Zeit auf dem Betriebsgelände (Lagerplatz) des VEB EAW Berlin-Treptow, Schmollerplatz, tätig waren, getroffen.
Am 30.6.1970, zwischen 8.15 Uhr und 9.30 Uhr wurden sieben DDR-Bürger, die auf dem Gelände des VEB EAW Berlin-Treptow mit Verladearbeiten beschäftigt waren, von Westberlin aus mittels Luftdruckwaffen (100 Schuss) beschossen und zum Teil getroffen.
Zu einem weiteren Vorkommnis gleichen Umfanges in diesem Grenzabschnitt kam es am 6.7.1970, gegen 13.00 Uhr.
Aufgrund dieser wiederholten grenzprovokatorischen Anschläge wurde am 8.7.1970 durch den Stadtkommandanten der Hauptstadt der DDR, Gen. Generalmajor Poppe,3 nach Abstimmung mit dem amtierenden Minister für Nationale Verteidigung der DDR, Gen. Generaloberst Keßler,4 bei der Westberliner Polizei Protest erhoben.
Der schriftliche Protest wurde am 8.7.1970 durch einen Offizier der Stadtkommandantur an der GÜST Sonnenallee dem Stellvertretenden Leiter der Westberliner Polizeiinspektion Neukölln übergeben.
Ich bitte zu entscheiden, ob nunmehr, nach Ausbleiben einer offiziell befriedigenden Reaktion auf den Protest des Stadtkommandanten und der erneuten schweren Grenzprovokation in konzentrierter Form eine pressemäßige Auswertung dieser Vorgänge erfolgen oder auf anderer Ebene entsprechende Schritte eingeleitet werden sollen.