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Selbsttötung des Chefs der 6. Grenzkompanie Fritz Schneiderling

3. November 1970
Information Nr. 1161/70 über die Selbsttötung des Kompaniechefs der 6. Grenzkompanie Harbke, Grenzregiment Oschersleben, am 1. November 1970 und eine am gleichen Tag erfolgte Fahnenflucht nach Westdeutschland mit anschließender Rückkehr in die DDR

Am 1.11.1970, um 8.05 Uhr, wurde der Major Schneiderling, Fritz,1 geboren 19.11.1929 in Altenhausen, [Kreis] Haldensleben, wohnhaft Oschersleben, [Straße, Nr.], Beruf: Forstfacharbeiter, NVA seit 14.8.1952, SED seit 1946, Familienstand: verheiratet, vier Kinder, Kompaniechef der 6. Grenzkompanie Harbke, Grenzregiment 25 Oschersleben der 7. Grenzbrigade Magdeburg, im Heizungskeller des Objektes der 6. Grenzkompanie Harbke durch den Unteroffizier vom Dienst, Unteroffizier [Name 1], tot aufgefunden.2

Im Rahmen der bisherigen Untersuchungen der Organe des MfS wurde folgender Sachverhalt festgestellt:

Am 31.10.1970 erhielt neben weiteren NVA-Angehörigen der 6. Grenzkompanie Harbke der Unteroffizier [Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1950 in Jeßnitz, [Kreis] Bitterfeld, wohnhaft Jeßnitz, [Straße, Nr.], Beruf: Maler, NVA seit 3.5.1969, Soldat auf Zeit, WKK Bitterfeld, WBK Halle, Gruppenführer in der 6. Grenzkompanie Harbke, Ausgang im Standortbereich Harbke.

Am 1.11.1970, gegen 1.20 Uhr, wurde Unteroffizier [Name 2] von der Standortstreife im Kulturhaus Harbke wegen ungebührlichen Benehmens und seines angetrunkenen Zustandes ermahnt und auf Befehl des Kompaniechefs, Major Schneiderling, der Einheit zugeführt. Nach Eintreffen in der Grenzkompanie wurde [Name 2] vom Kompaniechef ermahnt und in seine Unterkunft befohlen. Gegen 2.30 Uhr erschien [Name 2], der sich ungerecht behandelt fühlte und sich darüber beschweren wollte, erneut beim Kompaniechef, von dem er abermals in die Unterkunft befohlen wurde. Gegen 4.00 Uhr erbat [Name 2] vom UvD den Zugang zur Küche, um dort sein Frühstück einzunehmen. [Name 2] war zu diesem Zeitpunkt mit Kampfanzug, Koppel und Mütze grenzdienstmäßig bekleidet, woraus der UvD folgerte, dass [Name 2] zum Grenzdienst aufzieht. [Name 2] war jedoch nicht zum Dienst vorgesehen. Den unkontrollierten Aufenthalt in der Küche nutzte [Name 2], unter Umgehung des Wachpostens an der Einheit, zur unerlaubten Entfernung aus dem Kompanieobjekt.

Die Abwesenheit des [Name 2] wurde um 5.00 Uhr vom UvD festgestellt und durch diesen umgehend der Kompaniechef verständigt.

Entgegen den bestehenden Befehlen leitete Major Schneiderling keine Sofortmaßnahmen zur Abriegelung des Grenzabschnittes ein. Erst nachdem er ca. eine Stunde den [Name 2] erfolglos im Objekt und der Umgebung suchen ließ, entschloss er sich zur Einleitung und Durchführung von Maßnahmen der verstärkten Grenzsicherung. Während der Maßnahmen der Spurenkontrolle auf dem 6-m-Kontrollstreifen wurde um 6.40 Uhr im Abschnitt der 5. Grenzkompanie Marienborn die Spur des Fahnenflüchtigen nach Westdeutschland festgestellt.

[Name 2] hatte die Minensperre in diesem Grenzabschnitt kriechend überwunden.

Feindwärts der Grenzsicherungsanlagen, jedoch noch auf dem Territorium der DDR, wurden die von [Name 2] offensichtlich abgelegten Gegenstände (Hörer für Grenzmeldenetz, Schulterstücke und Dienstausweis) sichergestellt.

Mit der Feststellung der Fahnenflucht erfolgte befehlsgemäß die Sofortmeldung über das Vorkommnis zum Stab des Grenzbataillons Barneberg und an den Stab des Grenzregimentes Oschersleben.

Gegen 7.30 Uhr trafen der Kommandeur des Grenzregiments Oschersleben, Oberstleutnant Gottschlick,3 und der Kommandeur des Grenzbataillons Barneberg, Oberstleutnant Lehmann,4 zum Zwecke der Untersuchung der Fahnenflucht in der Grenzkompanie Harbke ein und hatten die Absicht, gemeinsam mit dem Kompaniechef die Durchbruchstelle des Fahnenflüchtigen aufzusuchen.

Major Schneiderling wies unter Bezugnahme auf entsprechende Dienstvorschriften den Regimentskommandeur darauf hin, dass er zur Zeit der einzige in der Kompanie anwesende Offizier sei. Daraufhin erteilte der Regimentskommandeur an Major Schneiderling die Weisung, im Kompanieobjekt zu verbleiben und die Führung der Grenzkompanie zu gewährleisten.

Um 8.05 Uhr wurde Major Schneiderling zufällig im Heizungskeller des Kompanieobjektes durch den UvD Unteroffizier [Name 1] tot aufgefunden.

Die bisher geführten Untersuchungen ergaben eindeutig, dass Schneiderling mit seiner Dienstwaffe (Pistole) durch einen Schuss in den Mund Selbsttötung begangen hatte.

Die bisherigen Untersuchungen zur Selbsttötung ergaben:

Schneiderling war ein sensibler, weicher Mensch, der in Erfüllung seiner militärischen Pflichten stets ein inkonsequentes Verhalten zeigte.

In seinem Bestreben, nicht aufzufallen, ging er so weit, dass er Vorkommnisse in seiner Grenzkompanie bewusst verschleierte, um Auseinandersetzungen mit seinen Vorgesetzten zu umgehen.

Die labile Gesamthaltung des Major Schneiderling veranlasste den zuständigen Abwehroffizier des MfS, bereits im März 1970 an den Kommandeur der 7. Grenzbrigade Magdeburg den Vorschlag zur Ablösung als Kompaniechef und Eingliederung in eine Dienststellung im Stab des Grenzregiments Oschersleben zu unterbreiten. Nach entsprechender Überprüfung wurde diesem Vorschlag zugestimmt und festgelegt, die Umsetzung mit Abschluss des Ausbildungsjahres 1969/70 Ende November 1970 durchzuführen.

Diesbezüglich wurden mit Major Schneiderling Aussprachen geführt. Schneiderling hat die vorgesehene Umsetzung begrüßt und war voll damit einverstanden. Dementsprechend erfolgte bereits der Umzug mit seiner Familie zum künftigen Dienstort nach Oschersleben.

Major Schneiderling musste aufgrund der Fahnenflucht des Unteroffiziers [Name 2], seiner dabei gezeigten Inkonsequenz sowie der im Rahmen der Überprüfung dieser Fahnenflucht festgestellten Mängel im Grenzsicherungssystem erneut mit ernsthaften dienstlichen Auseinandersetzungen rechnen, nachdem er in der Vergangenheit bereits mehrmals wegen Mängeln der Führungstätigkeit kritisiert werden musste.

Im Rahmen der bisherigen Untersuchungen wurden keine weiteren Hinweise zu Major Schneiderling bekannt.

Am 1.11.1970, gegen 16.29 Uhr, kehrte der fahnenflüchtig gewordene Unteroffizier [Name 2], aus Westdeutschland kommend, im Abschnitt der Grenzkompanie Harbke in die DDR zurück.

In der Erstvernehmung sagte [Name 2] aus, dass er sich unter Ausnutzung seiner Grenzkenntnisse am 1.11.1970, zwischen 4.00 und 5.00 Uhr, im Abschnitt der Grenzkompanie Marienborn nach Westdeutschland begeben habe. Nachdem er sich in Helmstedt auf einem Polizeirevier als Fahnenflüchtiger der NVA gemeldet hatte, seine Personalien aufgenommen und er über seine Diensteinheit befragt worden sei, hätten ihn zwei Angehörige des Bundesgrenzschutzes zur »Zonenrandbetreuungsstelle« Helmstedt gebracht, wo ihm eine Unterkunft zugewiesen worden sei. In den Mittagsstunden des 1.11.1970 sei er sich nach Ausnüchterung der Tragweite seiner Handlungen bewusst geworden und habe sofort den Entschluss gefasst, wieder in die DDR zurückzukehren. Gegen 15.00 Uhr, nachdem er im Austausch gegen seine Dienstuniform vom Leiter der genannten Dienststelle Zivilkleidung erhalten hatte und sich anhand eines Stadtplanes Helmstedt erklären ließ, will er die Dienststelle zu einem Spaziergang verlassen und sich ohne weitere Aufenthalte zur Staatsgrenze begeben haben, wo er gegen 16.20 Uhr nach Grenzübertritt Westdeutschland – DDR im Abschnitt der Rundstedter Straße von Grenzposten der NVA festgenommen wurde.

[Name 2] bestreitet bisher, Kontakt mit westdeutschen Geheimdienststellen aufgenommen zu haben.

Die weitere Bearbeitung des Fahnenflüchtigen erfolgt im Rahmen eines gemäß § 254 StGB5 eingeleiteten Ermittlungsverfahren mit Haft durch die zuständigen Organe des Ministeriums für Staatssicherheit.

Zur Person des [Name 2] ist bekannt, dass er aus einer Arbeiterfamilie stammt. Sein Vater ist Mitglied der SED.

Als Unteroffizier und Vorgesetzter besaß [Name 2] nur wenig Kommandeureigenschaften. Er verstand des nicht, sich Autorität zu erwerben. Ihm erteilte Befehle und Weisungen erfüllte er. Charakterlich war er sensibel veranlagt und leicht beeinflussbar. In der letzten Zeit verheilt er sich – besonders unter Alkoholeinfluss – oft undiszipliniert.

Hinweise auf eine langfristige Vorbereitung der Fahnenflucht wurden nicht bekannt.

Im Rahmen der bisherigen Untersuchungen wurden keine weiteren Hinweise auf mögliche Zusammenhänge zwischen der Fahnenflucht des [Name 2] und der Selbsttötung des Major Schneiderling bekannt.

Die Untersuchungen der Organe des MfS, im Zusammenwirken mit dem Militärstaatsanwalt, zur umfassenden Aufklärung der Ursachen, Motive und begünstigenden Bedingungen zu beiden Vorkommnissen werden fortgeführt.

Auf Befehl des Kommandeurs der 7. Grenzbrigade wurde ein befähigter Offizier als Kompaniechef der 6. Grenzkompanie Harbke eingesetzt.

Maßnahmen zur Veränderung des Grenzsicherungssystems und zur Gewährleistung eines zuverlässigen Schutzes der Staatsgrenze in diesem Grenzabschnitt wurden getroffen.

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    4. November 1970
    Information Nr. 1017/70 über die Einführung und Anwendung von Kontrollgeräten auf den Flughäfen der DDR

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    2. November 1970
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