Verhinderte Entführung eines polnischen Flugzeuges
8. August 1970
Information Nr. 800/70 über die verhinderte Entführung einer Verkehrsmaschine der polnischen Fluggesellschaft LOT nach Hamburg
Am 7.8.1970, gegen 19.20 Uhr, versuchte der polnische Staatsbürger Frey, Waldemar,1 geboren [Tag, Monat] 1943 in Tarnów,2 Beruf: Mittelschullehrer in Wrocław,3 wohnhaft Imbramowice4 die mit 38 Fluggästen, davon 34 polnischen und vier schwedischen, besetzte Verkehrsmaschine AN 24, Kennzeichen SP – LTH, der polnischen Luftverkehrsgesellschaft LOT auf der Inlandlinie Sczeczin – Poznan – Katowice unter Gewaltandrohung nach Hamburg zu entführen.5
Durch besonnenes Verhalten der Besatzung der Maschine und durch gutes Zusammenwirken zwischen den polnischen Luftstreitkräften und den Luftstreitkräften der Luftverteidigung der DDR (LSK/LV) konnte der Entführungsversuch verhindert und die Maschine von der Besatzung gegen 20.40 Uhr auf dem Zentralflughafen Berlin-Schönefeld gelandet werden.
Dort wurde der Täter vom MfS festgenommen.
Die LSK/LV der DDR war, unmittelbar nachdem der Kommandant der Besatzung, Flugkapitän Kwiatek,6 den Anschlag über Funk gemeldet hatte, vom Gefechtsstand der polnischen Armee von der geplanten Entführung unterrichtet und ersucht worden, der Besatzung bei der Verhinderung dieser Entführung zu helfen und die Maschine auf einem Flughafen der DDR zur Landung zu bringen.
Im Zusammenwirken mit dem MfS, das von diesem Anschlag und dem polnischen Hilfeersuchen gegen 20.15 Uhr durch die LSK/LV Kenntnis erhielt, wurde festgelegt, die Maschine auf den Flughäfen Schönefeld oder Marxwalde landen zu lassen.
Auf beiden Flughäfen waren durch Einsatzgruppen des MfS, der VP, der Flughafenfeuerwehr und des Flughafensanitätsdienstes in vorbildlicher Zusammenarbeit bis zur Landung gegen 20.40 Uhr erforderliche Vorbereitungen für den Fall getroffen worden, dass eine sichere Landung der Maschine misslingt bzw. dass die Sicherheit der Fluggäste und der Besatzung nach geglückter Landung gewährleistet ist und der Täter festgenommen werden kann.
Die vom MfS durchgeführte Untersuchung ergab über den Tathergang, die Motive des Täters und das Verhalten der Besatzung der Maschine folgende Einzelheiten:
Frey erfasste seinen Aussagen zufolge Ende Juli 1970 den Entschluss, auf ungesetzlichem Wege die Volksrepublik Polen zu verlassen und nach Großbritannien überzusiedeln. Als Motive für diesen Entschluss gab er an, mit seinen in England lebenden Verwandten zusammenleben zu wollen. Außerdem befürchtete Frey im Zusammenhang mit einem Diebstahl von 6 000 Zloty aus einer von ihm verwalteten Kasse durch einen angeblich unbekannten Täter zur Schadenersatzleistung verpflichtet zu werden.
Zur Realisierung seines Vorhabens plante Frey, eine Maschine der polnischen Luftverkehrsgesellschaft auf der Inlandstrecke Sczeczin – Katowice unter Gewaltandrohung zur Kursänderung zu zwingen, nach Hamburg zu entführen und von dort aus nach Großbritannien weiterzureisen.
Zur Ausführung der geplanten Flugzeugentführung beschaffte sich Frey am 2.8.1970 durch angeblichen Kauf von einem ihm nicht bekannten Corporal der polnischen Volksarmee in Strzegom eine Übungshandgranate.
Im Besitz dieser Granate reiste er mit der Eisenbahn von Opole nach Sczeczin, erwarb auf dem Flughafen ein Flugticket für die Inlandmaschine nach Katowice und bestieg unmittelbar vor dem Start gemeinsam mit den anderen Passagieren das genannte Flugzeug, das gegen 19.12. Uhr in Sczeczin startete.
Etwa zehn Minuten nach dem Start begab sich Frey nach Aussagen der Stewardess [Name] und nach Angaben anderer Passagiere in das Heckteil der Maschine zum Platz der Stewardess, die zu dieser Zeit noch mit der Betreuung der Passagiere beschäftigt war. Frey bemächtigte sich des Bordtelefons und forderte die Stewardess, für alle Passagiere hörbar, auf, sofort zu ihm zu kommen.
In der Annahme, der Kommandant habe sie gerufen, ging die [Name] zunächst in Richtung Cockpit, fand jedoch die Cockpittür vorschriftsmäßig verschlossen vor. Daraufhin begab sie sich zu ihrem Platz, in der Absicht, den Kommandanten über Bordtelefon anzusprechen.
Frey empfing sie mit der Übungsgranate und dem abgezogenen Sicherungsstift in der Hand und forderte von ihr energisch, ihn zum Kommandanten in das Cockpit der Maschine zu bringen bzw. dem Kommandanten zu übermitteln, vom Kurs abzuweichen und in Hamburg zu landen.
Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, drohte Frey ständig, die Handgranate zu zünden.
Außerdem übergab er der [Name] den Sicherungsstift der Übungsgranate mit der Aufforderung, ihn dem Kommandanten zu übergeben, als Beweis, dass es ihm mit seiner Drohung ernst sei. Die Stewardess teilte daraufhin über Bordtelefon dem Kommandanten, Flugkapitän Kwiatek, mit, dass die Maschine durch einen bewaffneten Banditen bedroht wird.
Über Funk setzte sich Flugkapitän Kwiatek daraufhin mit dem Flughafen Warschau in Verbindung, von wo er die Weisung erhielt, auf einem Flughafen der DDR zu landen. Nach dieser Weisung entschied der Kommandant, Frey in das Cockpit einzulassen, um nach Möglichkeiten zu suchen, eine Gefahr für die Maschine unmittelbar abwenden zu können.
Beim Eintritt in das Cockpit, der ihm vom Bordmechaniker gewährt wurde, forderte Frey erneut zur Kursänderung und zur Landung in Hamburg auf und drohte für den Fall der Weigerung erneut, die Handgranate zu zünden.
Aufgrund der äußeren Beschaffenheit der Übungshandgranate mussten die Stewardess und die Besatzung annehmen, dass es sich um einen echten Sprengkörper handelt.
(Die technische Überprüfung ergab, dass es sich um eine sowjetische, mit Sand gefüllte und mit einem Wachspfropfen verstopfte Übungshandgranate vom Typ F 1 mit Einheitszünder ohne Zündkapsel handelte.)
In dem Bestreben, eine ernsthafte Bedrohung der Sicherheit der Maschine abwenden zu wollen, entschloss sich die Besatzung nach Konsultation mit dem Flughafen Warschau, Frey zu täuschen.
Unter Hinweis darauf, dass er aufgrund fehlender Flugdokumente keine Möglichkeit habe, den Flugkorridor nach Hamburg zu benutzen, schlug Kommandant Kwiatek dem Frey vor, auf dem Flughafen in Wien zu landen.
Frey beharrte jedoch weiterhin darauf, die Maschine in Hamburg zu landen.
Der Kommandant ging daraufhin zum Schein auf die Forderung von Frey ein, flog jedoch zu dieser Zeit bereits über Frankfurt/O. und Fürstenwalde den Zentralflughafen Berlin-Schönefeld an, für den ihm Landeerlaubnis erteilt worden war.
Als die Maschine um 20.40 Uhr auf dem Zentralflughafen Berlin-Schönefeld landete und der Kommandant zum Schein über Bordfunk bekanntgab, dass jeder, der die Maschine verlässt, als Deserteur betrachtet wird, nahm Frey an, es handelt sich tatsächlich um den Flughafen Hamburg, und verließ als erster das Flugzeug und wurde sofort vom MfS festgenommen.
Die Befragung der Passagiere ergab, dass die Übungshandgranate von ihnen nicht bemerkt worden war.
Sie hatten lediglich den Einlass des Freys in das Cockpit bemerkt und über das eigenschaltete Bordmikrophon aus dem Gespräch zwischen Frey und dem Kommandanten entnommen, dass die Maschine gewaltsam zur Landung in Hamburg gezwungen werden soll. Trotz dieser Tatsache verhielten sie sich diszipliniert.
Während der Dauer der Untersuchung wurden die Passagiere und die Besatzung der Maschine durch die Interflug untergebracht und betreut.
Die Übergabe der Maschine an die polnische Luftverkehrsgesellschaft LOT erfolgte nach gründlicher technischer Durchsicht am 8.7.1970, gegen 3.00 Uhr. Gegen 3.30 Uhr startete die Maschine mit den Passagieren zum Rückflug in die VR Polen.
Eine Gruppe Mitarbeiter der polnischen Sicherheitsorgane unter Leitung von Oberst Chomętowski,7 Leiter der Untersuchungsverwaltung, die am 7.8.1970, gegen 23.50 Uhr, mit einer Sondermaschine in Berlin-Schönefeld eingetroffen war, wurde ausführlich über das Ergebnis der Untersuchungen des MfS informiert.
Auf der Grundlage des Rechtshilfeabkommens zwischen der DDR und der VR Polen vom 1.2.19578 wurden den polnischen Sicherheitsorganen mit einem vom Stellvertreter des Generalstaatsanwalts der DDR unterzeichneten Übergabedokument die Untersuchungsprotokolle, Berichte, Gutachten sowie der Täter Frey mit allen Beweismitteln und Effekten übergeben.