Verlauf der Leipziger Herbstmesse 1970 (1. Bericht)
1. September 1970
Information Nr. 891/70 über den Verlauf der Leipziger Herbstmesse 1970 (1. Bericht)
1. Zur Beteiligung an der LHM 19701 und zur 1. Einschätzung der Qualität der in Leipzig anwesenden Aussteller aus der BRD
Bis zum 30.8.1970 wurden 21 153 (19 065 = 1969) Messegäste erfasst, davon aus
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sozialistischen Staaten: 4 936 (5 628 = 1969)
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kapitalistische Staaten: 2 263 (2 268 = 1969)
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Westberlin: 1 112 (1 255 = 1969)
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Westdeutschland: 12 257 (9 771 = 1969)
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westdeutsche Delegationen: 585 (143 = 1969)
Nach bisher vorliegenden Angaben stieg der Verkauf von Messeausweisen gegenüber der LHM 19692
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in der BRD um 30 %
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in Westberlin um 5 %.
Aus den vorliegenden Informationen über die Beteiligung an der LHM 1970 geht hervor, dass die westdeutschen Chemie-Konzerne umfangreiche Delegationen nach Leipzig entsenden.
Bayer, Leverkusen | insgesamt 40 Mitarbeiter (davon 20 ständiges Standpersonal) |
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Hoechst, Frankfurt/M. (inklusive Tochtergesellschaften, aber ohne Cassella3) | über 100 Mitarbeiter (davon allein 50 direkt von Hoechst und 20 Mitarbeiter von Uhde4) |
BASF, Ludwigshafen | 15 Mitarbeiter (ständiges Standpersonal) |
Chemische Werke Hüls, Marl | 15 Mitarbeiter (ständiges Standpersonal) |
Metallgesellschaft, Frankfurt/M. | 11 Mitarbeiter (ständiges Standpersonal) |
Bei der Zusammensetzung der Delegationen liegt der Schwerpunkt eindeutig auf der Verkaufsseite und der technisch-wissenschaftlichen Beratung.
Durch die Einschaltung des Büros des Ministeriums für Außenwirtschaft der DDR in Düsseldorf konnte jedoch erreicht werden, dass auch Vertreter des Einkaufs aller westdeutschen Chemie-Konzerne in Leipzig anwesend sind.
Von den westdeutschen Versand- und Warenhauskonzernen wurden insgesamt 102 Einkäufer angemeldet. Die Zahl der Einkaufsdelegationen hat sich damit zur LHM 1970 gegenüber der LHM 1969 um 12 % erhöht.
Die zahlenmäßig stärkste Delegation entsendete die Neckermann KG.5 Hier ist eine kontinuierliche Entwicklung im Hinblick auf den Besuch der Leipziger Messen festzustellen. Ein nachlassendes Interesse am Besuch der Leipziger Messen ist dagegen beim Großversandhaus Quelle zu verzeichnen.
Aus einer Übersicht über die Einordnung der gemeldeten Einkäufer in die von ihnen vertretenen Branchen wird deutlich, dass sich das Messeinteresse des Großversandhauses Quelle fast ausschließlich auf dem textilen Sektor beschränkt, während bei der Firma Neckermann sich ein verstärktes Interesse für Erzeugnisse des Hartwarensektors zeigt. Die ImportLeitung der Firma Quelle wurde über die einseitige Beschickung der Messe von den Genossen des Büros des MAW in Frankfurt/M. angesprochen. Es wurde von der Geschäftsleitung die Zusage gemacht, eventuell weitere Einkäufer nach Leipzig zu entsenden.
Mit Stand vom 30.8.1970 waren 65 Journalisten aus der BRD und Westberlin in Leipzig akkreditiert (1969 = 57). Neben dieser sichtbaren absoluten Steigerung der Beteiligung westdeutscher und Westberliner Journalisten ist interessant, dass ca. 40 westdeutsche bzw. Westberliner Journalisten Vertreter der politischen Publizistik sind, während 25 Journalisten die Fachpresse vertreten.
2. Zur konzeptionellen Orientierung westdeutscher Konzerne und Unternehmen hinsichtlich der LHM 1970
Wie aus internen Gesprächen mit leitenden Personen westdeutscher Konzerne der Chemie, Elektroindustrie, Metallurgie, des Chemieanlagen- und Maschinenbaus hervorgeht, gibt es sowohl innerhalb der Konzerne als auch zwischen ihnen widersprüchliche Ansichten hinsichtlich ihrer Teilnahme und Aktivitäten zur LHM 1970. Wesentlichen Einfluss auf die unterschiedlichen Auffassungen hatte offensichtlich die Unterzeichnung des Vertrages zwischen der UdSSR und der BRD.6
Entgegen der bisherigen Absicht, vorrangig über die LHM 1970 zu direkten zielgerichteten handelspolitischen, kommerziellen und ökonomischen Aktivitäten zu gelangen, gibt es stärkere Bestrebungen, diese Ziele über die Ausweitung des Handels mit der UdSSR und anderen europäischen sozialistischen Ländern (Polen, Ungarn, ČSSR, Rumänien) durchzusetzen. Deshalb soll die LHM 1970 vor allem dazu genutzt werden, für den Besuch der westdeutschen Chemieausstellung7 in Moskau zu werben. Eine solche Orientierung wird insbesondere von den Vorständen der Chemie-Konzerne Hoechst und BASF sowie der AEG-Telefunken vertreten. Das gemeinsame Auftreten in dieser Richtung war bereits Gegenstand von Absprachen leitender Vertreter dieser Konzerne.
Während bedeutende Konzerngruppen, an ihrer Spitze die Chemie-Konzerne, die Absicht äußerten, die DDR über den Weg der vorrangigen Ausweitung des Handels mit der UdSSR und anderen sozialistischen Ländern zu isolieren und unter Druck zu setzen versuchen, ist eine weitere Konzerngruppierung (u. a. Hoesch8 und Mannesmann9) sowie andere Unternehmen darauf orientiert, die LHM 1970 zu weiteren direkten Aktivitäten mit der DDR auszunutzen.
Vertreter der Konzerne Hoesch und Mannesmann erklärten dazu u. a., dass sie von der DDR zur LHM 1970 hinsichtlich der Aufnahme von Verhandlungen und dem Abschluss von Verträgen größeres Entgegenkommen fordern. Der Abschluss des Vertrages zwischen der UdSSR und der BRD habe auch ihren Konzernen ein breites ökonomisches Wirkungsfeld eröffnet. Wenn sie gegenwärtig noch vorrangig für direkte Beziehungen zur DDR eintreten, so schließe das nicht aus, dass bei Festhalten an der handelspolitischen Konzeption der DDR neue Geschäftspartner in der UdSSR und anderen sozialistischen Staaten den Vorzug erhalten.
3. Zur Reaktion westdeutscher- und Westberliner Messeteilnehmer auf die Eröffnungsansprache zur LHM 1970
Eine erste Einschätzung auf diesem Gebiet zeigt, dass der Inhalt der Ansprache des Genossen Sölle10 überwiegend positiv beurteilt wird.11 Übereinstimmend wurde zum Ausdruck gebracht, dass die Politik der DDR gegenüber der BRD sehr sachlich und ausgewogen dargestellt worden sei. Westdeutsche Industrie- und Handelskreise sind der Meinung, dass die Rede zu einem guten Messeklima beitragen werde. Westberliner Vertreter äußerten sich befriedigt über die aufgezeigten Möglichkeiten zur Ausweitung des Handels mit der selbstständigen politischen Einheit Westberlin.
Aus Äußerungen westdeutscher Journalisten geht in diesem Zusammenhang hervor, dass der Prozess der Versachlichung der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD fortschreite. Das bestätige insbesondere auch die Rede des Genossen Sölle, wo keinerlei Angriffe gegen die Bundesrepublik und ihre führenden Persönlichkeiten erhoben worden seien. Es sei jedoch erwartet worden, dass die DDR die Eröffnungsrede in Leipzig zum Anlass nehmen würde, um einen politischen Hinweis auf Regelungen in der Westberlinfrage zu geben.
Ferner wurden folgende Probleme besonders hervorgehoben:
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Zum ersten Male sei das starke Wachstum des »innerdeutschen Handels« erwähnt worden und Westdeutschland von Klagen über Diskriminierungen im Handel gegenüber der DDR verschont geblieben.
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Die westdeutschen Kredite, die eine wesentliche Rolle bei der Ausdehnung des Handels gespielt hätten sowie die Liberalisierungsmaßnahmen der Bundesregierung, habe Genosse Sölle nicht angesprochen.
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In der Eröffnungsrede sei deutlich geworden, dass die DDR viel Energie auf die genaue Unterscheidung zwischen der BRD und Westberlin verwende. Das lasse große Schwierigkeiten für die Lösung »deutscher« und »Berliner« Fragen erwarten.
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Die These von der selbstständigen politischen Einheit Westberlin werde härter vertreten als vorher. Das äußere sich u. a. in der Eröffnungsrede, der Kennzeichnung der Westberliner Messestände und der Beanstandung von Prospektmaterialien westdeutscher Aussteller.
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Der Vorschlag eines erweiterten Warenaustausches mit Westberlin vonseiten der DDR und die Forderung nach einer Normalisierung der Beziehungen des Westberliner Senats zur DDR zielten darauf ab, das »Berliner Abkommen«12 zu hintertreiben.
4. Westdeutsche Bestrebungen zur Erkundung der weiteren Haltung der DDR gegenüber der BRD
Nach der Unterzeichnung des sowjetisch-westdeutschen Vertrages steht während der LHM 1970 das Bestreben westdeutscher Regierungs- und Wirtschaftskreise, die weitere Haltung der DDR zu den Beziehungen zur BRD und zu Westberlinregelungen zu erkunden, eindeutig im Mittelpunkt des Interesses. Diese Tatsache wird verdeutlicht durch solche Fakten wie die Anweisungen des BND zur Informationseinholung auf der LHM 1970, die Bemühungen der westdeutschen Staatssekretäre Arndt13 und Rohwedder14 vom Bundeswirtschaftsministerium während ihres Messebesuches unbedingt mit Genossen Sölle ins Gespräch zu kommen sowie die umfangreichen Aktivitäten westdeutscher und Westberliner Journalisten und Konzernvertreter.
Nach anfänglich hochgespielten Spekulationen, nach Unterzeichnung des sowjetisch-westdeutschen Vertrages Druck auf die DDR ausüben zu können und sie zum Eingehen auf westdeutsche Forderungen zu bewegen, ist gegenwärtig eine zunehmende Unsicherheit bezüglich des Weiteren Vorgehens der DDR festzustellen. Eine Reihe von Informationen bestätigen diesen Sachverhalt.
So wurde im Zusammenhang mit dem beabsichtigten Besuch der westdeutschen Staatssekretäre Arndt und Rohwedder am 5. und 6.9.1970 in Leipzig intern bekannt, dass beide beabsichtigen, in einem Gespräch mit Genossen Sölle die Haltung und Auffassung der Regierung der DDR zu den Moskauer Verhandlungen und dem Vertrag zwischen der UdSSR und der BRD zu erkunden.
Beide Staatssekretäre sollen in dem Gespräch zum Ausdruck bringen, dass ihr Besuch der LHM unter anderem dazu dient, eine Fortsetzung der Gespräche von Erfurt und Kassel15 vorzubereiten.
Ein führender Westberliner Vertreter mehrerer westdeutscher Zeitungen, der häufig auch als »Experte« in der Fernsehsendung »drüben« des ZDF auftritt, erklärte nach seiner Ankunft in Leipzig, er sei von seinen Redaktionen beauftragt, die Stimmung über den sowjetisch-westdeutschen Vertrag im öffentlichen Leben der Messestadt, im Messegeschehen und unter den Partei- und Staatsfunktionären in Erfahrung zu bringen.
Er brachte in diesem Zusammenhang die »Befürchtung« zum Ausdruck, die DDR könne zur Unterstreichung ihrer Souveränität einseitig neue Regelungen in Bezug der Zufahrtswege von und nach Westberlin einführen. Seiner Meinung nach wäre es besser, wenn es zu keinen solchen Aktionen der DDR käme, sondern die UdSSR an die DDR herantrete, um mit ihr Vereinbarungen über eine Sicherung der Zufahrtswege nach Westberlin abzuschließen, die vorher von den vier Botschaftern bei den Westberlin-Gesprächen ausgehandelt wurden.
In Leipzig weilende Journalisten wollen erfahren haben, dass die DDR diese Vorschläge zum Weltfriedenstag (1.9.1970) unterbreite.
Während der genannte Journalist seine Befürchtung über einseitige Maßnahmen der DDR in Bezug auf die Zufahrtswege nach Westberlin zum Ausdruck brachte, geht der Westberliner Senat offenbar von der Notwendigkeit einseitiger Maßnahmen der DDR aus.
Ein Westberliner Journalist, der gute Verbindungen zum Regierenden Bürgermeister von Westberlin, Schütz,16 unterhält, äußerte, einseitige Aktivitäten der DDR – die intern mit den vier Mächten und der westdeutschen Bundesregierung sowie dem Senat von Westberlin abgesprochen sein sollten – könnten psychologische Auswirkungen für die Festigung der SPD/FDP-Position haben.
Auch aus Kreisen der westdeutschen Wirtschaft liegen ähnliche Informationen vor. So ist es eines der Hauptanliegen der Vertreter der Firma Henkel und Co Kontakte und Gespräche während der LHM 1970 zu nutzen, um sich über den Standpunkt der SED zum Vertrag zwischen der UdSSR und der BRD zu unterrichten. Von Interesse seien dabei vor allem Zusammenhänge, die auf Widersprüche zwischen der DDR und der UdSSR in der Haltung zum Vertrag hindeuten bzw. die künftigen Absichten der SED gegenüber Westdeutschland erhellen.