Verletzung des Luftraumes der DDR durch Rittmeyer und Hausmann
1. Juli 1970
Information Nr. 669/70 über die Verletzung des Luftraumes der DDR durch ein westdeutsches Motorflugzeug am 21. Juni 1970
Am 21.6.1970 drangen die westdeutschen Bürger Rittmeyer, Leopold,1 geboren [Tag, Monat] 1932 in Kowno2/UdSSR, Beruf: Maschinenbaumechaniker, letzte Tätigkeit: selbstständiger Fußbodenleger, Familienstand: verheiratet, ein Kind, wohnhaft Frankfurt/M., [Straße, Nr.], Vorstrafen: keine, und Hausmann, Rolf,3 geboren [Tag, Monat] 1941 in Frankfurt/M., Beruf: Maschinenschlosser, letzte Tätigkeit: Frachtkaufmann, Familienstand: ledig, wohnhaft Frankfurt/M., [Straße, Nr.], Vorstrafen: keine, mit dem westdeutschen Motorflugzeug vom Typ »Champion«, Kennzeichen D-ENTY, bei Bad Salzungen ungesetzlich in den Luftraum der DDR ein und wurden, nachdem sie sich einer Landeaufforderung widersetzt und versucht hatten, nach Westdeutschland zu entkommen, von zwei sowjetischen Hubschraubern zur Landung auf dem Flugplatz Hayna, Kreis Eisenach, gezwungen.4
In Abstimmung mit dem Oberkommandierenden der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in der DDR, Genossen Armeegeneral Kulikow,5 und dem Minister für Nationale Verteidigung, Armeegeneral Hoffmann,6 wurde gegen Rittmeyer und Hausmann ein Ermittlungsverfahren mit Haft eingeleitet.
Die von den zuständigen Organen des MfS geführten Untersuchungen zur Luftraumverletzung haben ergeben:
Zur Person:
Rittmeyer entstammt einer Arbeiterfamilie. Seine Eltern lebten in Kowno/Litauische SSR, wo seine Mutter gebürtig war. 1941 siedelte die Familie als »Volksdeutsche« nach Hildburghausen um, wo seine Mutter noch im gleichen Jahr verstarb. Politisch waren seine Eltern nicht organisiert.
Rittmeyer besuchte die Grundschule bis zur 8. Klasse und erlernte den Beruf eines Maschinenbaumechanikers. [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben] Um Aufnahme in Westdeutschland zu erlangen, meldete sich R. – nachdem er zunächst bei Verwandten in Hannover Unterkunft fand – Ende 1949 im Aufnahmelager Friedland, von wo aus er in das Durchgangslager Hornburg eingewiesen wurde.
Ab 2. Mai 1950 war R. bei der »Rhein-Elbe-Bergbau AG« in Essen als Gedingeschlepper und später als Hauer tätig.
Im Jahre 1951verließen die Eltern des R. ungesetzlich die DDR nach Westdeutschland.
Infolge eines 1957 erlittenen Arbeitsunfalles wurde Rittmeyer als bergbauuntauglich erklärt und nahm eine Tätigkeit als Flugzeugmechaniker bei der »Westdeutschen Luftwerbung GmbH« in Essen-Mühlheim auf. Hier erwarb er aus persönlichem Interesse den Privatpilotschein für Sportflieger.
Wegen besserer Verdienstmöglichkeiten übernahm er 1962 eine Anstellung als Flugzeugmechaniker auf dem von der Schokoladenfabrik »Trumpf« unterhaltenen Flugplatz Essen-Mühlheim.
Hier legte Rittmeyer die Prüfungen als Berufspilot 2. Klasse sowie als Fluglehrer ab und führte seit 1963 für die Firma »Trumpf« Reklameflüge durch.
Nachdem R. 1964 geheiratet hatte, begann er 1964 in Frankfurt/M. als selbstständiger Fußbodenleger zu arbeiten.
Rittmeyer gehört seit 1964 dem Luftsportverein Egelsbach an, bildete dort nebenberuflich Flugschüler aus und kann über 900 Flugstunden nachweisen.
Hausmann wuchs in einer Angestelltenfamilie auf. Sein Vater betreibt in Frankfurt/M. eine eigene Versicherungsagentur. Die Eltern des H. sind politisch nicht orientiert.
Nach Absolvierung der 8-klassigen Volksschule besuchte Hausmann bis 1963 die Höhere Handelsschule und schloss diese mit der mittleren Reife ab. Aus persönlichem Interesse verpflichtete sich H. freiwillig zu einer vierjährigen Dienstzeit in der Luftwaffe der Bundeswehr.
Seine Einberufung erfolgte am 1.4.1963 zum Ausbildungsbataillon III in Roth/Kiliansdorf. Nach Ausbildung als Luftbildkartograph an der Luftbildschule der Bundeswehr in Erding/Bayern erfolgte sein Einsatz im Aufklärungsgeschwader 51 Ingolstadt. Am 31.3.1967 wurde H. mit dem Dienstgrad Hauptgefreiter in die Reserve versetzt.
Vom 2.5.1967 bis 12.4.1970 reiste Hausmann ohne festes Ziel durch Asien, Australien und Afrika. Er lebte dabei von 8 000 Mark Ersparnissen sowie der Überbrückungshilfe der Bundeswehr in Höhe von 5 000 Mark. Zeitweilig verrichtete H. in dieser Zeit Gelegenheitsarbeiten.
Nach seiner Rückkehr nach Westdeutschland nahm er eine Tätigkeit als Frachtkaufmann bei dem Flugunternehmen »Pan American World Airways«7 in Frankfurt/M. auf.
Gesellschaftspolitisch bestätigte sich Hausmann aus Desinteresse nicht. Seit 1959 ist H. Mitglied der Flugsportvereinigung Offenbach e.V.
Er erwarb 1960 den Segelflugschein sowie 1967 den Privatpilotenschein für Sportflieger. Er kann ca. 150 Flugstunden nachweisen.
Zum Sachverhalt:
Rittmeyer und Hausmann wurden 1967 miteinander bekannt, unterhielten jedoch in der Folgezeit keine Verbindungen.
Da aufgrund der dreijährigen Abwesenheit des Hausmann der Privatpilotenschein ungültig geworden war, musste er unter Aufsicht eines Fluglehrers 24 Flugstunden nachweisen, um eine gültige Verlängerung zu erhalten. Mit diesem Ziel nahm H. Anfang Mai 1970 Verbindung zu Rittmeyer auf, der sich bereit erklärte, diese Flugstunden mit H. zu absolvieren.
Darauf charterten sie am 8.6.1970 von der Haltergemeinschaft Philipps-Frisch in Bad Nauheim das auf dem Sportflugplatz Reichelsheim stationierte Motorflugzeug vom Typ »Champion«, Kennzeichen D-ENTY, und führten in der Folgezeit bis 20.6.1970 mehrere gemeinsame Start- und Landeübungen sowie Flüge in der Umgebung von Reichelsheim durch. Sie orientierten sich dabei ausschließlich nach Bodensicht und Kartenvergleich.
Für den 21.6.1970 vereinbarten sie erstmals die Durchführung eines Dreieckfluges nach Kompasskurs. Die von Rittmeyer bestimmte und in die Flugkarte eingetragene Flugstrecke führte von Reichelsheim über Kassel nach Bonn/Hangelar und zurück.
Der Start erfolgte am 21.6.1970 um 12.16 Uhr. Gegen 12.45 Uhr sahen sie unter sich eine Autobahn, von der sie annahmen, dass es der Abschnitt Gießen – Alsfeld sei. Tatsächlich waren sie jedoch bereits hier vom Kurs abgekommen und hatten die Autobahn in Richtung Kassel mit Ostkurs überflogen.
Beide stellten diese sowie die weiteren Kursabweichungen nicht fest.
Gegen 13.00 Uhr wies Rittmeyer den Piloten Hausmann an, entsprechend der Flugroute auf Ostkurs zu gehen, um zur Autobahn in Richtung Kassel zu gelangen, die sie jedoch bereits 15 Minuten vorher überflogen hatten.
Durch diese Kursänderung näherten sie sich der Staatsgrenze der DDR, die sie, nach ihren Aussagen für sie unbemerkt, im Raum Bad Salzungen überflogen und in den Luftraum der DDR eindrangen. Im weiteren Flugverlauf gelangten sie um 13.24 Uhr über Meiningen. Diese Stadt hielten sie – nach Orientierung am ausgemachten Eisenbahndreieck – für die südwestlich von Kassel gelegene Stadt Fritzlar.
Mit dem Ziel der Suche weiterer Orientierungspunkte kreisten sie mehrmals über der Stadt Meinungen. Dabei bemerkten sie den Anflug eines sowjetischen Hubschraubers, dessen Hoheitszeichen sie erkannten und folgerten daraus, dass sie in den Luftraum der DDR eingedrungen waren.
Das von der Hubschrauberbesatzung gegebene international gültige Zeichen, ihnen zu folgen, wurde nicht beachtet.
In völliger Übereinstimmung fassten Rittmeyer und Hausmann den Entschluss, sich diesem Kommando zu widersetzen und zu versuchen, nach Westdeutschland zu entkommen und sich der Verantwortung für die Luftraumverletzung zu entziehen.
Sie gingen sofort auf Gegenkurs und erhöhten die Geschwindigkeit. Nach Einsatz eines zweiten sowjetischen Hubschraubers und nochmaligen Aufforderungen zum Folgen bogen sie, da sie einschätzten, dass eine weitere Missachtung der erteilten Kommandos die Anwendung militärischer Mittel nach sich ziehen würde, auf den vorgegebenen Kurs ein. Die Landung konnte 14.19 Uhr auf dem Flugplatz Hayna bei Eisenach erzwungen werden.
Dem derzeitigen Stand der Untersuchungen zur Luftraumverletzung entsprechend sowie aus einem Gutachten des Kommandos der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung der Nationalen Volksarmee ist ersichtlich, dass der im Flugzeug vorhandene Flüssigkeitskompass vom Sollkurs zur tatsächlichen Kompassanzeige Abweichungen von 45 bis 75 Grad aufweist. Diese technischen Mängel waren Rittmeyer und Hausmann, ihren eigenen Angaben zu Folge, nicht bekannt.
Aus den Bordunterlagen des Motorflugzeuges ist zu entnehmen, dass entgegen den gesetzlichen Bestimmungen – die eine jährliche Überprüfung der Kompassanlage festlegen – die letzte Kompensierung am 2.8.1968 vorgenommen wurde.
Die von den zuständigen Organen des MfS geführten Untersuchungen erbrachten keine Anzeichen einer feindlichen Tätigkeit der Luftraumverletzer Rittmeyer und Hausmann.
Die Untersuchungen haben ergeben, dass Rittmeyer und Hausmann in fahrlässiger Art und Weise gegen die internationalen und nationalen Bestimmungen des Flugverkehrs verstoßen haben und die Flug- und Luftsicherheit erheblich gefährdeten.
In Auswertung dieser erneuten Verletzung des Luftraumes der DDR sowie der Tatsache, dass im Jahre 1970 bereits in 25 Fällen durch Flugzeuge verschiedener Typen von Westdeutschland bzw. Westberlin aus die Staatsgrenze der DDR überflogen und in den Luftraum der DDR eingedrungen wurde, wird vorgeschlagen,
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gegen die westdeutschen Bürger Rittmeyer und Hausmann auf der Grundlage der vorliegenden Ermittlungsergebnisse und der Erfüllung des Tatbestandes des versuchten ungesetzlichen Verlassens des Hoheitsgebietes der DDR gemäß § 213 Abs. 1 und 3 Strafgesetzbuch,8 § 6 Abs. 1, 2 und 3 der Verordnung zum Schutz der Staatsgrenze der DDR vom 19.3.1964 in der Fassung des Anpassungsgesetzes vom 11.6.19689 in Verbindung mit § 45 des Gesetzes über die Zivile Luftfahrt vom 31.7.196310 das Ermittlungsverfahren abzuschließen und die Hauptverhandlung durchzuführen;
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nach Abschluss des Prozesses und der rechtskräftigen Verurteilung der Luftraumverletzer eine erneute Pressenotiz zu veröffentlichen, mit dem Ziel, damit nochmals die zuständigen westdeutschen Organe auf die Luftraumverletzungen und ihre Folgen aufmerksam zu machen und Maßnahmen zur wirksamen Unterbindung weiterer derartiger Vorfälle zu fordern;
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nach Abschluss aller Verfahrensfragen die Möglichkeiten einer vorzeitigen Freilassung der Luftraumverletzer zu überprüfen.