Vorkommnis am Ehrenmal in Berlin-Treptow
8. Oktober 1970
Information Nr. 1074/70 über ein Vorkommnis während der Kranzniederlegung am Ehrenmal in Berlin-Treptow am 7. Oktober 1970
Durch das MfS wurden am 7.10.1970 zur Abfahrt der Delegation von Repräsentanten unserer Republik von der Kranzniederlegung am Ehrenmal in Berlin-Treptow zwei Personen festgestellt, die sich unter den dort anwesenden ca. 100 Werktätigen in der Straße am Treptower Park/Ecke Herkomerstraße befanden und unmittelbar zum Zeitpunkt der Abfahrt der Delegation zwei Papptafeln vom Format 45 × 85 cm mit dem Text »Wir fordern Gerechtigkeit in der DDR« hochhielten.
Beide Personen wurden daraufhin sofort isoliert und zugeführt, sodass sie mit ihrer Handlung keinerlei Massenwirksamkeit erreichten.
Bei den Personen handelt es sich um [Name, Vorname 1], geboren am [Tag, Monat] 1935 in Berlin, zuletzt tätig als Heizer in Berlin-Treptow, wohnhaft in Berlin-Treptow, [Straße, Nr.], und dessen Sohn [Name, Vorname 2], geboren am [Tag, Monat] 1957, wohnhaft bei seinen Eltern.
[Name, Vorname 1] wurde in der Vergangenheit für vorbildliche Leistungen im Nationalen Aufbauwerk1 mit den Aufbaunadeln in Bronze, Silber und Gold sowie mit der Meißener Plakette2 ausgezeichnet.
Die Untersuchungen des MfS ergaben folgenden Sachverhalt:
[Name] bemüht sich seit Anfang des Jahres 1970 nachdrücklich um Zuweisung einer größeren Wohnung für seine Familie, die ihm trotz mehrfacher Zusicherung durch die zuständigen staatlichen Organe bisher nicht zugewiesen wurde. Er fühlte sich infolgedessen nach seinen eigenen Angaben ungerecht behandelt und »hintergangen« und beabsichtigte, durch diese Transparente führende Funktionäre auf seine Angelegenheiten aufmerksam zu machen, mit dem Ziel, dass ihm danach in der Wohnungsangelegenheit geholfen wird.
[Name] bewohnt mit seiner Ehefrau und fünf Kindern (13, 9, 6, 2 Jahre alt und ein Säugling im Alter von einem Monat) eine Zweizimmerwohnung. Seit Mai 1970 läuft – von ihm schriftlich eingereicht – ein ordnungsgemäßer Antrag auf die Zuweisung einer größeren Wohnung bei der Abteilung Wohnungswirtschaft des Rates des Stadtbezirkes Treptow.
Von der zuständigen Abteilungsleiterin wurde dem [Name] bestätigt, dass sein Wohnungsantrag als »dringend« eingestuft wurde u. a. auch mit der Begründung der Schwangerschaft seiner Ehefrau (Mai 1970) und der Krankheit seines 13-jährigen Sohnes.
([Name, Vorname 3] ist aufgrund einer als Kleinkind erlittenen Hirnhautentzündung bildungsunfähig.)
Ein mit der Wohnung gleichzeitig beantragtes Darlehen zum Erwerb eines Einfamilienhauses wurde von der Kommission zur Unterstützung kinderreicher Familien mit dem Hinweis, dass keine finanziellen Mittel zur Verfügung stehen, abgelehnt. Daraufhin hat [Name] die öffentliche Sprechstunde des Staatsrates aufgesucht, sein Problem dargelegt und Unterstützung zugesichert bekommen.
Ende Juni 1970 teilte [Name] der zuständigen Abteilung Wohnungswirtschaft mit, dass eine von ihm genannte Rentnerin in seinem Wohngebiet ihre 4-Zimmer-Wohnung aufzugeben beabsichtigt. Mündlich erhielt er daraufhin die Zusage zum Erhalt dieser Wohnung. Nachdem [Name] seit diesem Zeitpunkt wöchentlich bei der Abt. Wohnungswirtschaft vorgesprochen hatte und er wiederholt damit hingehalten wurde, dass die Freimeldung für die bezeichnete Wohnung noch nicht vorläge, wurde ihm bei einer erneuten Vorsprache am 26.8.1970 durch die Leiterin der Abteilung Wohnungswirtschaft mitgeteilt, die Wohnung sei bereits an eine andere kinderreiche Familie vergeben worden.
Daraufhin begab sich [Name] am Abend des 26.8.1970 mit dem Ziel, den Staatsratsvorsitzenden persönlich zu sprechen, zum ehemaligen Amtssitz des Staatsrates nach Berlin-Niederschönhausen, wo er an die öffentliche Sprechstunde verwiesen wurde.
Danach fertigte [Name] in seiner Wohnung ein Transparent mit der Aufschrift »Ich wünsche den Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht3 zu sprechen« und begab sich am 27.8.1970 gemeinsam mit seiner Ehefrau unter Mitnahme dieses Transparentes zum Amtssitz des Staatsrates.
Während seine Ehefrau die öffentliche Sprechstunde aufsuchte, hielt sich [Name] mit dem vorgenannten Transparent vor dem Haupteingang des Gebäudes mit dem Ziel, nicht nur die Beauftragten der Sprechstunde, sondern tatsächlich den Gen. Walter Ulbricht persönlich zu sprechen. [Name] wurde aufgrund des Transparentes ebenfalls zur öffentlichen Sprechstunde geführt.
Nachdem [Name] gemeinsam mit seiner Ehefrau in der öffentlichen Sprechstunde die Wohnungsverhältnisse geschildert hatte, wurde seitens der Mitarbeiter des Staatsrates für den 28.8.1970 eine Aussprache zwischen [Name] und dem Bezirksrat für Wohnungswirtschaft des Stadtbezirkes Berlin-Treptow vereinbart.
Diese Aussprache fand auch am 28.8.1970 statt. In deren Verlauf wurde [Name] erneut Unterstützung zugesagt, ohne dass ihm bindende Zusicherungen gegeben wurden.
Mit dem gleichen Ergebnis verliefen drei weitere Aussprachen mit dem Bezirksrat für Wohnungswirtschaft, letztmalig am 6.10.1970.
[Name] gibt an, er sei aufgrund derartiger »Vertröstungen« in zunehmendem Maße verärgert gewesen und nach der Aussprache am 6.10.1970 zu der Auffassung gelangt, bei den genannten Staatsorganen sei kein Bemühen vorhanden, ihm zu helfen. Die Ansicht, dass er von den Staatsorganen ungerecht behandelt würde, habe sich nach der Vielzahl der Aussprachen bei ihm verstärkt.
Aus dieser Einstellung heraus fertigte er in den Morgenstunden des 7.10.1970 die beiden Transparente mit dem Text »Wir fordern Gerechtigkeit in der DDR« an und begab sich mit seinen Kindern zur Abfahrtsstrecke der Delegation von Repräsentanten der DDR am Ehrenmal in Berlin-Treptow.
Im Verlaufe der geführten Überprüfungen und Ermittlungen wurden keine den Aussagen [Name] widersprechenden Feststellungen getroffen, sodass er und sein Sohn nach den Befragungen durch das MfS entlassen wurden.