Weitere Verletzungen des Luftraumes
13. Juli 1970
Information Nr. 715/70 über weitere Verletzungen des Luftraumes der DDR durch westdeutsche Sportflugzeuge am 10. und 12. Juli 1970
Am 12.7.1970, gegen 10.40 Uhr, drang der westdeutsche Bürger Kahl, Willi,1 geboren [Tag, Monat] 1930 in Bevern, Kreis Holzminden, wohnhaft in 3361 Eisdorf, Kreis Osterode, Beruf: Bäcker, letzte Tätigkeit: selbstständiger Bäckermeister, Familienstand: verheiratet, drei Kinder, Vorstrafen: nach eigenen Angaben keine, mit einem einmotorigen Sportflugzeug vom Typ »Cessna F 150« Kennzeichen D – BMZG, aus Richtung Schöningen/Westdeutschland kommend bei Hötensleben, Kreis Oschersleben, Bezirk Magdeburg, in den Luftraum der DDR ein und wurde um 11.05 Uhr ca. 2 000 m nordöstlich von Staßfurt in der Nähe der Ortschaft Förderstedt, Kreis Staßfurt, durch einen sowjetischen Hubschrauber zur Landung gezwungen.2
Die bisherigen Untersuchungen dieser Luftraumverletzung durch das MfS haben ergeben:
Zur Person:
Kahl entstammt der Familie eines selbstständigen Bäckermeisters. Nach Abschluss der Volksschule (9. Klasse) erlernte er in Tolle/Weser das Bäckerhandwerk. Nachdem er bis 1955 als Geselle in diesem Beruf tätig war, übernahm er in Hummersen, Kreis Detmold, ein gepachtetes Bäckergeschäft. Seit 1960 ist K. als selbstständiger Bäckermeister in Eisdorf, Kreis Osterode, tätig. K. ist seit 1956 verheiratet. Gesellschaftspolitisch betätigt er sich aus Desinteresse nicht.
Zum Sachverhalt:
Aus Interesse am Flugsport absolviert Kahl seit 22.7.1968 bei der Flugschule »Aero-West« in Braunschweig eine Ausbildung als Privatpilot, die er noch nicht abgeschlossen hat.
Seinen eigenen Angaben zufolge hat er bisher etwa 32 Flugstunden, davon 15 im Alleinflug, und lediglich einen Überlandflug von drei Stunden Dauer, absolviert. Alle anderen Flüge führte K. nur im Bereich des Flugplatzes Braunschweig-Waggum3 durch.
Aufgrund der bis zum 22.7.1970 durch Kahl abzulegenden Prüfung zum Erwerb des Privatpilotenscheines, für welche er noch sieben Flugstunden benötigte, vereinbarte er mit seinem Fluglehrer [Name] für den 12.7.[1970] die Durchführung eines Dreieckfluges. Als Startzeit wurde 8.00 Uhr festgelegt. K. erschien jedoch erst gegen 10.00 Uhr auf dem Flugplatz Braunschweig-Waggum, wo ihn sein Fluglehrer zur Eile drängte.
Der Flug, den K. in die Luftfahrkarte eintrug, sah einen Dreieckkurs Braunschweig-Hameln-Lehrte-Braunschweig vor.
Als Werte für den Kompasskurs errechnete Kahl für die Strecke nach Hameln 253 Grad und von dort nach Lehrte 55 Grad, wobei er von Lehrte aus entlang der Autobahn nach Braunschweig zurückfliegen wollte.
Bei dieser Kursberechnung ließ K. die Wetterlage – Wind aus 240 Grad mit 15 Knoten – unberücksichtigt.
Bereits fünf Minuten nach seiner Ankunft auf dem Flugplatz Braunschweig-Waggum vollzog Kahl den Start mit dem einmotorigen Sportflugzeug vom Typ »Cessna-F-150«, dessen Halter die Flugschule Aero-West in Braunschweig ist.
Dabei ließ K. seinen Flugschülerausweis sowie seine sonstigen Personalpapiere bei der Flugaufsicht zurück, da er glaubte, diese bei dem vorgesehenen Flug nicht zu benötigen.
Er unterließ ferner die Durchführung der vorgeschriebenen Außenkontrolle der Maschine, da er – seinen eigenen Angaben zufolge –, so schnell als möglich starten wollte, um den Flug bis Mittag absolviert zu haben.
Kahl überzeugte sich nicht vom Vorhandensein der erforderlichen Bordpapiere im Flugzeug, sodass er in Durchführung des Fluges weder das Bordbuch noch die anderen gemäß den Bestimmungen der Luftverkehrsordnung notwendigen Unterlagen mitführte.
Nachdem sich K. um 10.05 Uhr über Funk bei der Flugaufsicht abgemeldet hatte, ging er im Steigflug auf eine Höhe von 600 m und nahm seiner Ansicht nach einen Kurs von 253 Grad ein. Zu dieser Kursfestlegung benutzte er jedoch nicht, wie vorgeschrieben, den auf magnetisch-NORD eingestellten Flüssigkeitskompass, sondern den dazu ungeeigneten Kreiselkompass. Als Erklärung für diese fehlerhafte Navigation gibt Kahl an, erst ein einziges Mal mit einem Sportflugzeug des Typs »Cessna-F-150« eine Platzrunde geflogen und nicht gewusst zu haben, dass zwischen Flüssigkeits- und Kreiselkompass erhebliche Abweichungen bestehen.
Dadurch flog K. nicht den von ihm errechneten Kompasskurs von 253 Grad, sondern in südöstlicher Richtung auf die Staatsgrenze der DDR zu, was er jedoch nicht bemerkt haben will.
Nach etwa 40 Minuten Flugzeit, als er die auf direktem Kurs nach Hameln gelegene Autobahn Hannover-Kassel bereits hätte überflogen haben müssen, kamen ihm Zweifel an der Richtigkeit seines Kurses.
Nach den bereits seit 10.08 Uhr vorliegenden Funkmesswerten hat K. um 10.40 Uhr in Höhe der westdeutschen Ortschaft Schöningen die Staatsgrenze der DDR – angeblich für ihn unbemerkt – überflogen und setzte seinen Flug auf dem Gebiet der DDR in Richtung Staßfurt fort.
Erst als er um 10.50 Uhr einen sowjetischen Düsenjäger erkannte, der auf seinen Kurs einbog und ihm das international übliche Kommando zum Folgen gab, will er erkannt haben, dass er in den Luftraum der DDR eingeflogen war. Daraufhin ist er in Kenntnis der Luftraumverletzung auf den von dem sowjetischen Düsenjäger vorgegebenen Kurs eingebogen und diesem gefolgt. In dieser Situation näherte sich ihm ein Hubschrauber der sowjetischen Streitkräfte, dessen Besatzung ihn durch Handzeichen zur sofortigen Landung aufforderte.
Durch Übergehen zum Sinkflug verdeutliche Kahl, dass er das Kommando verstanden habe.
Um 11.05 Uhr landete Kahl etwa 2 000 m nordöstlich Staßfurt in einem Getreidefeld. Während des Landemanövers überschlug sich die Maschine und wurde an Bugrad, Luftschraube, Triebwerk und Seitenleitwerk erheblich beschädigt. Der Pilot erlitt, wie durch anschließende ärztliche Untersuchung bestätigt wurde, keinerlei Verletzungen.
Auf dem Getreidefeld der Kooperationsgemeinschaft Hohenerxleben entstand durch die Havarie Sachschaden, dessen Höhe zzt. noch nicht bekannt ist.
Nach bisher vorliegenden Untersuchungen ist diese Luftraumverletzung auf die unzureichende Flugvorbereitung, die mangelhaften Kenntnisse des Piloten auf navigatorischem Gebiet und auf den eingetretenen Orientierungsverlust zurückzuführen.
Bisher wurden keine Anhaltspunkte für eine von westdeutschen Dienststellen inszenierte Grenzprovokation festgestellt.
Die Untersuchungen des MfS zur umfassenden Aufklärung aller Ursachen und Umstände dieser Luftraumverletzung werden fortgeführt.
Zu einer weiteren provokatorischen Verletzung des Luftraumes der DDR war es bereits in den Morgenstunden des 10.7.1970 gekommen.
Durch den Zentralen Gefechtsstand der Luftstreitkräfte und Luftverteidigung der DDR wurde funkmessmäßig um 7.30 Uhr aus Richtung Kannsbach, Kreis Hünfeld, Westdeutschland, kommend in der Nähe von Buttlar, Kreis Meiningen der Einflug eines einmotorigen Sportflugzeuges (Tiefdecker) in einer Höhe von 1 000 bis 2 000 m festgestellt.
Über den Zentralen Gefechtsstand der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung der DDR wurde in diesem Zusammenhang bekannt, dass der Luftprovokateur nach seinem Einflug in die DDR durch einen sowjetischen Abfangjäger mehrmals zur Landung aufgefordert wurde, dieser jedoch auch nach Abgabe mehrerer Warnschüsse nicht Folge leistete und gegen 7.40 Uhr bei Wolframshausen, Kreis Meiningen, mit Kurs in Richtung Guntheim/Westdeutschland aus dem Luftraum der DDR wieder ausflog.
Wie der Westpresse vom 13.7.19704 zu entnehmen ist, wurde die Luftraumverletzung durch den 47-jährigen Westdeutschen Christian Fürst zu Bentheim5 verursacht, der gemeinsam mit seinem Bruder mit einem Sportflugzeug vom Typ »Bonanza« vom Flugplatz Rheine/NRW zu einem Flug nach München-Riem gestartet war.
Laut westlichen Presseveröffentlichungen soll B. gegenüber einem Vertreter der DPA geäußert haben, dass er durch starke Luftströmung in ca. 2 500 m Höhe vom eingeschlagenen Kurs abgetrieben worden wäre. Über dem Territorium der DDR sei er von einem sowjetischen Düsenjäger dreimal umkreist und durch Wackeln mit den Tragflächen zur Landung aufgefordert worden, dem er jedoch durch Herunterdrücken des Flugzeuges und damit verbundener Erhöhung der Fluggeschwindigkeit entgehen konnte. Die Äußerung eines Sprechers des westdeutschen Bundesverteidigungsministeriums, das Flugzeug sei von einem sowjetischen Düsenjäger beschossen worden, wurde von Bentheim jedoch dementiert.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass der Luftraumverletzer bei seinem Ausflug aus der DDR durch zwei amerikanische Phantom-Jäger in Empfang genommen und zum Flugplatz München-Riem geleitet wurde.
Wie der Westpresse zu entnehmen ist, erfolgte diese »Begleitung«, da man angeblich das Hoheitszeichen dieses Sportflugzeuges beim Wiedereinflug in den Luftraum Westdeutschlands nicht ausmachen konnte.
In Auswertung dieser erneuten provokatorischen Verletzungen des Luftraumes der DDR wird durch das MfS eine Pressenotiz erarbeitet und dem Presseamt beim Vorsitzenden des Ministerrates der DDR übergeben.
Am 14.7.1970 erfolgte nach Abschluss der Untersuchungen durch das MfS vor dem Stadtbezirksgericht Berlin-Lichtenberg der Prozess gegen die westdeutschen Piloten Leopold Rittmeyer6 und Rolf Hausmann,7 die am 21.6.1970 im Raum Eisenach zur Landung gezwungen wurden.8
Vom MfS wurde dazu eine entsprechende Presseveröffentlichung vorbereitet, die dem Presseamt beim Vorsitzenden des Ministerrats der DDR übergeben wird.9
In der Anlage wird der o. g. Entwurf mit der Bitte um Bestätigung überreicht.12
Anlage zu Information 715/70
Entwurf einer Pressemeldung
Berlin (ADN). Das Stadtbezirksgericht Berlin-Lichtenberg verurteilte am Dienstag die westdeutschen Piloten Leopold Rittmeyer und Rolf Hausmann, beide aus Frankfurt am Main, wegen Verstoßes gegen das Gesetz über die Zivile Luftfahrt und andere gesetzliche Bestimmungen zu … Monaten Freiheitsentzug unter entschädigungsloser Einbeziehung des von ihnen zur Luftraumverletzung benutzten Motorflugzeuges D-ENTY.13
Rittmeyer und Hausmann waren am 21. Juni 1970 mit ihrem Flugzeug im Raum Bad Salzungen in den Luftraum der DDR eingedrungen und mussten, nachdem sie die Landsaufforderungen missachtet hatten, zur Landung14 bei Eisenach gezwungen werden.
Die westdeutschen Piloten bekannten sich in der Hauptverhandlung schuldig, im Hoheitsgebiet der DDR vorsätzlich gegen die geltenden Bestimmungen der Zivilen Luftfahrt verstoßen zu haben, um sich der Verantwortung für die Verletzung des Luftraumes der DDR zu entziehen.
Bei den beiden Piloten handelt es sich um erfahrene Flieger. Rolf Hausmann war Angehöriger des Aufklärungsgeschwaders 51 der Bonner Bundeswehr und ist im Besitz eines Privatpilotscheins. Sein Kopilot, Leopold Rittmeyer, war lange Jahre Berufspilot in der westdeutschen Industrie und ist im Besitz der Fluglehrer-Berechtigung. In voller Kenntnis aller Vorschriften für den Flugbetrieb waren sie mit ihrem Flugzeug ohne einwandfrei funktionierende Navigationsinstrumente geflogen.
Die Beweisaufnahme ergab, dass es infolge schlechter Flugvorbereitung und ungenügender Kontrollen durch die westdeutschen Luftfahrtbehörden immer wieder zu Grenzverletzungen durch westdeutsche Zivil-Flugzeuge kommt. Die in den letzten Wochen steigende Zahl von Luftraumverletzungen durch westdeutsche Flugzeuge – allein in der Zeit vom 21. Juni bis 12. Juli mussten drei Motorflugzeuge zur Landung gezwungen werden – macht deutlich, dass von westdeutscher Seite keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen werden, um Verletzungen der Lufthoheit der DDR zu unterbinden.
Angesichts dieser Tatsachen haben die westdeutschen Luftfahrtbehörden die volle Verantwortung für alle Folgen zu tragen, die sich aus solchen Vorkommnissen ergeben. Die Behörden der Deutschen Demokratischen Republik haben wiederholt vor der Verletzung des Luftraumes der DDR gewarnt und werden auch weiterhin keine Verletzung der Souveränität der Deutschen Demokratischen Republik dulden und die Schuldigen zur Verantwortung ziehen.15