Auswertung der Artikelserie »Pullach intern«
30. Juli 1971
Bericht über Erkenntnisse aus der Auswertung der Artikelserie des »Spiegels« über den Bundesnachrichtendienst »Pullach intern« [K 1/25]
1. Erkenntnisse über das Zustandekommen der Artikelserie und die Rolle des »Spiegels«
Die Veröffentlichung der Artikelserie »Pullach intern« begann am 8.3.1971 und endete mit der 14. Fortsetzung am 14.6.1971.1 Sie ist die bisher umfangreichste und am breitesten angelegte Veröffentlichung in der BRD über den BND. Sie enthält – neben vielen auf früheren Veröffentlichungen in westdeutschen Publikationen basierenden Aussagen – zahlreiche Feststellungen und Fakten, die in der BRD bisher geheim gehalten und erstmals publiziert wurden.
Der Inhalt der gesamten Artikelserie lässt eindeutig erkennen, dass es sich hier nicht um eine eigenständige Aktion des »Spiegel« handelt. Dem »Spiegel« bzw. den als Autoren genannten Redakteuren Hermann Zolling2 und Heinz Höhne3 stand umfangreiches authentisches Material zur Verfügung, das sie offensichtlich aus dem Materialbestand des BND erhalten haben und im Ergebnis weiterer eigener Recherchen ergänzt, journalistisch attraktiv aufgemacht und entsprechend ausgeschmückt haben.
Ausgehend von der Beantwortung der Frage, wessen Interessen und Absichten die »Spiegel«-Veröffentlichung nützt, kann aus der Analyse sämtlicher Artikel festgestellt werden, dass die Initiatoren, Interessenten und an der Artikelserie Beteiligten sich befinden
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in SPD-Regierungskreisen, besonders Bundesminister Ehmke,4
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im BND-Vizepräsidenten Blötz,5 der zusammen mit Ehmke und gestützt auf die von Ehmke im Vorjahr eingesetzten Abteilungsleiter im BND Veränderungen im BND herbeiführen soll,
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unter weiteren BND-Führungskreisen, die für Reformen eintreten, und schließlich
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beim »Spiegel« selbst, der schon früher zur Meinungsmanipulierung im Interesse bestimmter BND-Führungskreise wesentlich beitrug,6 enge Verbindungen zum BND unterhält und sich von einem »neuen Knüller« eine Erhöhung der Auflage (hatte in den Monaten vor der Artikelserie abgenommen) versprach.
Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte dürfte die Behauptung des »Spiegels«, derzufolge er seine Unterlagen mit dem Bundeskanzleramt und dem BND abgestimmt habe, zumindest eine Teilwahrheit sein. In diesem Zusammenhang wird auch auf offiziell abgegebene Erklärungen von Ahlers7 (Mitte März 1971) hingewiesen, wonach die »Spiegel«-Veröffentlichungen kein Sicherheitsrisiko bedeuten würden, damit jedoch noch nichts über die Richtigkeit der Darstellung gesagt sei.
Offensichtlich hat sich der »Spiegel« bei einem Teil seiner Darlegungen nicht an den abgesteckten Rahmen gehalten und ist in seiner Veröffentlichung weiter als ursprünglich festgelegt gegangen. Dabei dürften auch – wie bereits dargelegt – finanzielle Überlegungen (Erhöhung der Auflage) eine Rolle gespielt haben. Unter Hervorkehren der journalistischen »Freiheit« und gleichzeitig unter der Flagge der »Objektivität« hat der »Spiegel« im Ergebnis seiner Recherchen bei Angehörigen verschiedener Interessengruppen im BND deren Auffassungen wiedergegeben. Teilweise handelt es sich hier um sogenannte Zurückgedrängte, die diese Gelegenheit wahrgenommen haben, ihre Verärgerung zum Ausdruck zu bringen.
Von diesen Erwägungen ausgehend erscheint auch eine interne Information über das Zustandekommen und die Hintergründe der »Spiegel«-Serie (HV A, vertrauenswürdige Quelle) glaubhaft. Dieser Information zufolge äußerten Mitarbeiter des BND, dass der Plan für eine größere Publikation über den BND, die nur als eine historische Darstellung gedacht gewesen sei,8 aus Kreisen der neuen BND-Führung selbst stammt und das Projekt mit Billigung von Ehmke zwecks Veröffentlichung an den »Spiegel« herangetragen worden sei.
BND-Kreisen sei es darum gegangen, mithilfe dieser Publikation »mehr Vertrauen unter der Bevölkerung« zu erlangen, nicht als »Verschwörergruppe«, sondern als »verlängerter Arm« der Bundesregierung angesehen zu werden. Die Interna über Pullach wie über einzelne Kategorien von BND-Mitarbeitern, Arbeits- und Werbungsmethoden, Schwerpunkte, Organisationsfragen und Ähnliches seien ursprünglich nicht eingeplant gewesen. Informanten aus dem BND auf mittlerer Ebene, die mit der jetzigen BND-Führung und ihren Methoden nicht einverstanden sind und auf »stillem Wege abgeschoben« worden seien, hätten dem »Spiegel« entsprechende Materialien zur Verfügung gestellt.
2. Zu den Hintergründen der »Spiegel«-Veröffentlichung und den Auseinandersetzungen um diese Veröffentlichung
Aus der gesamten Artikelserie, besonders aus den letzten Fortsetzungen, und den dabei hervortretenden Zielen und Absichten wird sichtbar, dass der wichtigste Inhalt der »Spiegel«-Veröffentlichung im engen Zusammenhang mit den Bestrebungen der Bundesregierung zu sehen ist, den BND stärker in den Dienst der Bonner »Ost- und Deutschlandpolitik« zu stellen und zu diesem Zweck die sogenannten Reformen und die Reorganisationsmaßnahmen im BND beschleunigt durchzusetzen. Die Veröffentlichung zielt in erster Linie darauf hin, die Notwendigkeit dieser Maßnahmen zu popularisieren und ihre Durchsetzung zu unterstützen. An dieser offensichtlichen Absicht ändert sich auch dadurch nichts, dass der »Spiegel« bestimmte Regierungsmaßnahmen, besonders das »hemdsärmlige« Vorgehen Ehmkes, in verschiedenen Abschnitten kritisiert.
Es ist anzunehmen, dass die Initiatoren der Artikelserie sich davon überzeugen mussten, die personellen Veränderungen in Führungspositionen des BND reichen allein noch nicht aus. Die führenden SPD-Vertreter stießen auf den Widerstand der BND-Chargen auf mittlerer Ebene (überwiegend Vertreter der alten Linie und auf Gehlen9 eingeschworen). Die SPD-Vertreter dürften daran interessiert sein, noch vorhandene Schwierigkeiten im Zusammenwirken zwischen Bundesregierung und BND zurückzudrängen und abzubauen. Nach inoffiziellen Hinweisen gibt es unter dem Personalbestand des BND Unsicherheiten.
In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten – wie im »Spiegel« auch z. T. indirekt und geschickt dargelegt wird –, dass solche alten leitenden BND-Vertreter wie z. B. »Winterstein« (dem MfS unter dem Klarnamen Kurt Weiß10 bekannt und Langkau11 einseitig orientiert waren, alles in erster Linie unter militärischen Gesichtspunkten betrachtet und die bereits unter der sogenannten großen Koalition begonnene neue Linie nicht verstanden haben, demzufolge im BND unter den veränderten Bedingungen nicht mehr am richtigen Platz waren.
Dem Nachfolger Gehlens, BND-Präsident Wessel,12 wird dagegen – wenn auch mit gewissen Einschränkungen – bescheinigt, dass er elastischer reagiere, wozu seine Tätigkeit in verschiedenen Funktionen vor der Übernahme seiner jetzigen Funktion wesentlich beigetragen habe.
Nach bisherigen Erkenntnissen dürfte eines der wichtigsten, mit der Veröffentlichung verfolgten Anliegen darin bestehen, den Gehlen-Nymbus im BND zu brechen und Verständnis für die von der SPD verfolgte Linie zu erreichen.
Die zwischen der SPD und CDU/CSU vorhandenen unterschiedlichen Auffassungen über taktische Varianten im Bonner Vorgehen gegen die DDR und andere sozialistische Staaten spiegelten sich auch in der Reaktion auf die Veröffentlichung über den BND wider.
Rechte Kräfte mit Strauß13 an der Spitze, unter aktiver Einschaltung von Barzel,14 Baier15 und vor allem auch der Springer-Presse, hatten die ersten »Spiegel«-Artikel über den BND zum Anlass genommen, Angriffe gegen die SPD/FDP-Regierung, besonders gegen »Reformer« Ehmke, und indirekt gegen die Bonner »Ostpolitik«16 zu führen. Das deckte sich mit Behauptungen alter BND-Chargen, wonach die UdSSR nicht an einer echten Entspannung interessiert sei, die »Hinwendung zum Osten« die »Freunde im Westen vergraulen« würde.
Strauß, Barzel und andere warfen der SPD u. a. vor, den BND parteipolitisch beeinflussen zu wollen. Für alle Schwierigkeiten des BND wurde Ehmke als »Sündenbock« herauszustellen versucht.
Vielfach »argumentierten« sie, dass unter Führung der SPD die Geheimdiensttätigkeit »enttarnt« werde, die SPD/FDP-Regierung unfähig sei, die westdeutschen Geheimdienste richtig zu steuern, durch ihren »Dilettantismus« der BND immer mehr »funktionsunfähig« werde usw.
Die »Gegenargumente« der SPD fanden bezeichnenderweise auch in den darauf folgenden Fortsetzungen im »Spiegel« ihren Niederschlag, in denen u. a. die BND-Praktiken unter der CDU/CSU-Regierung und die »Schlappen« des BND mit herausgestellt wurden (einschließlich die vom BND praktizierte, sogenannte Inlandaufklärung17).
Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass die Rechtskräfte18 um Strauß ihre Angriffe Ende März wieder einstellten und auch ihre Forderung nach Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zurückzogen. (Hier wird auf Veröffentlichungen von Dr. Mader19 verwiesen, der die Auseinandersetzungen als »Theaterdonner« charakterisierte und herausstellte, dass es im Grunde genommen auch im Hinblick auf die Tätigkeit des BND um gemeinsame Ziele der SPD und der sogenannten Opposition geht.)
3. Zu den mit der Veröffentlichung verfolgten Zielen und Absichten
In diesem Abschnitt erfolgt eine Einschränkung auf die einschätzende Darlegung der aus der Artikelserie bzw. aus dazu vorliegenden internen Hinweisen hervorgehenden Ziele und Absichten.
Erhöhung der Aktionsfähigkeit und Effektivität des BND
Als entscheidendes Merkmal der mit der Veröffentlichung verfolgten Absichten sind die Bestrebungen anzusehen, die Wirksamkeit des BND als Instrument der Regierungspolitik der Brandt/Scheel-Regierung20 zu erhöhen. Das gilt vor allem hinsichtlich der dem MfS schon längere Zeit bekannten forcierten Bonner Anstrengungen zur stärkeren Einordnung des BND in die sogenannte Ost- und Deutschlandpolitik.
Durch die forcierte Spionagetätigkeit, besonders auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet, soll der BND Voraussetzungen schaffen, die der Bonner Regierung ein gezieltes und differenziertes Vorgehen gegen die DDR und andere sozialistische Staaten besser als bisher ermöglichen. Als Schwerpunkt wird dabei – wie dem MfS schon seit längerer Zeit bekannt ist – die Konzentration auf die Angriffe gegen die DDR herausgestellt. Zu diesem Zweck sollen die bereits unter der »großen Koalition« begonnenen und nach dem Regierungswechsel beschleunigt fortgesetzten Reformen durchgesetzt und Widerstände zur Erhöhung der Aktionsfähigkeit des BND im Sinne der Ziele der SPD/FDP-Regierung überwunden werden.
Auch wenn noch keine umfassende Einschätzung der Auswirkungen der »Spiegel«-Artikelserie möglich ist, dürfte feststehen, dass nach dieser Veröffentlichung, der dadurch ausgelösten Diskussionen und nach dem Abklingen der Reaktionen die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung günstigere Möglichkeiten für die Durchsetzung ihrer Linie im BND hat. Offensichtlich im Interesse dieser Linie hat sie eine Reihe von Überspitzungen des »Spiegel« mit inkauf genommen.
In mehreren Artikeln wurde Kritik an der »Selbstisolierung« des BND, besonders unter Leitung Gehlens, geübt. Diese Kritik ist in Verbindung mit dem Hervorheben solcher vom »Spiegel« angeführter Passagen zu sehen, wie z. B.
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der Forderung, den Kontakt des BND zur Öffentlichkeit zu verstärken und das Ansehen des BND zu erhöhen;
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die Darlegung, dass sich die Tätigkeit des BND »mit der Demokratie vertragen« würde;
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das Hervorheben einer Äußerung des BND-Präsidenten Wessel, wonach »der Dienst legitim und keinesfalls moralisch anfechtbar« sei;
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der Versuch, eine parlamentarische Kontrolle des BND unter der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung vorzutäuschen.
In diesem Zusammenhang verdienen die zahlreichen Versuche des »Spiegel« Beachtung, das MfS als eine Art Gespenst an die Wand zu malen.
Die Diskriminierung der sozialistischen Sicherheitsorgane erfolgt bei gleichzeitiger Aufwertung der Bonner Geheimdienstorgane, der Begründung ihrer »Notwendigkeit« und unter Hervorhebung ihrer angeblich demokratischen Zielen und Interessen dienenden Tätigkeit.
In Bezug auf das MfS wird – neben dem Herausstellen unserer Aktivitäten gegenüber der BRD »trotz Entspannung« – darzustellen versucht, dass unser Organ im Vergleich mit den Bonner Geheimdienstorganen deshalb »im Vorteil« sei, weil es exekutive Vollmachten habe, »keiner Kontrolle« unterliege und sich auf einen »autoritären« Partei- und Staatsapparat stützen könne.
Im Zusammenhang mit diesen Gesichtspunkten dürften die zahlreichen Veröffentlichungen in westdeutschen Presseorganen und Rundfunk- bzw. Fernsehsendungen, die auf einem Jahresbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz und auf Erklärungen des Bonner Innenministers Genscher21 basieren, zu sehen sein.
Bewusstes Hochspielen der BND-»Misere« und gezielte Abwertung der Tätigkeit des BND in den letzten Jahren unter Leitung Gehlens
Der Vergleich der vom »Spiegel« am BND geübten Kritiken mit den Erkenntnissen und Erfahrungen des MfS über die Orientierungen und Praktiken des BND ergibt eindeutig, dass – ohne bestimmte Schwierigkeiten in der Tätigkeit dieses westdeutschen Geheimdienstes zu unterschätzen – die sogenannte BND-Misere bewusst hochgespielt wurde.
In einer Reihe von Passagen in mehreren Artikelfortsetzungen wird vorzutäuschen versucht, dass der BND kein Potenzial für die »Ostspionage« mehr habe. Unter anderem wurde Kritik an den ungenügenden Ergebnissen der politischen Spionage geübt. In diesem Zusammenhang werden als Beispiele der jüngeren Zeit u. a. angeführt,
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dass der BND nicht rechtzeitig über die sich in Polen entwickelnden Ereignisse informiert war und auch die Möglichkeiten, die sich ihm geboten haben, nicht genutzt hat.
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dass der BND nur ungenau über die DDR informiert, obwohl Ehmke hohe Forderungen hinsichtlich der Spionage gegen die DDR stellt (Hinweis auf Ehmke, wonach der BND »wenig Brauchbares« über die DDR liefert).
Andererseits wurde angeführt, dass der BND im Frühsommer 1970 eine »wichtige Orientierungshilfe« für die Gespräche Brandts22 mit Stoph23 geleistet habe.24
Offensichtlich im Sinne der von den Initiatoren mit der Artikelserie verfolgten Ziele und Absichten hebt der »Spiegel« hervor, dass der BND in der »Talsohle geheimdienstlicher Effizienz« angelangt sei und deshalb die »längst überfälligen Reformen« ernsthaft betrieben werden müssten. Hierzu ist festzustellen, dass – ohne die den BND zugefügten Schläge und seine Niederlagen und Misserfolge abzuwerten oder zu unterschätzen – es diese »Talsohle« nicht gegeben hat und auch nicht gibt.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass in der »Spiegel«-Serie frühere große Schläge des MfS zum Teil beschrieben werden, in einigen Fällen sogar sehr ausführlich, während die vom MfS in der jüngeren Zeit (Zeitraum nach dem 13.8.1961) gegen den BND geführten Schläge, die zugleich von der erhöhten Aktivität des BND gegen die DDR zeugen, überhaupt nicht erwähnt wurden.
In großer Breite und Ausführlichkeit wird in der Artikelserie gezielt die Tätigkeit des BND unter Leitung Gehlens abgewertet.
Der alten BND-Führung, besonders Gehlen bzw. dem Leitungsstil und den Führungsmethoden Gehlens, wird angelastet, dass der BND nicht auf der Höhe der Aufgaben und nicht erfolgreich genug sei, zu große Schlappen erlitten und sich zu viele »Patzer« geleistet habe. Als ein Hauptmangel wird das Fehlen effektiver Spionagestützpunkte des BND in politischen Führungszentren der DDR herausgestellt.
In den direkt gegen Gehlen gerichteten Vorwürfen geht es bis zu solchen Formulierungen wie »Günstlingssystem«, »Gehlen-Orden«, »Vetternwirtschaft«, »Inzucht«, »Misswirtschaft« usw.; Gehlen habe durch seine Führungs- und Personalpolitik zum »Niedergang seines Apparates« beigetragen.
In der Artikelserie kam mehrmals indirekt zum Ausdruck, dass – wie bereits angedeutet – der alte Mythos um den BND und Gehlen überwunden und damit eines der Hindernisse beseitigt werden müsse, das den Veränderungen im BND im Sinne der gegenwärtigen Linie und Politik noch im Wege stehe.
Die in früheren Jahren unternommenen Anstrengungen zur »Reformierung« des BND (1957, 1963, 1967/68) werden so dargestellt, dass sie nicht zu den erstrebenswerten Ergebnissen geführt hätten und dass weniger eine Erhöhung der Leistungsfähigkeit des BND, sondern mehr eine Verschärfung der Personalsituation herausgekommen sei.
Unter dem Gesichtspunkt, dass die sogenannte BND-Misere bewusst hochgespielt und vom »Spiegel« zugleich eine »objektive« Darstellung vorzutäuschen versucht wird (einschließlich der Wiedergabe von Auffassungen verschiedener Interessengruppen im BND), sind auch zahlreiche in der Artikelserie widersprüchlich erscheinende Darstellungen zu sehen.
Von zahlreichen solchen Darstellungen werden nachstehend nur einige wesentliche Beispiele zur Verdeutlichung dieser Feststellung angeführt.
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Einerseits wird Kritik an den Reformbestrebungen Ehmkes und der neuen BND-Führung geübt, andererseits wird die Notwendigkeit dieser Reformen unterstrichen und begründet.
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Einerseits wird das »Versagen« des BND breit dargelegt, andererseits werden seine Nützlichkeit und Erfolge in Vergangenheit und Gegenwart herausgestellt (»nützliches Instrument bundesdeutscher Politik«).
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Der Darlegung der Erfolge der sogenannten Schnüffelei nach innen (BND besser als Verfassungsschutz) steht gegenüber, dass das angebliche Aufheben der »Inlandaufklärung« durch den BND begrüßt wird.
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Einerseits wird der »Realitätssinn« Gehlens hervorgehoben, den er schon als Chef von »Fremde Heere Ost«25 und auch nach 1945 bewiesen habe; andererseits wird herausgestellt, dass er »starrsinnig« und neuen Gesichtspunkten gegenüber verschlossen gewesen sei.
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Den ausführlichen Darlegungen der »Gegnerschaft« Gehlens zu Hitler und zur SS stehen breite Schilderungen seines engen Zusammenwirkens mit der SS und Gestapo-Leuten, von denen er viele als »Experten« in die ehemalige Organisation Gehlen und anschließend in den BND übernommen hat, entgegen.
Ausgehend von den Erkenntnissen und Erfahrungen des MfS ist grundsätzlich festzustellen, dass die in der Artikelserie bewusst hochgespielten, die »innere Situation« im BND angeblich charakterisierenden Merkmale aus unserer Sicht nicht zu derart für den BND nachteiligen Auswirkungen geführt haben, wie das darzustellen versucht wurde. Davon zeugen u. a., dass der BND große Anstrengungen zur Forcierung der Spionage und zur Erhöhung ihrer Effektivität unternommen hat, immer raffiniertere Mittel und Methoden anwandte und die Spionage und andere subversive Tätigkeit relativ straff organisiert hat.
Bemerkungen zu den erhobenen Forderungen nach Reformierung des BND
Die gesamte Artikelserie und besonders die inhaltliche Gestaltung der letzten Fortsetzungen ist bewusst darauf angelegt, um am Ende die Forderung nach einer »grundlegenden Reform des Geheimdienstes« und die dazu angeführten konkreten Vorstellungen als »folgerichtig und notwendig« erscheinen zu lassen.
Zu den konkret genannten »Reform«-Vorstellungen und -Forderungen ist grundsätzlich zu bemerken, dass es sich im Wesentlichen um solche handelt, wie sie von Ehmke und Wessel bereits eingeleitet wurden bzw. um die sie bemüht sind. Dabei ist zu sehen, dass nicht alle Vorstellungen und Forderungen genannt sind, sondern nur solche, die veröffentlicht werden können oder zum Teil schon bekannt sind.
Das gilt besonders auch für die einen gewissen Ausgangspunkt darstellende Forderung Ehmkes, die Spionage besonders gegen die DDR zu verstärken, in politische Führungszentren der DDR einzudringen (vor allem ZK der SED und Regierung), mehr über Interna der sozialistischen Länder zu erfahren, sowie die von ihm dafür gegebene »Begründung«, dass dies ein Erfordernis der »Ostpolitik« der Bundesregierung sei.
Als Kernpunkte der »Reform« des BND (die nachstehend im Zusammenhang mit einigen aus anderen Publikationen und Erklärungen bekannten Fakten genannt werden) werden vom »Spiegel« hervorgehoben:
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Bei der Organisierung der Spionage sollen »klare Schwerpunkte« gebildet und eine bessere Konzentration auf »geographische Schwerpunkte« erreicht werden (erster und wichtigster Schwerpunkt ist die DDR).
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Es soll eine wirksamere, effektivere Nachrichtenbeschaffung aus »geheimen Quellen« erreicht und die Auswertung sogenannten offenen Materials soll in der Hauptsache auf solches für Vergleichszwecke beschränkt bleiben. Das soll mit einer Verbesserung des Systems zur Bewertung der Informationen verbunden werden.
Außerdem wird in diesem Zusammenhang das Zusammen wirken und die Arbeitsteilung mit dem Bonner Auswärtigen Amt bzw. den Bonner Auslandsvertretungen hervorgehoben. Die nach wie vor starke Orientierung des BND auf die Anwendung der Methode der Abschöpfung wird im »Spiegel« nicht mit erwähnt.
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Die Auswertung »offener Quellen bzw. Materialien« soll verstärkt auf andere Institutionen verlagert werden. Hier ergibt sich der Zusammenhang zu der schon seit längerer Zeit bekannten Tatsache, dass der BND in allen wichtigen Institutionen verankert ist und deren Möglichkeiten umfassend nutzt.
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Die Werbung für den BND soll verstärkt und mit einer Verbesserung der Besoldungsstruktur, dem Einsatz hochentwickelter Technik usw. verbunden werden. Es gehe um die Stärkung des politischen und ökonomischen Sektors im BND u. a. durch den Einsatz entsprechend qualifizierter Fachkräfte.
(Es kann die Absicht sein, durch die mehrfache Kritik am einseitigen Denken von BND-Mitarbeitern in militärischen Kategorien und durch das Nichterwähnen des sogenannten militärischen Sektors von der vom BND ebenfalls forcierten Militärspionage abzulenken.)
4. Zum Neuigkeitswert der veröffentlichten Fakten
Der Neuigkeitswert der veröffentlichten Fakten speziell für Zwecke der politisch-operativen Arbeit ist nur gering. Es kann eingeschätzt werden, dass mit der Veröffentlichung wesentliche Sicherheitsinteressen (im Bonner Sinne) nicht verletzt wurden.
Die Angaben des »Spiegel« sind dem MfS größtenteils bekannt. Nicht bekannt waren einige Details zur personellen Situation, aus der Tätigkeit einzelner Mitarbeiter sowie einige Angaben zu wenigen organisatorischen und strukturellen Fragen, die jedoch nicht mehr von aktueller Bedeutung sind.
Da in der Schilderung eines Teils der Beispiele nur allgemeine Angaben und Hinweise enthalten sind, ist eine Identifizierung der jeweils infrage kommenden Personen nicht möglich.
Viele in der Artikelserie genannte Fakten sind für das MfS größtenteils nur noch von historischer Bedeutung. Das gilt beispielsweise für die ausgeschmückte Schilderung der Vorgänge um Felfe26 und Geyer,27 der Schläge des MfS gegen BND-Filialen und Untervertretungen und vieles andere mehr. Bei angeführten Klarnamen handelt es sich um solche, die dem MfS bekannt sind bzw. von denen der Gegner dies annimmt. In der Artikelserie ist zahlreiches authentisches Material verwandt (gilt für zitierte Unterlagen wie für Beispiele); es wird jedoch über eine bestimmte Grenze nicht hinausgegangen.
Hinsichtlich des Neuigkeitswertes der veröffentlichten Fakten für die westdeutschen Leser lag es offensichtlich im Interesse der Initiatoren der Veröffentlichung, durch die »Enthüllung« überholter Praktiken im Vorgehen vor allem gegen die DDR und nach innen und durch das Aufzeigen von »weniger gefährlichen« Formen und Methoden des Kampfes mehr Verständnis für die Linie der SPD/FDP-Regierung zu gewinnen und die »Nützlichkeit« eines »reformierten« BND zu suggerieren.
Vor allem unter diesem Gesichtspunkt dürfte die »Enthüllung« beispielsweise
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der alten Praktiken des kalten Krieges vor allem gegen die DDR,
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des Wirkens faschistischer Kräfte im BND,
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der vom BND begangenen Gesetzwidrigkeiten (»Inlandsaufträge«, Spitzeltätigkeit nach innen) usw.
zu sehen sein.
Aber auch hier ist festzustellen, dass solche »enthüllenden« Fakten wohldosiert veröffentlicht wurden und dass damit gleichzeitig Ablenkungsmanöver und Versuche zur Rechtfertigung der Bonner Haltung gegenüber der DDR und anderen sozialistischen Staaten verbunden sind.
5. Erkenntnisse und Schlussfolgerungen für die politisch-operative Arbeit des MfS
Es muss damit gerechnet werden, dass die sogenannte Reformierung des BND beschleunigt weitergeführt wird, vor allem mit dem Ziel, die Spionage besonders gegen die DDR effektiver zu gestalten.
Die geplante stärkere Konzentration der Kräfte und Mittel des BND auf die Spionage und andere subversive Tätigkeit gegen die DDR, besonders die teilsweise schon sichtbar gewordenen Bestrebungen zur Schaffung von »Spitzenquellen« in politischen und ökonomischen Zentren der DDR, zeugen von der wachsenden Gefährlichkeit des BND.
In diesem Zusammenhang erscheint auch die bereits genannte interne Information (HV A, vertrauenswürdige Quelle) glaubhaft, derzufolge ein BND-Mitarbeiter erklärte, dass die Bundesregierung, besonders Ehmke, unverändert die weitere Steigerung der BND-Effektivität verlange. Nach wie vor rangiere die DDR an der Spitze der Informationswünsche, danach die UdSSR, andere sozialistische Staaten und der Nahe Osten. Ehmke dränge immer wieder darauf, nur »Berufsagenten« einzusetzen, die »fachliche Könner« und in der Lage sind, »erstrangige Quellen« im Partei- und Staatsapparat des betreffenden Landes zu erschließen.
Wie der BND-Mitarbeiter weiter erklärte, würden beim BND die Möglichkeiten geprüft, jüngere Kaufleute, Techniker usw. hauptamtlich in den BND zu übernehmen und als »Firmen-beauftragte« in die DDR und andere sozialistische Länder zu schicken. »Befreundete Firmen« würden diese Leute pro forma einstellen und »gegenüber dem Osten legitimieren«.
(BND hat schon in der zurückliegenden Zeit auf dieser Ebene gearbeitet. Offensichtlich geht es mehr um eine verstärkte Anwendung dieser Methode.)
Wie der BND-Mitarbeiter erklärte, hätten die sogenanten Berufsagenten die Aufgabe, erstrangige Quellen besonders in großen Werken, Außenhandelsunternehmen und in Ministerien aufzuspüren, entsprechend abzuschöpfen und – als nächsten Schritt – sie fest anzuwerben. Besonderes Augenmerk würde der BND dabei auf solche »hochstehenden« DDR-Funktionäre richten, die Blockparteien angehören. Interesse gelte auch den SED-Mitgliedern, die schon offen Kritik geäußert haben bzw. mit der Partei »in Konflikt geraten« seien.
Der BND könne auch auf die »Inlands-Erkundung« nicht verzichten, da sich daraus interessante Einzelheiten für den »Auslandsdienst« ergeben könnten, besonders hinsichtlich der Ostkontakte bestimmter Personen (Beobachtung in »Koordination« mit MAD und Verfassungsschutz).
Es erweist sich als notwendig, alle Maßnahmen des BND zur Erhöhung seiner Wirksamkeit besonders gründlich aufzuklären und zu analysieren, vor allem auch hinsichtlich der Bestrebungen zur Erschließung von Spitzenquellen, ihrer Abschöpfung und Werbung, und die vorbeugende Arbeit noch zielstrebiger zu gestalten. In Weiterführung des Führungsseminars sollten die sich ergebenden neuen Gesichtspunkte der gegnerischen Geheimdiensttätigkeit mit herausgearbeitet werden.
(Diese Ausarbeitung entstand in Auswertung der »Spiegel«-Serie »Pullach intern«, in einigen Passagen im Vergleich mit anderen Veröffentlichungen, unter Berücksichtigung interner Hinweise (Informationen der HV A) und von Erkenntnissen der HA II/7 sowie in Zusammenarbeit mit Genossen der HA II/7.)