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Bericht über Grenzzwischenfall (Werner Kühl und Bernd Langer)

29. Juli 1971
Information Nr. 744a/71 über die Grenzprovokation in Berlin-Johannisthal am 24. Juli 1971

[Faksimile von Blatt 6]

Am 24. Juli 1971, gegen 22.40 Uhr, drangen Kühl, Werner,1 geboren am 10.2.1949 in Berlin, polizeilich gemeldet in Westberlin 21 (Tiergarten), [Straße, Nr.], und Langer, Bernd,2 geboren am [Tag, Monat] 1948 in Berlin, polizeilich gemeldet in Westberlin 62 (Schöneberg), [Straße, Nr.], von Westberlin kommend in Berlin-Johannisthal in Höhe der Britzer Allee in die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik ein. Sie überwanden einen Streckmetallzaun, Drahtsperren und den Panzergraben.3 Beide wurden von zwei in der Nähe weilenden DDR-Bürgern bemerkt, die die Angehörigen der NVA-Grenze informierten. Durch zwei Postenpaare der NVA-Grenze wurde das weitere Eindringen der beiden Personen in die Hauptstadt der DDR bzw. deren beabsichtigte Rückkehr nach Westberlin nach ihrer Entdeckung unter Anwendung von Schusswaffen verhindert.

Kühl wurde durch einen Brustschuss tödlich verletzt und Langer erlitt unkomplizierte Schussverletzungen am linken Arm und am linken Oberschenkel.4

Die Bergung der Grenzverletzer, die durch Angehörige der NVA, zwei Funkstreifenwagen und durch einen Rettungswagen der Feuerwehr erfolgte, wurde von Westberliner Seite durch Polizeiangehörige, Zöllner und Zivilisten beobachtet. Um 0.50 Uhr wurden durch einen Aufnahmewagen des Westfernsehens mit Infrarot-Kamera Filmaufnahmen und von weiteren Zivilisten Fotoaufnahmen vom dortigen Grenzgebiet angefertigt.

Die Leiche des Kühl wurde zum Gerichtsmedizinischen Institut Berlin übergeführt, wo am 25.7.1971 deren Sektion erfolgte.5

Gegen Langer wurde durch die Untersuchungsabteilung der Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin am 24.7.1971 ein Ermittlungsverfahren wegen ungesetzlichen Grenzübertritts nach § 213 (1) (2) Ziffer 3 StGB6 eingeleitet und am 26. Juli 1971 Haftbefehl erlassen. Er befindet sich zurzeit im Haftkrankenhaus.

Die bisher durchgeführten Untersuchungen ergaben:

Die Eltern des Werner Kühl sind die Westberliner Bürger [Name 1, Vorname 1], geboren am [Tag, Monat] 1919 in Berlin, Beruf: Verwaltungsangestellter,7 und [Name 1, Geburtsname, Vorname 2].

Nach den vorgefundenen Unterlagen war Werner Kühl

  • vom 2.4.1964 bis 16.2.1966 bei der Fa. Encke OHG, Gartengestaltung Berlin-Steglitz, Brentanostraße 54

  • vom 21.2.1966 bis 5.3.1966 bei der Bilka GmbH, Berlin 30

  • vom 22.3.1966 bis 10.2.1969 beim Bezirksamt Berlin-Schöneberg

    (wegen unentschuldigten Fehlens vom 12.2.1968 bis 29.2.1968 wurde ihm am 29.2.1968 vom Bezirksamt Schöneberg eine fristlose Entlassung ausgesprochen)

  • vom 8.6.1971 bis 11.6.1971 und

  • vom 21.6.1971 bis 25.6.1971 bei der Fa. Karl Caspari, Garten- und Landschaftsbau, Berlin 45, Ringstraße 67 b

tätig.

Nach den Aussagen des Langer lernte er Kühl in Berlin-Neukölln zufällig auf einer Straße kennen. Beide freundeten sich miteinander an, verbrachten ihre Freizeit durch gemeinsame Parkspaziergänge sowie den Besuch von Kinoveranstaltungen und Freibädern. Langer sagt aus, dass er gemeinsam mit Werner Kühl seit ungefähr vier Wochen als Transportarbeiter bei einer Möbelspeditionsfirma Tiefenbau Valentin in Westberlin8 arbeitete und mit ihm in der Pension »Heltzel« in Berlin 41, Bundesallee 137, wohnte.

Der Beschuldigte Langer ist das Kind des [Name 2, Vorname 1], geboren am [Tag, Monat] 1925, und der [Name 3, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1930.

Er arbeitet als Vermesser beim Senat für Bau- und Wohnungswesen in Westberlin und ist in Berlin 62 (Schöneberg), [Straße, Nr.], wohnhaft. [Name 2] gehört keinen Parteien und Massenorganisationen an und beteiligt sich nicht am gesellschaftspolitischen Leben.

[Vorname 2, Name 2] ist als Köchin im Städtischen Kindergarten in Westberlin (Schöneberg), [Straße], tätig.

Aus der Ehe gingen gleichfalls zwei Kinder hervor.

Die in der DDR lebenden Verwandten der beiden Grenzprovokateure (u. a. die [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben] sowie die Großmutter des Bernd Langer) spielen im vorliegenden Vorgang eine unwesentliche Rolle und können zur Tataufhellung ungenügend beitragen, da sie eher gegen uns als für uns sprechen würden bzw. in hohem Alter und krank sind.9

Da seine Großmutter [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben] die weitere Betreuung von Bernd Langer nicht mehr übernehmen konnte, erfolgte am 21.12.1966 mit Zustimmung der staatlichen Dienststellen der DDR die Übersiedlung des Beschuldigten zu seinem Vater nach Westberlin.10

[Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben]

Er sagt aus, dass er nach seiner Übersiedlung nach Westberlin zunächst eine Tätigkeit als Gärtner beim Gartenamt des Westberliner Senats aufgenommen habe und danach [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben]

Zur Durchführung des Grenzdurchbruchs sagt Langer aus, dass er mit Kühl am 19.7.1971 nach Feierabend die Freizeit im Volkspark Schöneberg im Beisein einer ihm unter »Kalle« bekannt gewordenen gleichaltrigen männlichen Person, bei der es sich um einen Schwerbeschädigten handelt, verbrachte. Bei diesen Zusammenkünften habe Kühl erstmals geäußert, Westberlin zu verlassen und in der Hauptstadt der DDR lebende Verwandte aufzusuchen. Langer und »Kalle« schlossen sich dem Vorhaben an, ohne zunächst nähere Einzelheiten über die Realisierung zu beraten.11

Bei seinem Entschluss ließ sich Langer davon leiten, dass er wieder in die DDR zu seiner Großmutter zurückkehren wollte, bei der er bis zu seiner Übersiedlung nach Westberlin aufwuchs.

Am 21.7.1971 kam Langer nach seinen Aussagen auf der Arbeitsstelle mit Kühl auf die Durchführung der Rückkehr in die DDR zu sprechen und Kühl unterbreitete ihm den Vorschlag, die Staatsgrenze in der Nähe einer Brücke am Britzer Zweigkanal zu überwinden.

Langer machte dem Kühl mehrfach den Vorschlag, sich zur Grenzübergangsstelle Sonnenallee oder Friedrichstraße zu begeben, um bei den Organen der DDR ihre Aufnahme in die DDR zu erwirken.

Kühl lehnte diese Vorschläge von Langer konsequent ab. Er überredete Langer, mit ihm gemeinsam in Höhe der Brücke Britzer Allee nach Einbruch der Dunkelheit einen Grenzdurchbruch durchzuführen. Diesem Vorschlag schloss sich Langer schließlich an, da er nach seinen Angaben nicht über die Absicherung der Staatsgrenze informiert war.

Als Langer und Kühl am Mittag des 24.7.1971 erneut im Volkspark Schöneberg mit »Kalle« zusammentrafen, informierte Kühl diesen darüber, dass er und Langer an diesem Tage ihr Vorhaben realisieren werden, ohne »Kalle« nähere Einzelheiten über den Tatort mitzuteilen. »Kalle« äußerte erneut seine Absicht zur Teilnahme, trennte sich jedoch von Langer und Kühl mit der Bemerkung, zunächst einen Bruder am Innsbrucker Platz aufsuchen zu wollen und erschien nicht wieder bei den vorgenannten Personen.12

Langer und Kühl fuhren am 24.7.1971, gegen 15.00 Uhr, vom Bahnhof Schöneberg mit der S-Bahn bis Sonnenallee, begaben sich zum Britzer Zweigkanal bis zu einem Laubengelände in der Nähe der Brücke Britzer Allee, wo sie sich bis zum Einbruch der Dunkelheit am Kanalufer auf zwei von ihnen mitgeführten Decken schlafen legten.

Etwa gegen 22.40 Uhr begann Kühl, gefolgt von Langer, die Grenzsicherungsanlagen von Westberlin in Richtung Hauptstadt der DDR zu überwinden, indem er als erster den Streckmetallzaun überstieg.

Bei der Durchführung der Grenzprovokation führten Kühl und Langer ihre Westberliner Personalausweise und in zwei Wolldecken verpackt, Waschpulver, Malzkaffee, Bekleidungsstücke und verschiedene andere Gegenstände bei sich. Sie waren nicht im Besitz von Bargeld.13

Die westdeutsche und Westberliner Presse, insbesondere die Springerpresse, putscht die Öffentlichkeit auf und behauptet unter großen Schlagzeilen, wie »Todesschüsse an der Mauer«,14 »Der 153. Mord an der Mauer«,15 dass drei DDR-Bürger angesichts der Verhältnisse in der DDR gezwungen waren, auf dem Wege des Grenzdurchbruchs die DDR zu verlassen, von Grenzposten niedergeschossen und zu Tode gehetzt wurden, weil sie den »Unrechtsstaat« verlassen wollten.

Am 26.7.1971 wurde am Tatort auf Westberliner Seite durch das »Studio am Stacheldraht«16 und die sogenannte »Arbeitsgemeinschaft 13. August«17 ein Hetzplakat mit der Aufschrift »Miteinander reden – nicht aufeinander schießen« und ein Holzkreuz mit der Aufschrift, dass ein unbekannter DDR-Flüchtling niedergeschossen worden sei, errichtet.

Am 26.7.1971 wurde zur Abwehr der auf Lügen aufgebauten Hetzkampagne eine Meldung über ADN verbreitet, in der informiert wird, dass in der Nacht zum Sonntag von Westberlin aus eine schwere Grenzprovokation verübt wurde und zwei Westberliner – ohne sie namentlich zu nennen – die Staatsgrenze der DDR von Westberlin-Neukölln aus durchbrechen wollten. Es wurde dazu weiter mitgeteilt, dass bei der Abwehr der Provokation die beiden Provokateure verletzt worden sind, und hervorgehoben, dass insbesondere die Westberliner Springerpresse Lügen-Berichte veröffentlicht, um in Westberlin die Stimmung gegen jede Entspannungs- und Verhandlungsbereitschaft anzuheizen.18

Obwohl die Westpresse so die Möglichkeit hatte, die Wahrheit zu verbreiten, wurden auch am 27.7.1971 weiterhin die alten wahrheitswidrigen Behauptungen wiederholt und darüber hinaus erklärt, die DDR verdrehe den Sachverhalt und die ADN-Meldung sei eine Lüge.

Zum gleichen Zeitpunkt aber – also unmittelbar nach der Verbreitung der ADN-Meldung – wurden durch die Westberliner Polizeidienststellen alle Augenzeugen aus den Reihen der Polizei- und Zollangehörigen nochmals über den Hergang vernommen, um aus deren Schilderungen eventuell eine Bestätigung der ADN-Meldung zu erhalten. Die nochmalige Befragung hatte auch zum Ziel herauszubekommen, wer welche Erkenntnisse aus dem Polizeidienst an welche Zeitung gegeben hatte. Im Ergebnis der Befragungen wurde allen Polizei- und Zollangehörigen verboten, weitere Auskünfte an die Westberliner Presse zu geben.

Am 28.7.1971 wird die westliche Hetze merklich geringer, da sich offensichtlich die Erkenntnis durchsetzt, an der Meldung der DDR könnte – wie eine Zeitung schrieb – »ein Körnchen Wahrheit« sein.19

Davon zeugen auch folgende Vorgänge:

Das Westberliner Kriminalkommissariat in Westberlin-Kreuzberg fordert fernschriftlich die Namen und Adressen der Westberliner Grenzverletzer. Darüber hinaus bitten die Westberliner Polizeidienststellen um Mitfahndung und Identifizierung einer in der Nähe des Provokationsortes auf Westberliner Boden gefundenen Einkaufstasche. Ferner werden in Westberlin Maßnahmen eingeleitet und alle akuten Vermisstenfälle überprüft.

Die Westberliner Mittagszeitung »Der Abend« vom gleichen Tag charakterisiert die Situation, in der sich die Urheber der provokatorischen Hetzkampagne befinden:

»Als Fazit bleibt aber schon jetzt ein erschreckendes Maß politischer Unbeholfenheit gegen einschlägige Ost-Berliner Argumentationen. Es war ohnehin riskant, dass man sich beim Senat nicht bis ins letzte Detail über die Hintergründe des Zwischenfalls informierte, ehe man die ersten öffentlichen Verlautbarungen von sich gab. Sollte es sich tatsächlich, wie es von DDR-Seite dargestellt wird – um West-Berliner gehandelt haben, dann hat man der SED kostenlos ›Feuerwerk‹ für ihre Feiern zum ›Friedenswall-Jubiläum‹ geliefert. Dilettantischer hätten sich auch Neulinge auf dem politischen Parkett kaum bewegen können.«20

Inzwischen gab es Nachfragen westlicher Redaktionen (»Spiegel«, »Konkret« u. a.) und anderer Stellen, die als erste die Namen und Adressen erfahren wollten.

Schlussfolgerungen:

Aus der Information geht hervor, dass sich die beiden Grenzverletzer nicht sehr gut eignen, öffentlich als Provokateure dargestellt zu werden.21 Hinzu kommt, dass sie Hintermänner, hinter denen Geheimdienste und Agentenzentralen stehen, mit größter Wahrscheinlichkeit nicht gehabt haben, zumindest haben die Ermittlungen bis jetzt die konkreten Beweise dafür nicht erbracht.

Es ist und kann unwiderlegbar nachgewiesen werden, was wir in unserer Meldung vom 26.7.197122 gesagt haben, dass es sich wieder einmal um eine von Westberlin ausgehende schwere Grenzprovokation und um Westberliner Provokateure handelt.

Bei unserem weiteren Vorgehen ist jetzt zu beachten, dass einer der Grenzverletzer, Kühl, der zurechnungsfähigere von beiden, tot und der andere, Langer, sich verletzt in Haft befindet.

Weitere Beweise, die sich auf seine Aussagen stützen, sind in Anbetracht seines Geisteszustandes nicht von großem Wert. Langer kann zwar wegen der Grenzverletzung abgeurteilt werden, wird aber als Motiv angeben, dass er zu seinen Verwandten in die DDR wollte. Als nur bedingt zurechnungsfähig wird er in eine Anstalt eingewiesen werden können, aber hier auch nicht ständig festzuhalten sein, da sein Zustand keinen Grad der Gemeingefährlichkeit aufweist.

Nach baldiger Entlassung und eventuelle Rückkehr nach Westberlin ist zu erwarten, dass er dort Angaben macht, die im Sinne der Hetze gegen die DDR verwendet werden können. Zumal wissen wir nicht, ob Kühl ebenso wie Langer geistesgestört war. Es kann unsererseits das Argument entgegengesetzt werden, dass der Gegner solche Menschen zur Provokation missbraucht und ausnutzt und sie ebenso kaltblütig opfert. Dieses Argument hätte jedoch nur eine zeitlich begrenzte Wirkung. Der Gegner hingegen wird mit der Parole antworten, auch solche Fälle würde es nicht geben, wenn es die Grenze nicht gäbe.

Es wird vorgeschlagen:23

  • 1.

    In einer Publikation soll nachgewiesen werden,

    • dass es sich bei den Grenzverletzern um zwei Westberliner handelt (dabei volle Namen mit Adressen nennen) und dass sich die Maßnahmen der Grenzsicherungskräfte der DDR zur entschlossenen Abwehr der Provokation angesichts der Tat und des Verhaltens der Provokateure notwendig machten.

    • dass der Senat gar nicht erst versucht hat, den Sachverhalt zu überprüfen, sondern ohne jede Sachlichkeit sofort Lügen verbreitete und bis zuletzt – auch als bereits die Wahrheit durch die DDR bekannt wurde – die unwahren Behauptungen aufrechterhielt.

Es könnten weiter folgende Tatsachen herangezogen werden:

  • der zeitliche Zusammenhang der Tat kurz vor dem 13. August;

  • es können vorliegende westliche Pressemeldungen als Beweis angeführt werden, wonach für den 10. Jahrestag des 13. August eine Reihe Störaktionen, Grenzprovokationen (mit Waffen, Angriffe auf Grenzsicherungskräfte der DDR, Verschleppungen) geplant sind.24

AP 15. Juli 1971:

»In Berlin umlaufende Gerüchte wollen von Plänen wissen, wonach Rechtsradikale, vornehmlich aus Kreisen des Bundes Heimattreuer Jugend (BHJ)25 am 13. August, dem 10. Jahrestag der Mauer, Anschläge gegen die Grenzeinrichtungen der DDR planen.

Wie ein Sprecher der Politischen Abteilung der Berliner Kriminalpolizei auf Anfrage bestätigte, ist aufgrund von Hinweisen auf Gasthausgespräche zunächst bekannt geworden, dass ein Wachturm an der Frohnauer Zonengrenze beschossen werden solle. Näheres sei nicht mitgeteilt worden.

Wie bereits gemeldet, laufen gegen vier Männer, die dem genannten Bund nahestehen, Ermittlungen unter dem Verdacht, in der Nacht zum 17. Juni auf Grenzbeleuchtungsanlagen im Norden Berlins mehrere Schüsse abgegeben zu haben.

Bei einer überraschenden Wohnungsdurchsuchung der Verdächtigen waren Feuer- und andere Waffen sowie Tarnanzüge und weitere Ausrüstungsgegenstände gefunden worden.

Über den Stand dieser Ermittlungen war am Donnerstag nichts Näheres zu erfahren.«26

Süddeutsche Zeitung – 16. Juli 1971:

»Berlin (UPI). Rechtsradikale wollten auf DDR-Wachtposten an der Westberliner Zonengrenze schießen. Vom Geschäftshaus Europa-Center an der Gedächtniskirche sollte eine Fahne mit dem »W« der Aktion ›Widerstand‹27 flattern. Ein ›Linker‹ sollte über die Mauer in die Ostsektoren geworfen werden. So stellten sich Westberliner Rechtsradikale nach Angaben der Polizei den 13. August 1971, den zehnten Jahrestag des Baus der Berliner Mauer vor.

Ein Sprecher der Politischen Abteilung der Westberliner Polizei bestätigte am Donnerstag, dass Rechtsradikale, vornehmlich vom Bund Heimattreuer Jugend (BHJ), in ›Wirtshausgesprächen‹ entsprechende Pläne erörtert hätten …«28

Der Stand der Untersuchungen ermöglicht es weiter mitzuteilen:

Es dürfte für die Westberliner Polizei, die von Anfang an von drei Personen gesprochen hatte, nicht schwer sein, diese dritte beteiligte Person festzustellen und die hinter ihr stehenden Auftraggeber herauszubekommen. Den Aussagen des Langer zufolge waren nach dem ursprünglichen Plan drei Personen vorgesehen. Offensichtlich handelt es sich dabei um den in letzter Minute zurückgebliebenen Anstifter der schweren Grenzprovokation.

Es zeugt von der systematischen Planung des verbrecherischen Vorhabens, dass unmittelbar nach den ersten Handlungen – der Überwindung der Grenzsicherungsanlagen – die Westberliner Polizei, Presse, Rundfunk und Fernsehen am Ort der Provokation auf Westberliner Seite waren und den genauen Hergang beobachteten, um dieses Material für die weltweite Hetze zu benutzen.

Bei dem Tathergang handelt es sich nicht um einen Einzelfall. Bei ähnlichen Vorfällen in der Vergangenheit waren Polizei, Presse und Fernsehen vorher da, um sich für die Hetze gegen die DDR nichts entgehen zu lassen und auch, weil sie Ort und Zeit der Provokationen vorher kannten.

Die Hervorhebung der besonderen Verwerflichkeit des Planes, dass Kühl und seine Mitwisser den schwachsinnigen Langer zur Durchführung der Grenzprovokation ausnutzten, wobei sich bei Kühl ebenfalls um einen leicht beeinflussbaren Menschen handelt, der von gewissenlosen Hintermännern missbraucht wurde.29

Einer der Täter ist seinen Verletzungen, die er bei der Provokation erlitten hat, erlegen; der andere ist leicht verletzt und befindet sich in ärztlicher Behandlung. Angesichts seines Geisteszustandes wird der Verletzte in ärztlicher Fürsorge gehalten.

Die Eltern und Angehörigen der beiden Täter zur neuen Hetze gegen die DDR zu missbrauchen, ist nicht sehr wirksam, da beide seit langem für sich alleine leben und mit#tab ihren Angehörigen keinen oder nur losen Kontakt haben.30

Der Generalstaatsanwalt der DDR behält sich vor, nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens gegen die Urheber der Grenzprovokation entsprechende Maßnahmen einzuleiten.

2. Staatssekretär Kohl31 könnte bei seinem nächsten Treffen mit Bahr32 an den Wunsch der anderen Seite erinnern, den 13. August so zurückhaltend wie möglich zu begehen und darauf hinweisen, dass sich die Haltung in der BRD und Westberlin keinen Deut geändert habe. Er könnte die Erwartung aussprechen, dass die westliche Seite das Notwendige unternimmt, um entspannungsfeindliche Handlungen zu unterbinden.33

Die DDR lässt sich, weil sie für die Entspannung eintritt, nicht provozieren. Die DDR kann jederzeit den Beweis antreten, dass es sich um eine von westlicher Seite inszenierte Provokation und Provokateure handelt und Senat sowie Westberliner Polizei im Einvernehmen mit Bonn wider besseres Wissen den tatsächlichen Verlauf des Grenzzwischenfalls verdrehen.34

3. Da die Leiche des Grenzverletzers zweifelsfrei identifiziert und die Todesursache gerichtsmedizinisch dokumentiert ist, kann der Generalstaatsanwalt von Groß-Berlin die Freigabe der Leiche zwecks Einäscherung verfügen. Diese Maßnahme ist erforderlich, um einen Missbrauch des Leichnams zu politischen Demonstrationen in Westberlin zu verhindern.

Diese vorgesehene Maßnahme sowie die Verfahrensweise und der Zeitpunkt einer wahrscheinlichen Übergabe der Urne an Angehörige in Westberlin werden in Verbindung mit dem Generalstaatsanwalt von Groß-Berlin und dem Generalstaatsanwalt der DDR rechtlich abgesichert.

4. Das Ermittlungsverfahren gegen Langer wird unter Beachtung der gesetzlichen Möglichkeiten über einen relativ längeren35 Zeitraum bearbeitet. Im Ergebnis des Verfahrens ist vorgesehen, Langer nach Westberlin hinsichtlich einer Unzurechnungsfähigkeit zu begutachten und seine ständige Unterbringung in der Sondereinrichtung des Haftkrankenhauses Waldheim zu veranlassen.36

Zusätzliche Bemerkungen

Am 29.7.1971 (14.00 Uhr) erfolgte ein Anruf von G[enossen] N[orden]37, worin er aufmerksam machte auf den Artikel in der Zeitung »Der Abend«38 und erklärte, dass er in den letzten Tagen besonders die ausländische Presse studiert habe und dabei feststellte, dass mit der Grenzverletzung eine weltweite Hetze betrieben wird (so in der Presse Frankreichs, Italiens und allen großen Zeitungen der kapitalistischen Länder) mit der Behauptung, es wären DDR-Bürger auf der Flucht erschossen worden.

Nach unserer Publikation sei eine plötzliche Stille eingetreten; auch die westlichen Zeitungen erkannten unsere ruhige und zurückhaltende Argumentation und merkten, dass es gegen sie schlägt, wobei die Ahnung vorherrscht, dass wir das letzte Wort haben werden und unsere Erklärung beweisen können und werden.

G[enosse] N[orden] machte den Hinweis an das MfS, nicht zu versäumen, daraus eine »hübsche Sache« zu machen.

Wie G[enosse] N[orden] denkt, würden jetzt viele voller Erwartung auf die Entlarvung der Westberliner Hetzkampagne und der damit inszenierten Provokation des Westens warten.

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    [ohne Datum]
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