Bericht zum Fluchtversuch von Manfred Leisner (I)
24. November 1971
Information Nr. 1124/71 über Ursachen und begünstigende Bedingungen beim Diebstahl von Sprengmitteln, Waffen und VS-Materialien auf dem Minensuch- und -räumschiff (MSR) 331 der 1. Flottille der Volksmarine
Am 29.10.1971 wurde durch das MfS gegen den Stabsmatrosen Leisner, Manfred,1 geboren 19.9.1949 in Cottbus, Beruf: Maschinist, Angehöriger der NVA seit 3.11.1969, wohnhaft Cottbus, [Straße, Nr.] wegen des dringenden Verdachts der Fahnenflucht und terroristischer Handlungen ein Ermittlungsverfahren mit Haft eingeleitet.
Leisner war seit Anfang 1970 fest entschlossen, nach der BRD fahnenflüchtig zu werden und dieses Vorhaben mittels eines gewaltsamen Grenzdurchbruches, unter Anwendung von aus den Beständen der NVA zu beschaffenden Waffen und Sprengmitteln, durchzuführen.
Die bisherigen Untersuchungen durch das MfS ergaben, dass eine Vielzahl von Mängeln und Unzulänglichkeiten auf dem MSR-331 die aktiven Vorbereitungen des Leisner auf die Realisierung des verbrecherischen Vorhabens, insbesondere den Diebstahl von Sprengmitteln, Waffen, Munition und Verschlusssachen, begünstigten.
Bereits Anfang November 1970 verschaffte sich Leisner aus den in einem Munitionszelt des Flottenmunitionslagers Peenemünde eingelagerten Beständen des Munitionskampfsatzes des MSR 331 – fünf Handgranaten RGD-5, zehn Zünder USRGM.
Dabei nutzte er die von ihm mehrfach beobachtete vorschriftswidrige Dienstdurchführung der an diesem Munitionslager eingesetzten Wachposten, die sich bei regnerischem Wetter etwa 200 Meter von dem zu bewachenden Objekt unterstellten, aus, um ungesehen den Stachel- und Maschendrahtzaun des Munitionslagers zu übersteigen und sicher aus einer – entgegen bestehenden Weisungen – unverplombt gelagerten Kiste die Handgranaten und Zünder anzueignen. Während ein Teil der Spreng- und Zündmittel von Leisner in der Folgezeit am Liegeplatz des MSR-331 in das Hafenbecken geworfen wurde, lagerte er fünf Handgranaten und sechs Zünder unter Putzlappen versteckt in der Sperrlast des Schiffes und verbrachte sie später während eines Urlaubes an den Wohnort seiner Großeltern, wo er sie sorgfältig konserviert versteckt lagerte.
Dieser Diebstahl von Spreng- und Zündmitteln wurde am 2.12.1970 während der Aufmunitionierung des MSR-331 festgestellt und konnte erst im Zusammenhang mit den jetzigen Untersuchungen aufgeklärt werden.
Die Untersuchungen dieses Diebstahls durch das MfS führten zur Feststellung einer ganzen Reihe tatbegünstigender Bedingungen, wie z. B.
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mehrere Behältnisse mit Handgranaten und Zündern im Munitionslager Peenemünde wurden entgegen bestehender Weisungen im unverplombten Zustand aufbewahrt;
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lückenhafte Nachweisführung und eine oberflächliche Kontrolltätigkeit im Munitionslager begünstigten die nicht sofortige Feststellung des Diebstahls;
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die von Leisner hinterlassenen Spuren zwischen Stacheldraht- und Maschendrahtzaun wurden von den eingesetzten Wachposten zwar festgestellt, aber keine Meldung erstattet, da wiederholt die Wachposten selbst befehlswidrig in diese Sperrzone eindrangen;
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durch Vernachlässigung der Kontrolltätigkeit der Wachvorgesetzten wurden die Wachvergehen am Munitionslager, besonders das Verlassen der Postenbereiche, nicht festgestellt.
Leisner war – in Kenntnis und unter Ausnutzung der angeführten sowie weiterer Mängel und Unzulänglichkeiten – entschlossen, sich nunmehr auch Schusswaffen aus den Beständen des MRS-331 zu beschaffen, um bei der von ihm geplanten Fahnenflucht gegenüber Fahndungs- und Sicherungskräften bewaffneten Widerstand leisten zu können.
Seinen Erfahrungen zufolge erschien ihm dafür der Tag des alljährlichen Bordfestes am günstigsten, bei dem gewohnheitsgemäß alle Besatzungsmitglieder das Schiff verlassen und die Funktion des Diensthabenden von der Besatzung des Nachbarschiffes übernommen wird.
Zum Zeitpunkt der Festlegung des Bordfestes auf den 23.10.1971 verpackte er die in Vorbereitung auf die Fahnenflucht unberechtigt an Bord befindliche Zivilkleidung (die er in der Sperrlast versteckt aufbewahrt hatte) in seine Reisetasche und nahm an dem in der Gaststätte »Pilsator« in Wolgast stattfindenden Bordfest teil.
Leisner entfernte sich gegen 21.30 Uhr aus der Gaststätte und gelangte gegen 22.00 Uhr unbemerkt an Bord des MSR-331. Begünstigend darauf wirkte die vorschriftswidrige Übertragung der Aufgaben des Diensthabenden auf den Diensthabenden des Nachbarschiffes V-32, der außerdem nur oberflächlich eingewiesen wurde und lediglich um 22.00 Uhr und 24.00 Uhr Kontrollgänge auf dem MSR-331 durchführte.
Diese Situation nutzte Leisner, um sich bis gegen 24.00 Uhr in den Besitz von
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1 MPi »Kalaschnikow«,
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216 MPi-Patronen,
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3 Pistolen »Makarow«,
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174 Pistolen-Patronen,
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3 MPi-Magazinen,
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13 Pistolen-Magazinen,
sowie 4 VS-Dokumenten zu bringen.
Zur Inbesitznahme dieser Waffen, Munition und VS-Dokumente verwandte der Täter den vorschriftswidrig im Geschirrschrank des Offiziersaufenthaltsraumes »versteckt« aufbewahrten Schlüssel für den versiegelten Schlüsselkasten, in dem die Schlüssel für den Pistolenschrank und das Waffenhellegatt2 sowie das zugehörige Petschaft aufbewahrt wurden.
Nach dem durchgeführten Diebstahl der Waffen und Munition petschierte der Täter den Pistolenschrank wieder und brach gewaltsam den VS-Schrank auf, entnahm vier VS-Dokumente, drückte anschließend die Tür zu und petschierte diese ebenfalls. Gegen 24.00 Uhr verließ Leisner unbemerkt das Schiff und anschließend das NVA-Objekt Wolgast durch ein unbewachtes Tor, das – wie er vorher bereits ausprobiert hatte – mit einem in seinem Besitz befindlichen Schlüssel geöffnet werden konnte.
Die Tatbegehung des Leisner wurde besonders durch folgende weitere Mängel und Unzulänglichkeiten auf dem MSR-331 ursächlich begünstigt:
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Nach Rückkehr vom Bordfest am 24.10.1971, gegen 2.00 Uhr, führte der Anwesenheitsoffizier, Leutnant [Name], die vom Kommandanten befohlene Vollzähligkeitskontrolle nicht durch.
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Bis zum 25.10.1971, 7.00 Uhr, war der Mannschaftsbestand des MSR-331 sich selbst überlassen. Während sich der Kommandant und ein weiterer Offizier in Greifswald aufhielten, verließ der befohlene Anwesenheitsoffizier am 24.10.1971 von 19.00 Uhr bis 23.00 Uhr ebenfalls das Schiff. Bis zum 25.10.1971 bestand keine Übersicht und Kontrolle über die Besatzung und deren Aufenthalt.
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Die vom Diensthabenden, Leutnant [Name], bereits am 24.10.1971, 12.00 Uhr, festgestellte Abwesenheit des Leisner wurde von diesem aufgrund der insgesamt fehlenden Übersicht über den Personalbestand nicht beachtet und erst am 25.10.1971, 7.00 Uhr, dem Kommandanten gemeldet.
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Vom 23.10.1971, 7.00 Uhr, bis 25.10.1971, 7.00 Uhr, wurde entgegen bestehender Weisungen die tägliche Kontrolle der Vollzähligkeit der Waffen und Munition nicht durchgeführt. Der am 24.10.1971, gegen 19.30 Uhr, vom Waffenwart festgestellte Siegelbruch am Waffenhellegatt wurde erst am Morgen des 25.10.1971 dem Kommandanten gemeldet.
Aufgrund der fehlerhaften Nachweisführung und der oberflächlichen Vollzähligkeitskontrolle wurden der Diebstahl der 174 Pistolen-Patronen erst am 4.11.1971 und der Diebstahl der VS-Dokumente erst nach Überprüfung diesbezüglicher Aussagen des Leisner bemerkt.
Die aufgezeigten tatbegünstigenden Umstände und Bedingungen bewirkten, dass erst 30 Stunden nach der Tatbegehung die ersten Fahndungsmaßnahmen nach Leisner eingeleitet werden konnten. Damit wurde zugleich den verbrecherischen Handlungen des L. Vorschub geleistet, die er bis zu seiner Festnahme am 29.10.1971 beging, indem er sich mehrmals durch Schusswaffen- und andere Gewaltanwendung dem Ergreifen durch die Fahndungs- und Sicherungskräfte entziehen konnte.
Die Untersuchungen des MfS zur umfassenden Aufklärung der Straftaten des Leisner sowie der Ursachen, Motive und begünstigenden Bedingungen werden fortgeführt.
Es wird empfohlen, die in der Information aufgezeigten Mängel und Unzulänglichkeiten mit den Chefs und Kommandeuren aller Teilstreitkräfte der Nationalen Volksarmee auszuwerten und Maßnahmen zu veranlassen, die zur Erhöhung der Sicherheit im Umgang mit Waffen, Munition, Spreng- und Zündmittel sowie Verschlusssachen führen.