Bericht zum Fluchtversuch von Manfred Leisner (II)
24. November 1971
Information Nr. 1126/71 über Mängel und Unzulänglichkeiten in der Führung und Durchführung der Fahndungsmaßnahmen nach dem Stabsmatrosen Leisner
In der Zeit vom 25.10.1971 bis 29.10.1971 wurden durch die BDVP Cottbus umfangreiche Fahndungsmaßnahmen nach dem Stabsmatrosen Leisner, Manfred,1 geboren 19.9.1949 in Cottbus, Beruf: Maschinist, Angehöriger der NVA seit 3.11.1969, wohnhaft Cottbus, [Straße, Nr.] durchgeführt.
Leisner hatte sich am 23.10.1971, gegen 24.00 Uhr, nach vorherigem Einbruch in die Waffenkammer des Minensuch- und Räumschiffes 331 der 1. Flottille der Volksmarine, unter Mitführung von einer Maschinenpistole, drei Pistolen und der dazugehörigen Munition unerlaubt von seiner Einheit entfernt.
Durch die Vernachlässigung der Kontroll- und Dienstaufsichtspflicht auf dem MSR 331 begünstigt, konnten die ersten Fahndungsmaßnahmen nach L. erst mit 30 Stunden Verzögerung veranlasst und eingeleitet werden.
Leisner beabsichtigte – wie die bisherigen Untersuchungen durch das MfS ergaben – durch einen gewaltsamen Grenzdurchbruch nach Westdeutschland fahnenflüchtig zu werden und dabei die mitgeführten Schusswaffen rücksichtslos gegen Fahndungs- und Grenzsicherungskräfte zur Anwendung zu bringen.
Im Ergebnis der bisherigen Untersuchungen sowie der Unterstützung der Fahndungsarbeit durch das MfS wurde festgestellt, dass im Rahmen der Fahndungshandlungen eine Reihe Mängel und Unzulänglichkeiten auftraten, die offensichtlich auf eine mangelhafte stabsmäßige Fahndungsarbeit des VPKA Cottbus und auf eine ungenügende Einweisung und Instruierung der Fahndungskräfte der Deutschen Volkspolizei bezüglich der zu lösenden Aufgaben zurückzuführen waren.
Diese Feststellungen beziehen sich – ohne die Wirkungsweise und Planmäßigkeit der durch die BDVP Cottbus geleiteten Fahndungsmaßnahmen allumfassend einschätzen zu können – besonders auf folgende Fakten und Vorkommnisse:
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Obwohl seit Auslösung der ersten Fahndungsmaßnahmen durch das VPKA Cottbus am 25.10.1971, gegen 18.00 Uhr, bekannt war, dass die zur Fahndung stehende Person bewaffnet ist, wurde festgestellt, dass zahlreiche Fahndungskräfte der DVP, die erst in der Nacht vom 25. zum 26.10.1971 als Kontrollposten oder gedeckte Posten zum Einsatz gekommen waren, ihren Dienst nachlässig und pflichtwidrig durchführten, indem mehrfach keine Fahrzeugkontrollen durchgeführt und zum Teil längere Gespräche mit weiblichen Personen und Kindern geführt wurden.
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Im Rahmen der aktiven Fahndungsmaßnahmen erhielten die Abschnittsbevollmächtigten [Name 1] und [Name 2] vom Operativen Diensthabenden des VPKA Cottbus am 25.10.1971, gegen 21.00 Uhr, den Auftrag, das in Burg bei Cottbus gelegene Gehöft der Großeltern des Leisner aufzusuchen. Beide trafen in Begleitung von drei freiwilligen Helfern der DVP und ausgerüstet mit Sprechfunkgeräten gegen 22.30 Uhr an diesem Ort ein.
Während [Name 2] die Großeltern des L. befragte, bemerkte [Name 1] beim Ableuchten des zum Gehöft gehörenden Stallgebäudes mittels Taschenlampe in einer offenen Bodenluke den flüchtigen Leisner. Der mündlichen Aufforderung herunterzukommen, leistete L. nicht Folge, sondern lud seine Pistole durch, sprang aus ca. zwei Metern Höhe auf den Hof, gab einen ungezielten Schuss ab und ergriff die Flucht.
Weder [Name 1] noch [Name 2] ergriffen Maßnahmen zur Festnahme oder Verfolgung des Leisner.
Ihren eigenen Angaben zufolge sei eine Verfolgung aufgrund der Dunkelheit aussichtslos gewesen.
Die von [Name 1] und [Name 2] anschließend über Sprechfunk beim VP-Gruppenposten in Burg angeforderte Verstärkung traf nicht ein. Die beiden VP-Angehörigen und die drei VP-Helfer hielten sich noch ca. 30 Minuten am Tatort auf und besetzten anschließend weisungsgemäß die in der Nähe befindliche Straßenkreuzung der Verbindungsstraße Cottbus – Burg – Lübbenau.
Erst 2½ Stunden nach dem vorgenannten Tatgeschehen wurde ein Fährtenhund zum Einsatz gebracht, der die Spur des L. nach wenigen Hundert Metern verlor.
Am 26.10.1971, gegen 17.00 Uhr, wurde in einer Hauptverkehrsstraße in Lübbenau der VP-Meister [Name 3] durch zwei Schüsse lebensgefährlich verletzt.
Aufgrund des dringenden Verdachts, dass es sich bei dem Täter um Leisner handelt, wurde auf Empfehlung des MfS im VP-Revier Lübbenau eine zentrale Fahndungsgruppe der BDVP Cottbus eingesetzt.
Außer der Ermittlung der vermutlichen Fluchtrichtung, die Schlussfolgerungen auf den wahrscheinlichen Aufenthaltsort zuließ, konnten die Kräfte der DVP am Tatort keine auswertbaren Spuren festgestellt werden.
Eine in der Nacht zum 27.10.1971 durch Kräfte des MfS am Tatort vorgenommene Untersuchung führte zur Sicherstellung eines Projektils und zwei Hülsen, deren Überprüfung ergab, dass sie die gleiche Seriennummer aufweisen wie die Munition der NVA-Diensteinheit des Leisner.
Die in der Nacht vom 26. zum 27.10.1971 in der Nähe des Tatortes durchgeführten Suchmaßnahmen führten nicht zur Ergreifung, obwohl durch zwei Zeugen und das Auffinden eines Nylonmantels Hinweise vorlagen, dass sich L. dort aufgehalten haben musste, was durch die spätere Aussage des Leisner bestätigt wurde. An diesem Ort hatte L. auch die Tatwaffe versteckt, um nicht als Täter erkannt zu werden. Einem vom schwerverletzten VP-Meister [Name 3] gegebenen Hinweis, der gewisse Zusammenhänge vermuten ließ, wurde nicht konsequent nachgegangen.
Seitens der DVP bestand völlige Unklarheit über den Tathergang.
Durch die am Vormittag des 27.10.1971 durch das MfS geführten Untersuchungen konnten folgende Zusammenhänge herausgearbeitet werden.
Am 26.10.1971, gegen 17.00 Uhr, war am Kontrollpunkt Zerkwitz bei Lübbenau, der durch die VP-Angehörigen [Name 4], [Name 5], [Name 6], [Name 7] und [Name 8] besetzt war, aus dem Linienbus Lübbenau-Lübben eine männliche Person ausgesetzt worden, die sich nicht legitimieren konnte.
Obwohl den angeführten VP-Angehörigen bekannt war, dass der zur Fahndung stehende Leisner schwer bewaffnet ist und jede sich nicht ausweisende Person als Fahndungsobjekt dringend verdächtig ist, nahmen sie weder eine Durchsuchung dieser Person vor noch handelten sie entsprechend den notwendigen Einsatz- und Sicherheitsprinzipien.
Unter dem Vorwand des Leiters des Kontrollpunktes, VP-Meister [Name 4], nicht zusätzlich zwei Kräfte abstellen zu können, um die verdächtige Person mit einem am Kontrollpunkt vorhandenen Lkw zum VP-Revier Lübbenau zuzuführen, ersuchte dieser den zufällig mit einem Krad eingetroffenen VP-Meister [Name 3], die festgenommene Person auf dem Sozius zum VP-Revier zu fahren. Nach anfänglichem Zögern erklärte sich dieser schließlich dazu bereit.
Während der Fahrt bedrohte die festgenommene Person – bei der es sich um Leisner gehandelt hatte – den VP-Meister [Name 3] und versuchte anschließend zu flüchten. Als [Name 3] bei der Verfolgung stürzte, gab Leisner auf ihn zwei gezielte Schüsse ab, wodurch [Name 3] schwer verletzt wurde.
Die am Kontrollpunkt Zerkwitz eingesetzten VP-Angehörigen unterrichteten weder das VP-Revier Lübbenau von der beabsichtigten Zuführung einer festgenommenen Person noch erkundigten sie sich – selbst dann nicht, als sie von einer Zivilperson erfuhren, dass in Lübbenau ein VP-Angehöriger angeschossen worden ist – danach, ob dieses Vorkommnis mit der von [Name 4] veranlassten vorschriftswidrigen Zuführung stehen kann.
Bei der zeugenhaften Vernehmung dieser VP-Angehörigen durch das MfS am 27.10.1971 konnte dieser Tathergang erstmals überschaubar aufgeklärt werden.
Die VP-Angehörigen vom Kontrollpunkt Zerkwitz sagten aus, dass sie keine Verbindung zwischen der veranlassten Zuführung und der ihnen bekannt gewordenen Schusswaffenanwendung auf einen VP-Angehörigen in Lübbenau erkannt haben wollen und daher keine Meldung erstatteten.
Durch den Chef der BDVP Cottbus wurden gegen die VP-Angehörigen [Name 4], [Name 5], [Name 6], [Name 7] und [Name 8] Disziplinarverfahren eingeleitet.
Es wird empfohlen, die in der Information aufgezeigten Mängel und Unzulänglichkeiten in der Durchführung der Fahndungsmaßnahmen in geeigneter Form auszuwerten.