Fahnenflucht eines Leutnants nach Westberlin
6. Juli 1971
Information Nr. 635/71 über eine Fahnenflucht durch einen Leutnant der Grenztruppen nach Westberlin am 4. Juli 1971
Am 4.7.1971, gegen 3.15 Uhr, wurde der [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1946, wohnhaft Stolpe-Süd, [Straße, Nr.], Abitur, Motorenbauer, Berufssoldat, Absolvent der Offiziersschule »Rosa Luxemburg« der Grenztruppen von 1965 bis 1968, zuletzt Leutnant und Zugführer der 2. Kompanie des Grenzregimentes 38/Hennigsdorf, verwitwet, ein Kind, Mitglied der SED (1968), Mitglied der FDJ (1961), nach Westberlin fahnenflüchtig.
Die bisher durchgeführten Untersuchungen ergaben Folgendes:
[Name 1] begab sich am 3.7.1971, gegen 18.45 Uhr, von seiner Einheit kommend in seine Privatwohnung nach Stolpe-Süd.
Gegen 21.30 Uhr verließ [Name 1] seine Privatwohnung und begab sich in Zivilkleidung in die Clubgaststätte des LEW »Hans Beimler«, wo er bis gegen 1.30 Uhr an einer Tanzveranstaltung teilnahm. Danach begab er sich in leicht angetrunkenem Zustand wieder in seine Wohnung.
Um 3.15 Uhr löste sich im Grenzabschnitt Stolpe-Süd ein Signalgerät aus. Die diensthabenden Grenzposten der NVA, Gefreiter [Name 2], Postenführer; Soldat [Name 3], Posten, beobachteten vom B-Turm1 Haus 6, wie sich in ca. 250 m Entfernung eine männliche Person in schnellen Schritten über den Kontrollstreifen in Richtung Sperrmauer bewegte.
Die Durchbruchstelle ist vom B-Turm aus sehr schlecht einzusehen, sodass sich zum Zeitpunkt der Feststellung der Grenzverletzer schon unmittelbar vor der Sperrmauer befand. Zum Zeitpunkt der Feuereröffnung überkletterte der Grenzverletzer mittels einer mitgeführten Holzleiter bereits die Sperrmauer. Durch den Gefreiten [Name 2] und Soldat [Name 3] wurden mittels MPi insgesamt 20 Schuss auf den Flüchtigen abgegeben, die jedoch ohne Wirkung blieben. Der Grenzverletzer konnte unverletzt das Westberliner Gebiet erreichen.
Die sofort eingeleiteten Untersuchungen ergaben, dass es sich bei dem Grenzverletzer um den [Name 1] handelte.
[Name 1], der nach dem Besuch der Offiziersschule der Grenztruppen in Plauen 1968 zum Unterleutnant ernannt wurde, ist seiner Tätigkeit als Zugführer im GR 38 ohne Beanstandungen nachgekommen.
Der [Name 1] war seit 1968 mit [Vorname 2, Name 1, Geburtsname], verheiratet, die am 17.4.1971 an einem Krebsleiden starb. Aus der Ehe ging ein [Kind] hervor.
Über Ursachen und Motive liegen gegenwärtig keine konkreten Anhaltspunkte vor.
Es kann jedoch angenommen werden, dass sich der Tod der Ehefrau des [Name 1] begünstigend auf die Fahnenflucht auswirkte.
Die Untersuchungen zur Aufklärung der Ursachen, Motive und begünstigenden Bedingungen werden fortgesetzt.