Festnahme von Dieter Beilig
[ohne Datum]
Information Nr. 972/71 über die Festnahme eines Grenzverletzers Westberlin – Hauptstadt der DDR unter Anwendung der Schusswaffe am 2. Oktober 1971
Am 2.10.1971, um 9.15 Uhr, drang in Berlin-Mitte, Grenzabschnitt Brandenburger Tor, eine ca. 30-jährige männliche Person von Westberlin kommend durch Überwindung der Grenzsicherungsanlagen ungesetzlich in die Hauptstadt der DDR ein.1
Durch die in diesem Abschnitt eingesetzten Grenzsicherungskräfte der NVA wurde vor dem ungesetzlichen Grenzübertritt beobachtet, dass ein Angehöriger der Westberliner Polizei offensichtlich versuchte, den Grenzverletzer von der Überwindung der Sperrmauer abzuhalten.
Der Grenzverletzer drang nach Übersteigen der Sperrmauer in das Territorium der Hauptstadt der DDR ein und wurde von den dort eingesetzten Grenzsicherungskräften der NVA sofort festgenommen.
Während der Zuführung des Grenzverletzers zum Stützpunkt der Grenzsicherungskräfte wurde er flüchtig und versuchte, auf Westberliner Gebiet zurückzugelangen.
Er konnte ohne Anwendung der Schusswaffe auf der Höhe des Sicherungszaunes an der Otto-Grotewohl-Straße2 erneut festgenommen werden.
Nach dieser Festnahme wurde der Grenzverletzer verwarnt und darauf aufmerksam gemacht, dass bei einem erneuten Fluchtversuch von der Schusswaffe Gebrauch gemacht wird.
Der Grenzverletzer wurde dem Stützpunkt der Grenzsicherungskräfte, der sich ca. 100 m von der Staatsgrenze entfernt befindet, zugeführt.
Im Ergebnis der Durchsuchung des Grenzverletzers wurde festgestellt, dass der Täter keine Personaldokumente bei sich führte.
Während des Aufenthaltes des Grenzverletzers im Objekt des Stützpunktes (unter Bewachung von zwei Angehörigen des Grenzregimentes Berlin-Mitte) sprang dieser plötzlich vom Stuhl auf, riss das Fenster auf und versuchte, abermals flüchtig zu werden.
In dieser Situation – noch vor dem Sprung des Grenzverletzers aus dem Fenster – wurde durch den Sicherungsposten aus dem Hüftanschlag ein Schuss auf den Grenzverletzer abgegeben, der diesen von hinten in Brusthöhe traf.
Nach Erteilung der Ersten Hilfe wurde der Grenzverletzer mit einem Fahrzeug (Sondersignal) sofort in das VP-Krankenhaus Berlin abtransportiert, wo dessen Tod festgestellt wurde.
Durch die Schusswaffenanwendung wurde Westberliner Territorium nicht verletzt.
Während des Tatgeschehens hielten sich ca. 15 bis 20 Zivilpersonen auf DDR-Gebiet in der Nähe des Brandenburger Tores auf. Durch diese konnte der Schuss wahrgenommen und der Abtransport des Grenzverletzers mit Sondersignal-Fahrzeug beobachtet werden.
Auf dem Podest am Brandenburger Tor (DDR-Gebiet) hielt sich zu diesem Zeitpunkt eine Touristendelegation aus der ČSSR auf.
Bisher sind auf Westberliner Gebiet keine besonderen gegnerischen Aktivitäten festgestellt worden.
Die bisherigen Untersuchungen des MfS ergaben:
Bei dem Grenzverletzer handelt es sich um den Westberliner Bürger Beilig, Dieter,3 geboren 5.9.1941, wohnhaft Berlin (West)-Kreuzberg, [Straße, Nr.]. Beilig war ein mehrfach vorbestraftes, feindlich gegen die DDR eingestelltes und tätiges Element.
Bereits im Frühsommer 1962 verübte er mittels selbstgefertigter Sprengsätze sieben Anschläge gegen die Staatsgrenze der DDR zu Westberlin im Gebiet Niederkirchner-/Stallschreiberstraße. Im gleichen Jahr nahm er Verbindung zu den Feindorganisationen »Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS)«4 und zur »Deutschen Freiheitslegion«5 auf.
Beilig unterstützte diese bei der Verbreitung von gegen die DDR, gegen die Partei und gegen die Staatsgrenze gerichteten Hetzflugblätter, die er zusätzlich mit dem Stempelaufdruck »Peter-Fechter-Memorial-Bewegung«6 versah. Beilig war bestrebt, eine Feindorganisation gleichen Namens zu gründen.
Beilig forderte im Jahre 1963 in zahlreichen Interviews mit westlichen Massenkommunikationseinrichtungen zur gewaltsamen Grenzbeseitigung und zur Durchführung von Hetzkundgebungen und Krawallen an der Staatsgrenze auf. Er beteiligte sich auch selbst aktiv an mehreren schwerwiegenden gewaltsamen Grenzprovokationen. Unter anderem war er 1963 im Grenzgebiet Gröbenufer/Kreuzberg führend an der Zerstörung von Grenzsicherungsanlagen, am Schmieren von Hetzlosungen und an der Organisierung von Demonstrationen und Krawallen, z. B. an der Aufputschung von über 1 000 Jugendlichen auf Westberliner Gebiet, beteiligt.
Beilig wurde Anfang des Jahres 1964 in Westberlin wegen unerlaubten Besitzes von Sprengstoff bestraft.
Am 30.4.1964 erfolgte seine Festnahme durch das MfS und am 11.12.1964 seine Verurteilung zu zwölf Jahren Zuchthaus durch das Stadtgericht Berlin wegen Terror, Hetze und staatsfeindlicher Verbindung.
Am 12.9.1966 wurde er auf Bewährung erlassen [sic!].
Die Untersuchungen des Ministeriums für Staatssicherheit zur umfassenden Aufklärung der Zusammenhänge, der Ursachen, Motive und Hintergründe des Grenzdurchbruches werden fortgeführt.