Flucht des Dirigenten Klaus Tennstedt
[ohne Datum]
Information Nr. 778/71 über die Ausnutzung einer Reise in das nichtsozialistische Ausland zum illegalen Verlassen der DDR durch den freischaffenden Dirigenten Tennstedt, Klaus
Dem MfS wurde bekannt, dass der freischaffende Dirigent Tennstedt, Klaus,1 geboren am [Tag, Monat] 1926 in Merseburg, wohnhaft in Schwerin, [Straße, Nr.] Richard-Wagner-Str. 40, parteilos, eine Reise nach Schweden zum illegalen Verlassen der DDR ausnutzte.
Tennstedt war am 18.7.1971 aufgrund des vom Ministerium für Kultur befürworteten Ausreisevisums, das für die Zeit vom 4.1.1971 bis 25.7.1971 befristet war, nach Schweden gereist und hatte von dort aus am 20.7.1971 telefonisch seiner Ehefrau mitgeteilt, dass er nicht in die DDR zurückkehrt.
Tennstedt reiste seit 1970 wiederholt in das nichtsozialistische Ausland zur Vorbereitung bzw. Wahrnehmung von Gastdirigaten. Die letzte Reise sollte der Vorbereitung eines 3-Jahre-Engagements dienen, das für Göteborg vorgesehen war.
Die Reisen des Tennstedt in das nichtsozialistische Ausland waren vom Ministerium für Kultur mit der Begründung, er solle genutzt werden, das internationale Ansehen der DDR im Ausland kulturpolitisch zu stärken, befürwortet und genehmigt worden, obwohl vom MfS wiederholt dagegen Bedenken geäußert und das Nichteinverständnis mitgeteilt worden waren.
Die Bedenken waren sowohl dem Minister für Kultur, Gen. Gysi,2 als auch dem Leiter des Büros des Ministers für Kultur, Gen. Werner,3 in persönlichen Unterredungen mitgeteilt worden. Als Begründung für die Ablehnung des Tennstedt als Reisekader für das nichtsozialistische Ausland wurde diesen leitenden Genossen des Ministeriums für Kultur mitgeteilt, dass Tennstedt eine ungefestigte politische Haltung zur DDR einnimmt und keine Sicherheit gegeben ist, dass er in die DDR zurückkehrt.
Tennstedt hatte sich z. B. geweigert, eine Stellungnahme zur Hilfsaktion der Sowjetunion und der sozialistischen Staaten gegenüber der ČSSR 19684 abzugeben. Enge Verbindungen unterhielt Tennstedt zu Verwandten seiner Ehefrau nach Westdeutschland, von denen er in einer Reihe Paketsendungen u. a. Pkw-Ersatzteile, Reifen u. Ä. zugeschickt bekam.
Dem MfS war weiter bekannt geworden, dass Tennstedt bereits 1969 über einen USA-Bürger eine Zeitungsannonce in amerikanischen Zeitungen veröffentlichen ließ, in der er sich um eine Anstellung als Dirigent in Amerika bewarb. Im März 1971 wurden diese dem MfS bekannten Fakten dem Gen. Gysi erneut vorgetragen und im Mai 1971 wurde dem Gen. Werner mitgeteilt, dass dem MfS zuverlässige Hinweise vorliegen, wonach Tennstedt in einem internen Gespräch geäußert hat, dass er seinen Aufenthalt in Schweden nutzen wolle, um dort eine bleibende Tätigkeit zu übernehmen und nicht wieder in die DDR zurückzukehren.
Ungeachtet dieser Hinweise erhielt Tennstedt vom Ministerium für Kultur einen 3-Jahre-Einsatz in Schweden zugesichert, der durch die Künstleragentur der DDR im Auftrage des Ministeriums für Kultur vertraglich fixiert wurde. Dem MfS wurde vom Leiter des Büros des Ministers für Kultur, Gen. Werner, mitgeteilt, dass über den Auslandseinsatz des Tennstedt ein Beschluss des Sekretariats des ZK herbeigeführt worden sei.5 Inwieweit dabei die Bedenken des MfS vorgetragen wurden, ist nicht bekannt.
Zur beruflichen Entwicklung Tennstedts ist u. a. bekannt: Tennstedt arbeitete seit 1962 als Dirigent der Mecklenburgischen Staatskapelle am Staatstheater Schwerin. Aufgrund mangelhafter Leitungstätigkeit an diesem Theater, unkollegialem Verhalten Angehöriger der Kapelle und dadurch entstandener Spannungen und Differenzen innerhalb des Kollektivs der Staatskapelle schied er im April 1969 aus dem Staatstheater Schwerin aus. Seit dieser Zeit hatte Tennstedt kein festes Arbeitsverhältnis und lebte von gelegentlichen Gastdirigaten.
Es wird vorgeschlagen, über das illegale Verlassen der DDR durch den Dirigenten Tennstedt keine Information an die Parteiführung zu geben, da nach Auskunft des Gen. Gysi der Gen. Hager6 über die Flucht des Tennstedt bereits informiert ist und die Ausreise des Tennstedt nach vorheriger Genehmigung durch Gen. Hager erfolgt war.