Fluchtversuch in Berlin-Baumschulenweg
10. September 1971
Information Nr. 899/71 über einen verhinderten Grenzdurchbruch im Grenzabschnitt Berlin-Baumschulenweg unter Schusswaffenanwendung am 9. September 1971
Am 9.9.1971, gegen 0.30 Uhr, versuchte der [Name, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1949, Hilfsarbeiter im VEB Zentralzirkus Aeros, zzt. als Hilfsarbeiter für Werbung beim sowjetischen Staatszirkus im Kulturpark Berlin eingesetzt, wohnhaft Aschersleben, [Straße, Nr.] organisiert im FDGB, der DSF, im Grenzabschnitt Berlin-Baumschulenweg, etwa 80 m von der Grenzübergangsstelle Sonnenallee entfernt, die Staatsgrenze nach Westberlin zu durchbrechen.1
Durch die eingesetzten Sicherungsposten der NVA/Grenze wurde der Grenzdurchbruch unter Anwendung der Schusswaffe (es wurden insgesamt 43 Schuss abgegeben) verhindert.
Der [Name] wurde dabei an der Hüfte sowie an den Kniegelenken verletzt; Lebensgefahr besteht nicht.
Die durch das MfS bisher geführten Untersuchungen ergaben, dass sich [Name] zuvor in verschiedenen Gaststätten in Berlin-Baumschulenweg aufgehalten und größere Mengen Alkohol zu sich genommen hatte (12 bis 14 Glas Bier).
Danach begab er sich über eine Nebenstraße des Baumschulenweges – den Heidekampweg – in das unmittelbar anschließende Grenzgebiet, überkletterte den Grenzhinterlandzaun und löste, als er die Sicherungsanlage durchkriechen wollte, den Signalzaun aus.
Die ca. 100 bzw. 150 m rechts und links von dieser Stelle eingesetzten Sicherungsposten der NVA/Grenze bemerkten [Name], als er sich nach dem Durchkriechen des Signalzaunes in gebückter Haltung auf die Grenzmauer zubewegte. Die Entfernung vom Signalzaun bis zur Grenzmauer beträgt ca. 70 m. Da [Name] auf Anruf bzw. die Abgabe eines Warnschusses nicht reagierte, wurde durch die Sicherungsposten der NVA gezieltes Feuer eröffnet, in dessen Ergebnis seine Festnahme erfolgte.
Die Untersuchungen ergaben, dass [Name] aus einer Arbeiterfamilie stammt. Beide Elternteile sind als Zivilangestellte an der Fachschule der DVP Aschersleben tätig (Vater als Helfer in der Sporthalle, Mutter als Küchenhilfe).
Aus den bisherigen Untersuchungsergebnissen wurde über die Motive des [Name] bekannt, dass er unter Alkoholeinwirkung stehend, spontan den Entschluss zum ungesetzlichen Verlassen der DDR fasste.
Ähnliche Reaktionen nach dem Genuss von Alkohol sind aus der Vergangenheit bekannt, indem sich [Name] bereits zweimal vor fahrende Verkehrsmittel werfen wollte.
Durch die Feuerführung der Sicherungskräfte der NVA/Grenze wurden in zwei Fällen durch je ein Projektil 2 Fensterscheiben an den angrenzenden Häusern des DDR-Territoriums, die in der Schussrichtung liegen (Heidekampweg und Sonnenallee), zerstört. Bei den Wohnungsinhabern handelt es sich um Mitglieder der SED.
Die Sicherungskräfte der NVA/Grenze wurden nach Abgabe der Schüsse durch eine unbekannte männliche Person durch Zuruf verleumdet. Es konnte nicht festgestellt werden, ob diese Person auf der Westberliner Seite (Kleingartenanlage grenzt unmittelbar an) oder auf dem DDR-Territorium wohnt.
Beim Abtransport des [Name] erschienen auf einem etwa 250 m vom Ereignisort sich befindlichen Podest auf Westberliner Territorium zwei Angehörige der Westberliner Polizei, die die Worte »Ende gut – alles gut« riefen.
Nach erfolgtem Abtransport des Grenzverletzters erschien ein Funkstreifenwagen des Westberliner Zolls mit zwei Insassen, die auf Westberliner Seite am Ereignisort entlangfuhren, jedoch keine Handlungen durchführten.2
Die Untersuchungen zur allseitigen Klärung der Motive, Ursachen und begünstigenden Bedingungen werden fortgesetzt.