Fluchtversuch mithilfe eines Hubschraubers
24. November 1971
Information Nr. 1123/71 über die Verhinderung eines gewaltsamen Grenzdurchbruches nach Westberlin unter Verwendung eines durch die NVA ausgesonderten Hubschraubers
Am 6.11.1971 wurden durch das MfS gegen den [Name 1, Vornamen], geboren [Tag, Monat] 1944 in [Ort], Beruf: Kraftfahrzeugschlosser, zuletzt ohne Beschäftigung, wohnhaft Tauer, Kreis Guben, wegen dringenden Verdachts der Vorbereitung eines ungesetzlichen Grenzübertritts sowie gegen den [Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1940 in [Ort], Beruf: Autolackierer, zuletzt Transportarbeiter im VEB Textilkombinat Cottbus, wohnhaft Peitz, Kreis Cottbus, [Straße, Nr.], wegen dringenden Verdachts der Beihilfe zum ungesetzlichen Grenzübertritt Ermittlungsverfahren mit Haft eingeleitet.
Die bisherigen Untersuchungen durch das MfS ergaben, dass [Name 1] seit Juli 1971 fortgesetzt und zielgerichtet handelnd Vorbereitungen getroffen hatte, um einen von der NVA ausgesonderten und im Mai 1971 im Hof des Kindergartens Wilhelm-Pieck-Stadt Guben, Marcelli-Nowotko-Straße,1 zu Demonstrationszwecken abgestellten Hubschrauber wieder in einen einsatzbereiten und flugtüchtigen Zustand zu versetzen und mittels desselben die DDR ungesetzlich zu verlassen.
[Name 1] teilte dieses Vorhaben im August 1971 seinem langjährigen Bekannten [Name 2] mit, der ihn in der Folgezeit aktiv bei den Instandsetzungsarbeiten unterstützte.
Ohne über spezielle Kenntnisse des Aufbaus und der Funktionsweise des Hubschraubers zu verfügen, hat [Name 1] in fünf bis sechs Fällen jeweils während der Nachtstunden und unter mehrmaliger Beteiligung des [Name 2] Instandsetzungsarbeiten am Hubschrauber durchgeführt, wie z. B.
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Entwicklung und Anbau einer kompletten Anlassanlage unter Verwendung von zwei Akkumulatoren;
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Anfertigung und Einbau eines Kraftstoffmengenverteilers;
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Entfernung der Blockierung der Motorwelle;
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Anbringen von Blindverschlüssen für Leitungen von entfernten Kraftstoff- und Schmierstoffdruckgebern;
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Anfertigung eines Blindverschlusses für das Kraftstoffsystem zwecks Benutzung des Zusatz-Treibstoffbehälters;
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Anfertigung und Anbringen einer Schlauchverbindung zum Ölkühler;
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Anfertigung und Anbringen einer Ablassschraube am Brandhahn und Vergaser.
Die Anfertigung der Einzelteile nahm [Name 1] in einer im Keller seines Wohnhauses durch ihn eingerichteten Werkstatt vor.
Darüber hinaus überprüfte er im Hubschrauber die Funktionstüchtigkeit verschiedener Einzelteile, wie z. B. der Welle für die Heckschraube, die Kerzen und die Düsen.
Im Ergebnis dieser Handlungen gelang es [Name 1], den Hubschrauber am 5.11.1971 in einen flugfähigen Zustand zu versetzen.
Am 5.11.1971, gegen 22.00 Uhr, fuhr [Name 1] gemeinsam mit dem [Name 2] mit dessen Pkw Wartburg unter Mitnahme von ca. 130 Litern Vergaserkraftstoff, der vorwiegend durch [Name 2] auftragsgemäß an einer Tankstelle gekauft worden war, von seinem Wohnort nach Wilhelm-Pieck-Stadt Guben, um den Hubschrauber in Gang zu setzen.
Nachdem [Name 1] den Hubschrauber mit dem Vergaserkraftstoff aufgetankt hatte, schob er ihn unter Mithilfe des [Name 2] ca. 20 bis 30 Meter von seinem Standort auf einen freien Platz und sägte von den umstehenden Bäumen die Äste ab.
Während sich [Name 2] nach Hause begab, versuchte [Name 1] danach allein, etwa eine Stunde lang, den Motor des Hubschraubers zu starten.
Nachdem ihm das nach zweimaligen erfolglosen Versuchen am 6.11.1971 gegen 4.45 Uhr gelungen war, setzte er durch Einkuppeln die Tragschraube in Bewegung, wobei sich der Hubschrauber nach seinen Aussagen ca. einen Meter vom Boden abhob und anschließend von ihm wieder aufgesetzt wurde, da [Name 1] aufgrund wahrgenommener Geräusche der Meinung war, an die umstehenden Bäume gestoßen zu sein.
Die bisherigen Untersuchungen des MfS ergaben eine Reihe wesentlicher begünstigender Bedingungen für die Vorbereitung und Realisierung des Verbrechens, die ihren Ausgangspunkt in der Unterlassung bzw. nur oberflächlichen Ausführung der im Zusammenhang mit der Aussonderung dieses Hubschraubers erteilten Weisungen hatten.
Der Hubschrauber wurde Anfang Mai 1971 auf Veranlassung des Chefs der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung zu Demonstrationszwecken an den Kindergarten Wilhelm-Pieck-Stadt Guben, Marcelli-Nowotko-Straße, übergeben.
Dazu erteilte der Chef der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung am 29.4.1971 an den Kommandeur des Hubschraubergeschwaders 34 in Brandenburg, Bezirk Potsdam, die Weisung, den Hubschrauber MI-I, SM-1 bis 6.5.1971 in den Standort des Jagdgeschwaders 7 zu überfliegen und nach Aussonderung aus dem Geschwader zur weiteren Verwendung im Hof des angeführten Kindergartens aufzustellen.
Der Stellvertreter des Chefs der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung präzisierte befehlsgemäß diesen Auftrag und erteilte gleichfalls am 29.4.1971 die Weisung an den Kommandeur des Hubschraubergeschwaders 34,
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»Hubschrauber am 5.5.1971 auf dem Luftwege in das Jagdgeschwader 7 überführen,
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anschließend das Triebwerk so unbrauchbar machen, dass ein Fliegen damit unmöglich ist, Trag- und Heckschraube sind stabil zu arretieren,
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alle Geräte und Kabinenausrüstung sind auszubauen und zur Weiterverwendung innerhalb der Luftstreitkräfte einzusetzen, die Kabinenausrüstung ist durch defekte Anzeigegeräte und ein Gehäuse für die Funkausrüstung zu komplettieren,
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der Hubschrauber ist vollständig zu enttanken. Alle Behälter sind auszuspülen und unbrauchbar zu machen.
Alle pyrotechnischen Mittel sind zu entfernen. Alle Druckbehälter (Triebluft- und Stoßdämpfer) sind zu entlasten und unbrauchbar zu machen.«
Diese Weisungen des Stellvertreters für Luftstreitkräfte wurden, ohne weitere Präzisierungen vorzunehmen, vom Kommandeur des Hubschraubergeschwaders 34 an den Leiter des Fliegeringenieurdienstes und von diesem an den Major Diplom-Ingenieur oec. [Name 3] vom Hubschraubergeschwader 34 »weitergeleitet«.
Eine Kontrolle der von Major [Name 3] durchgeführten Arbeiten zur Unbrauchbarmachung des Hubschraubers, insbesondere seines Triebwerkes, erfolgte nicht.
Am 6.5.1971 wurde durch das Hubschraubergeschwader 34 Vollzug der gegebenen Weisungen gemeldet.
Die durch eine Sachverständigenkommission des Ministeriums für Nationale Verteidigung, Kommando Luftstreitkräfte/Luftverteidigung, geführten Überprüfungen des technischen Zustandes des Hubschraubers ergaben, dass die vom Stellvertreter des Chefs der Luftstreit-kräfte/Luftverteidigung am 29.4.1971 an den Kommandeur des Hubschraubergeschwaders 34 erteilten Weisungen nicht im vollen Umfang durchgeführt wurden.
Das wird u. a. durch folgende Feststellungen der Sachverständigen bestätigt:
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Das Triebwerk wurde nicht unbrauchbar gemacht, da lediglich das Anlasssystem teilweise demontiert wurde und nur Teile an einem Zylinder ausgebaut wurden (Kipphebel und Stößelstange). Am Vergaser wurde ein Teil ausgebaut.
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Die Trag- und Heckschraube wurde nicht stabil arretiert, sondern nur oberflächlich gegen Verdrehen gesichert.
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Die Spezialausrüstung des Hubschraubers (Elektro- und Funk) wurde so zerstört, dass die Inbetriebnahme unmöglich wurde. Gleichzeitig wurden zum Teil funktionstüchtige Anzeigegeräte im Hubschrauber belassen.
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Es wurden nicht alle Kraftstoffbehälter unbrauchbar gemacht, der Kraftstoffzusatzbehälter blieb einsatzbereit. Zerstörungen am Schmierstoffhauptbehälter erfolgten oberflächlich. Ein Betanken mit Schmierstoff war in minimalen Mengen möglich.
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Ein Teil der Pressluftbehälter wurde in unbeschädigtem Zustand im Hubschrauber belassen, während alle Leitungen des Systems zerstört wurden.
Damit war der Hubschrauber nach Durchführung der Aussonderungsmaßnahmen durch das Hubschraubergeschwader 34 vom 5.5.1971 zwar fluguntauglich, jedoch bestand die Möglichkeit, den Hubschrauber – wie von [Name 1] durchgeführt – durch Vornahme bestimmter technischer Veränderungen in einen flugtauglichen Zustand zu versetzen.
Nach Einschätzung der Gutachter war der Hubschrauber im Ergebnis der von [Name 1] durchgeführten Instandsetzungsarbeiten flugfähig.
Ein Flug mit ihm wäre jedoch infolge der Kompliziertheit der Technik nur einem ausgebildeten versierten Hubschrauberpiloten möglich gewesen. [Name 1] verfügte nicht über die Fähigkeiten und Kenntnisse eines ausgebildeten Hubschrauberpiloten. Deshalb kuppelte er auch das Getriebe zur Tragschraube unsachgemäß ein, sodass Risse in den Tragschraubenblättern hervorgerufen wurden. Diese hätten bei einem Flug nach einer nicht bestimmbaren Zeit zum Absturz des Hubschraubers geführt.
In Auswertung der bisherigen Untersuchungsergebnisse wurde durch den Chef der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung angewiesen, sämtliche aus dem Bestand der Luftstreitkräfte ausgesonderte und an den zivilen Sektor übergebene Flugtechnik auf ihre wirksame Unbrauchbarmachung zu überprüfen.
Zur Täterpersönlichkeit:
Der [Name 1, Vornamen] war vom 2.5.1968 bis 18.6.1968 Angehöriger der NVA und versah seinen Dienst als Wachsoldat im 7. LVD Drewitz-Süd der 1. LVD.
In dieser Zeit kam er nicht unmittelbar mit Hubschrauber-Technik in Berührung, hatte jedoch die Möglichkeit, sich allgemeine Kenntnisse auf flugtechnischem Gebiet anzueignen. [Name 1] besitzt eine negative Einstellung zur sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung.
Das findet seinen Ausdruck besonders im dreimaligen Versuch des ungesetzlichen Verlassens der DDR.
Bereits 1964 unternahm er gemeinschaftlich handelnd mit dem ihm bekannten [Name 2] – den er aufgrund beruflicher Gemeinsamkeiten und Interessen Anfang der 1960er-Jahre kennengelernt hatte – den Versuch eines ungesetzlichen Grenzübertritts. [Name 1] wurde dafür vom Kreisgericht Cottbus zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt.
Einen weiteren Versuch des ungesetzlichen Grenzübertritts unternahm [Name 1] während seiner Zugehörigkeit zur NVA im Jahre 1968, indem er nach unerlaubter Entfernung von seiner Einheit die Staatsgrenze DDR – ČSSR mit dem Ziel durchbrach, nach Westdeutschland zu gelangen. Er konnte nach umfangreichen Fahndungsmaßnahmen in der ČSSR festgenommen werden und wurde vom Militärobergericht Berlin wegen Fahnenflucht im schweren Fall zu zwei Jahren und sechs Monaten Freiheitsentzug verurteilt, die im Januar 1970 auf Bewährung ausgesetzt wurde.
Der [Name 2, Vorname] hat ebenso wie [Name 1] eine ablehnende Einstellung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR. Seit Beendigung seiner schon mehrfach aus den verschiedensten Gründen unterbrochenen Lehre im Jahre 1962, wechselte [Name 2] ständig seine Arbeitsstellen und war in den letzten Jahren fast ausschließlich als Transport- oder Hilfsarbeiter tätig. Den »Hauptverdienst« verschafften sich [Name 1] und [Name 2] unter Ausnutzung ihrer Kenntnisse und Fertigkeiten auf Kfz-technischem Gebiet durch nebenberufliche Arbeiten.
[Name 2] ist ebenfalls mehrfach vorbestraft. 1960 wurde er vom Kreisgericht Cottbus-Land wegen Verletzung inländischer Hoheitszeichen zu elf Monaten Freiheitsentzug verurteilt, 1964 – gemeinsam mit [Name 1] – wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts zu zwölf Monaten Freiheitsentzug und 1965 wegen Staatsverleumdung abermals zu zwölf Monaten Freiheitsentzug.
Die Untersuchungen des MfS zur umfassenden Aufklärung der Ursachen, Motive und begünstigenden Bedingungen des versuchten gewaltsamen Grenzdurchbruches werden fortgeführt.