Havarie im Kraftwerk Thierbach
22. September 1971
Information Nr. 905/71 über die am 8. August 1971 verursachte Havarie am Turbinensatz 1 im Betriebsteil Thierbach des VEB Kraftwerke Lippendorf-Thierbach, [Bezirk] Leipzig
Am 8.8.1971 ereignete sich gegen 4.17 Uhr am Turbinensatz 1 des Kraftwerkes Thierbach während des Anfahrprozesses nach erfolgter Reparatur eine schwere Havarie.
Durch die Havarie entstand ein Sachschaden von ca. 2,5 Mio. Mark. Der durch den Produktionsausfall eintretende Folgeschaden wurde auf ca. 12 Mio. Mark geschätzt.
Der bei der Havarie verkrümmte Hochdruckläufer des Turbinensatzes 1 musste zur Reparatur zum Hersteller, Turbinenwerk Leningrad/UdSSR, gebracht werden. Der sowjetische Hersteller stellte außerplanmäßig einen neuen Hochdruckläufer zur Verfügung, der bereits am 3.9.1971 im Kraftwerk Thierbach eintraf und zzt. eingepasst wird.
Die ursprünglich zur Aufklärung der Ursachen dieser schweren Havarie von der Leitung des Kraftwerkes Thierbach eingesetzte Kommission genügte den Anforderungen nicht. Daraufhin wurde auf Veranlassung des MfS durch den Staatssekretär Gen. Mitzinger1, Ministerium für Grundstoffindustrie, eine überbetriebliche Expertenkommission unter Einbeziehung sowjetischer Spezialisten zur Untersuchung der Havarie, ihrer Ursachen und begünstigenden Bedingungen berufen.
Die Untersuchungen dieser Expertenkommission ergaben Folgendes:
Nach Beendigung einer Kurzreparatur, die in der Zeit vom 6.8. bis 7.8.[1971] am Block 1 durchgeführt worden war, wurde der Anfahrprozess ab 22.00 Uhr eingeleitet.
Das Anfahren des Blockes hatte nach Betriebsvorschrift 210 (regelt und beschreibt die beim Anfahrprozess zu lösenden Aufgaben) und Werkstandard ES 360 902 vom 1.6.1971 (legt die Verantwortlichkeit für Abfahr-, Stillstands- und Anfahrprogramme fest) zu erfolgen.
Die Expertenkommission stellte fest, dass die Havarie durch grobe Bedienungsfehler – entgegen den eindeutigen Bestimmungen – während des Anfahrprozesses ausgelöst wurde.
Das Anfahrpersonal hatte die Turbine 1 trotz des Vorhandenseins einer unzulässigen Temperaturdifferenz bis zu 140° C im Turbinengehäuse angestoßen.
(Die Betriebsvorschrift 210 besagt, dass die zulässige Temperaturdifferenz während des Anfahrens zwischen Ober- und Unterteil maximal 50° C betragen darf.)
Die unzulässigen Temperaturdifferenzen im Turbinengehäuse entstanden aufgrund eines Wassereinbruches in der Turbine 1. Trotzdem wurde die Turbine 1 um 3.55 Uhr angestoßen.
Um 4.15 Uhr bemerkten der als Schichtingenieur eingesetzte Maschinist [Name 1] und der amtierende Doppelblockleiter, Maschinist [Name 2], starke Schwingungen und metallische Geräusche am Turbinensatz. (Diese Erscheinungen sind erkennbare Anzeichen für die Verkrümmung des Läufers und das Anstreifen des Läufers am Turbinengehäuse.)
Entsprechend der BV 210 und TGL 78–24633 – »Schwinggüte für Turboaggregate«2 – ist in einem solchen Fall der Turbinensatz sofort stillzusetzen.
Die genannten Mitarbeiter holten jedoch erst den amtierenden Kraftwerkleiter Dorn,3 der bei seinem Eintreffen um 4.17 Uhr sofort die Schnellschlusshandauslösung betätigte.
Nach dem Stillstand des Turbinenläufers, etwa drei Minuten später, begingen der Schichtingenieur [Name 1] und der amtierende Doppelblockleiter [Name 2] eine erneute Fehlhandlung, indem sie sofort die Rotordrehvorrichtung in Betrieb setzten. Dadurch wurde das gewaltsame Losbrechen des erheblich verkrümmten und am Gehäuse festsitzenden Läufers bewirkt. Zwangsläufig erhöhte sich damit der Umfang des Schadens beträchtlich.
Wie aus den Untersuchungen besonders deutlich hervorgeht, sind in der Führungs- und Leitungstätigkeit der Betriebsleitung des Kraftwerkes Thierbach wesentliche Mängel und Missstände in einem Umfang vorhanden, die entscheidenden Einfluss auch auf das Entstehen dieser schweren Havarie hatten.
Unter anderem lagen für den Block 1 keine Stillstands- und Anfahrprogramme vor, es wurde kein Anfahrprotokoll geführt und dem Schichtpersonal waren die einschlägigen gesetzlichen und betrieblichen Normative einschließlich des Werkstandards ES 360 902 zum Zeitpunkt der Havarie nicht bekannt. Diese Umstände in Verbindung mit den Verstößen gegen die Betriebsvorschrift 210 sowie mangelnder Qualifikation des Anlagenpersonals führten letztendlich auch zur Havarie mit ihren schwerwiegenden Folgen.
Für diese grundsätzlichen und im speziellen Fall der schweren Havarie sichtbar gewordenen Mängel und Missstände sind nach den Erkenntnissen der Expertenkommission und des MfS vor allem verantwortlich:
Der stellvertretende und zeitweilig amtierende Kraftwerkleiter Lindacher, Günther,4 geboren [Tag, Monat] 1925, Ingenieur für Energieerzeugungsanlagen, Mitglied der SED.
L. ließ zu, dass der Block 1 nach Beendigung der Reparatur ohne das erforderliche Programm angefahren wurde. Er betonte, dass nach »alter Gewohnheit« schon immer so verfahren worden sei.
Der Abteilungsleiter Hauptanlagen Herr, Peter,5 geboren [Tag, Monat] 1920, Ingenieur für Kraft- und Arbeitsmaschinen, Mitglied der SED, hat es unterlassen, das erforderliche Programm für das Anfahren des Blocks vorzugeben. Er »begründet« seine Handlungsweise ebenso wie der amtierende Kraftwerkleiter Lindacher.
Außerdem hat er den Doppelblockmeister [Name 2] als amtierenden Doppelblockleiter eingesetzt, ohne ihn entsprechend einzuweisen.
Herr zeichnet auch für die fehlenden TGL-Vorschriften auf der Blockwarte verantwortlich.
Der als Schichtingenieur eingesetzte [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1945, Maschinist für Wärmekraftwerke, Mitglied der SED, hat es geduldet, dass während des Anfahrprozesses mehrfach durch das Anfahrpersonal gegen die Betriebsvorschrift 210 verstoßen wurde. Außerdem hat er in den laufenden Anfahrprozess eingegriffen, obwohl der Doppelblockleiter [Name 2] die volle Verantwortung für den Anfahrprozess trägt. Dadurch verlor der Doppelblockleiter [Name 2] die Gesamtübersicht über den Anfahrprozess.
Die von [Name 1] ausgeübte Funktion eines Schichtingenieurs erfordert die Qualifikation eines Ingenieurs. [Name 1] besitzt jedoch nur die Qualifikation eines Maschinisten für Wärmekraftwerke.
Obwohl er seit ca. fünf Monaten ohne entsprechende Vorbereitung in diese Funktion als Schichtingenieur eingesetzt ist, hat er keine eindeutigen Kenntnisse über seine Verantwortlichkeit und Aufgaben.
Der amtierende Doppelblockleiter [Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1947, Maschinist für Wärmekraftwerke, parteilos, hat den Anfahrprozess aufgrund mangelnder Qualifikation nicht beherrscht. Er verstieß in der gleichen Weise wie der vorgenannte [Name 1] mehrfach gegen die Betriebsvorschrift 210, indem er unter anderem die Kontrolle der Messinstrumente und des Anlagenzustandes vernachlässigte.
[Name 2] beging den Hauptfehler beim Anfahren des Blocks 1, indem er trotz der unzulässigen hohen Temperaturdifferenzen im Turbinengehäuse die Turbine 1 anstieß.
Infolge der fehlenden Betriebsanweisungen und Arbeitsbereichsmerkmale war sich [Name 2] seiner Verantwortung jedoch nicht voll bewusst. [Name 2] war nur vertretungsweise als Doppelblockleiter tätig. Er besitzt ebenfalls nur die Qualifikation eines Maschinisten für Wärmekraftwerke.
[Name 1] und [Name 2] haben aufgrund ihrer ungenügenden technischen und leitungsmäßigen Qualifikation zugelassen, dass die Leitstandsmaschinisten [Name 3] und [Name 4] während des Anfahrprozesses mehrfach gegen die BV 210 verstießen. Die erforderliche stabsmäßige Führung des Anfahrprozesses wurde nicht beherrscht.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass [Name 1] und [Name 2] durch mehrfache Fehlhandlungen die Havarie unmittelbar verursacht haben. Entsprechend ihrem Persönlichkeitsbild handelt es sich um fortschrittliche und arbeitswillige Kräfte. Sie haben schon mehrfach Anfahrprozesse durchgeführt und darauf vertraut, dass auch diesmal der Prozess normal verläuft. Das Vorkommnis zeigt jedoch, dass sie infolge ungenügender Qualifikation nicht in der Lage waren, die möglichen Folgen der Abweichungen im Anlagenzustand richtig einzuschätzen und dementsprechend zu handeln.
Die Verantwortung für die charakterisierten Mängel und Missstände beim Anfahren des Blocks 1, welche letztendlich zu diesem und anderen Vorkommnissen führten, trägt insbesondere die Kraftwerkleitung. Beispielsweise ereignete sich am 27.9.1970 an der Turbine des Blocks 1 ein gleiches Vorkommnis, dessen Ursachen und begünstigenden Bedingungen jedoch nicht ausgewertet worden waren.
(Von den Untersuchenden wurde im August 1971 der Bericht einer Kommission über die Ursachen dieses Schadensfalles vom September 1970 im Panzerschrank eines inzwischen ausgeschiedenen Mitarbeiters der Werkleitung aufgefunden.)
In diesem Zusammenhang möchte das MfS auch auf einige prinzipielle Mängel und Schwächen in der Leitung des VEB Kraftwerke Lippendorf/Thierbach aufmerksam machen:
Die verantwortlichen Funktionäre leisten eine völlig unbefriedigende Arbeit mit den Menschen. Die eingeleiteten Maßnahmen zur Qualifizierung des Anlagenpersonals sind unzureichend. So wurden bisher die Vor-Ort-Qualifizierung, das Antihavarietraining sowie die Nutzung des im Kraftwerk Thierbach installierten Kraftwerktrainers (Wert 1,5 Mio. Mark) zur Ausbildung völlig vernachlässigt. Weiterhin werden die Werktätigen nicht informiert, ihre Vorschläge werden ignoriert und es wird wenig getan, um die Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern, sodass sich ein äußerst ungünstiges Betriebsklima entwickelt hat. Eine hohe Fluktuation von Arbeitskräften sowie Arbeitskonflikte sind die Folge.
So kam es am 11.6.1971 zur kurzfristigen Arbeitsniederlegung durch 40 Bau- und Montagearbeiter im Kraftwerk Thierbach wegen ungenügender Hygieneverhältnisse (siehe auch Information 562/71). Bezeichnend für die Einstellung der verantwortlichen Leiter ist die Tatsache, dass sie schriftliche und mündliche Hinweise der Arbeiter bisher nicht ernstgenommen haben.
Im Leitungskollektiv herrscht eine schlechte Atmosphäre.
Infolge nicht ausreichender Arbeits- und Lebensbedingungen besteht bei verantwortlichen Leitern schon nach kurzer Tätigkeit der Wunsch zur Aufhebung des Arbeitsvertrages. (Zurzeit besteht diese Absicht bei neun der elf Direktoren der Werkleitung des VEB Kraftwerke Lippendorf/Thierbach, wobei zu bemerken ist, dass vier von diesen ihrer Verantwortung aufgrund ungenügender Qualifikation nicht gerecht werden.)
Der Direktor für Rationalisierung und Automatisierung, Gen. Diplom-Ingenieur Korschill,6 ist vor Kurzem bereits ausgeschieden.
Es gibt Mängel im Einsatz von Fachkadern.
Obwohl ständig über den Mangel an qualifiziertem Personal geklagt wird, sind von ca. 250 ausgebildeten Diplom-Ingenieuren und Ingenieuren nur ca. 50 im unmittelbaren Produktionsbereich eingesetzt und auch das in der UdSSR ausgebildete Fachpersonal arbeitet größtenteils nicht mehr im Kraftwerk. (Auch diese Tatsache ist vor allem auf die bereits geschilderten völlig unzureichend gelösten Arbeits- und Lebensbedingungen im Kraftwerk Thierbach zurückzuführen.)
Mängel gibt es auch im Verhältnis zur Gruppe sowjetischer Spezialisten.
Die sowjetischen Spezialisten führen darüber Klage, dass ihre Hinweise nicht beachtet werden. Trotz einer Vereinbarung zur Zusammenarbeit mit den zeitweilig anwesenden sowjetischen Spezialisten bei der Bewältigung schwieriger Prozesse wurden sie beim Anfahren des Blocks I am 8.8.1971 nicht hinzugezogen.
Teilweise sind noch ungelöste technische Probleme vorhanden, die einen stabilen Kraftwerkbetrieb im Winterhalbjahr 1971/72 gefährden.
So führen z. B. die konstruktiven Mängel an der hydropneumatischen Entaschung in Lippendorf und Thierbach laufend zu Störungen, die unter Umständen den Totalausfall der Kraftwerke zur Folge haben können. Weiterhin ist der Bestand an Ersatz- und Verschleißteilen ungenügend, sodass die planmäßige, vorbeugende Instandhaltung nicht immer gewährleistet werden kann. Auch der Mangel an Reparaturpersonal sowie die Stationierung der Reparaturbrigaden ausschließlich im Kraftwerk Lippendorf kompliziert die schon nicht einfache Situation noch mehr.
Für diese allgemein charakterisierten Missstände tragen besonders der Werkleiter des VEB Kraftwerke Lippendorf/Thierbach Strehle, Alfred,7 geboren [Tag, Monat] 1934, Ingenieur für Kraftwerke, Mitglied der SED, und sein Vorgänger, der Leiter des Kraftwerkes Thierbach, Schmidt, Horst,8 geboren [Tag, Monat] 1929, Ingenieur für Kraftwerke, Mitglied der SED, die volle Verantwortung. (Besonders Schmidt wird allgemein die Fähigkeit abgesprochen, ein Kraftwerk zu leiten.)
Von der Expertenkommission sind aufgrund der zahlreichen festgestellten Mängel und Missstände umfassende Schlussfolgerungen und Vorschläge zur Stabilisierung des Kraftwerksbetriebes erarbeitet worden. Es müsste gewährleistet werden, diese Schlussfolgerungen und Vorschläge besonders in Anbetracht des bevorstehenden Winterbetriebes schnell und tiefgründig zu realisieren. Vordringlich wäre darauf zu achten, dass
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die Zusammenarbeit mit der Gruppe sowjetischer Spezialisten verbessert und erweitert wird,
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das Leitungskollektiv bei der Lösung der notwendigen Aufgaben durch zentrale Institutionen unterstützt wird,
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die Leitungsstruktur entsprechend den Verhältnissen so verändert wird, dass auch die Verantwortlichkeit im Kraftwerksbetrieb von oben nach unten konkreter festgelegt und abgegrenzt werden kann und
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die notwendige Sicherheit und Ordnung in Zukunft gewährleistet wird.
Obwohl der Generaldirektor der VVB Kraftwerke am 7.9.1971 den Bericht der Expertenkommission bestätigte und die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Weisung erheben will, möchte das MfS auf folgenden Umstand aufmerksam machen:
Es sind in der Vergangenheit zahlreiche Kommissionen in Lippendorf und Thierbach tätig gewesen, jedoch wurden deren Vorschläge zur Stabilisierung des Betriebes nur ungenügend verwirklicht.
Das MfS hält es für erforderlich, den Einsatz weiterer Kommissionen zur Feststellung der Lage in den Kraftwerken zu untersagen und stattdessen die dafür vorgesehenen Kader zur Durchsetzung der von der Expertenkommission vorgeschlagenen Maßnahmen einzusetzen.
Außerdem wird vorgeschlagen, dass der Minister für Grundstoffindustrie persönlich anleitet und kontrolliert bzw. gewährleistet, dass
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die verantwortlichen leitenden Kader des VEB Kraftwerke Lippendorf-Thierbach, [Bezirk] Leipzig, disziplinarisch zur Rechenschaft gezogen werden,
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die Durchsetzung der Vorschläge der Expertenkommission im Ministerium für Grundstoffindustrie leitungsmäßig gesichert wird und
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auf der Grundlage der in diesem Havariefall erarbeiteten Erfahrungswerte auch entsprechende Weisungen für alle energieerzeugenden Betriebe der VVB Kraftwerke erarbeitet und diese unter Kontrolle genommen werden.