Reaktionen auf das 16. Plenum des ZK der SED
[ohne Datum]
Information Nr. 416/71 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR zu den Beschlüssen des 16. Plenums des ZK der SED
Übereinstimmend besteht zu den Beschlüssen des 16. Plenums des ZK der SED1 ein reges Interesse in allen Bezirken und unter allen Teilen der Bevölkerung.
Das drückte sich u. a. auch darin aus, dass besonders am 4.5.1971 verstärkt an den Kiosken die Tageszeitungen aufgekauft und die darin veröffentlichten Beschlüsse eifrig studiert wurden.2
Dabei steht die Erklärung des Genossen Walter Ulbricht3, ihn aus Altersgründen von der Funktion des 1. Sekretärs des ZK der SED zu entbinden, im Vordergrund der Diskussion.4 Die Argumente der Bevölkerung sind vorwiegend durch Sachlichkeit gekennzeichnet, und dem Ersuchen des Genossen Walter Ulbricht wird volles Verständnis entgegengebracht.
Mehrfach wird betont, in der zurückliegenden Zeit habe sich abgezeichnet, dass der Gesundheitszustand des Genossen Walter Ulbricht stark angegriffen sei. Das sei vor allem anlässlich der Festveranstaltung zum 25. Jahrestag der Gründung der SED deutlich geworden.5 Genosse Walter Ulbricht sei den großen physischen Belastungen, die mit der Funktion des 1. Sekretärs verbunden sind, nicht mehr gewachsen gewesen.
Die Bitte des Genossen Walter Ulbricht zur Entbindung von seiner Funktion wird als Ergebnis einer realen und durchdachten Analyse seiner physischen Leistungsfähigkeit eingeschätzt und als richtig beurteilt.6
Es zeuge von einem großen Verantwortungsbewusstsein und einer außerordentlichen menschlichen und politischen Reife, von sich aus den Antrag auf Entbindung von der Verantwortlichkeit zu stellen.
In zahlreichen Diskussionen wird eine Anerkennung und Würdigung der Arbeit des Genossen Walter Ulbricht ausgesprochen. Auch von vielen parteilosen Bürgern wird betont, er habe sehr viel für die Arbeiterklasse und die Werktätigen der DDR geleistet und dabei seine Gesundheit nicht geschont. Er habe durch seine Tätigkeit zur ständig wachsenden Stärkung der DDR und zur Erhöhung des Friedens in bedeutendem Maße beigetragen.
Es müsse gewährleistet werden, dass er den Rest seines Lebens noch in Ruhe und ohne besondere Belastungen verbringen könne.
Vielfach wird betont, die Entbindung des Gen. Walter Ulbricht von seiner Funktion sei nicht überraschend gekommen. In vielen Parteiaktiven und Kollektiven wurde in ersten Auswertungen der 16. Tagung festgestellt, dass Gen. Walter Ulbricht von den Belastungen, die sich besonders in Anbetracht des bevorstehenden VIII. Parteitages7 ergeben würden, entbunden werden musste. Gleichzeitig wird jedoch auch wiederholt hervorgehoben, es sei erwartet worden, dass der Funktionswechsel erst anlässlich des VIII. Parteitages vollzogen würde. Dieser Rahmen wäre würdiger gewesen.
Zustimmung besteht überwiegend dazu, dass Gen. Walter Ulbricht in Ehrung seiner hohen Verdienste zum Vorsitzenden der SED benannt wurde und außerdem die Funktion des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR weiter ausüben wird.
(In diesem Zusammenhang treten jedoch vereinzelt Fragen auf, welche Aufgaben mit der Ausübung der Funktion des Vorsitzenden der SED verbunden seien und wie die Schaffung dieser Funktion mit dem Parteistatut der SED zu vereinbaren wäre. Bisher hätte es diese Funktion nicht mehr gegeben, und es sei auch kein Beschluss der Parteiorgane über die Schaffung dieser Funktion bekannt geworden.)
Überwiegend Zustimmung besteht zur Funktionsübernahme durch den Genossen Erich Honecker.8
In der Mehrzahl der bekannt gewordenen Meinungsäußerungen wird die Wahl des Genossen Erich Honecker zum 1. Sekretär des ZK der SED als folgerichtig bezeichnet. Es sei offensichtlich gewesen, dass er in den letzten Jahren an der Seite des Genossen Walter Ulbricht auf diese wichtige Funktion systematisch vorbereitet worden wäre, sodass er über die erforderlichen Voraussetzungen verfüge, mit dem Kollektiv der Parteiführung die Arbeit kontinuierlich fortzusetzen.
In einigen Fällen, jedoch in allen Bezirken der DDR auftretend, werden jedoch auch Vorbehalte zur Funktionsübernahme durch den Genossen Erich Honecker geäußert.
Offensichtlich werden diese Vorbehalte durch Abhören von westlichen Rundfunk- und Fernsehsendern hervorgerufen oder verstärkt. Im Wesentlichen treten dabei folgende Meinungen auf:
- –
Er habe nicht die Traditionen und Erfahrungen im Kampf der Partei und der Arbeiterklasse wie Genosse Walter Ulbricht.
- –
Er besitze gegenwärtig nicht die Sympathien bei der Bevölkerung der DDR wie Gen. Walter Ulbricht und müsse sich diese noch erwerben.
(Dabei werden Vergleiche zwischen dem Auftreten des Genossen Walter Ulbricht und des Genossen Erich Honecker vor Arbeitern und in der Öffentlichkeit angestellt; Gen. Walter Ulbricht wäre »volkstümlicher«, Erich Honecker fände jedoch zum Arbeiter keinen Kontakt.)
- –
Er verfolge einen »harten Kurs« – in Einzelfällen wird von ihm als von einem »Stalinisten« und »Dogmatiker« gesprochen –, was voraussichtlich schon auf dem VIII. Parteitag zu spüren wäre.
Im Zusammenhang mit dieser zuletzt genannten Tendenz in der Reaktion der Bevölkerung der DDR werden gleichzeitig Spekulationen über die zukünftige »Deutschland«-Politik der SED angestellt. In offensichtlicher Auswertung von gegnerischen Argumenten und Kommentaren, die im Westrundfunk und -fernsehen verbreitet wurden, gibt es dazu Auffassungen wie:
- –
Die Politik der Partei werde sich noch stärker auf eine »Abgrenzung gegenüber der BRD« orientieren. Walter Ulbricht wäre in dieser Frage bisher als »ausgleichender Faktor« und »Realist« einzuschätzen gewesen.
Erich Honecker dagegen würde einen »schärferen Kurs« einschlagen, und es seien keine »Zugeständnisse« oder »Kompromisse« gegenüber der BRD oder Westberlin zu erwarten.
- –
Bestehende Hoffnungen auf eine Erleichterung im Reiseverkehr zwischen der DDR und der BRD/Westberlin9 müssten unter der politischen Führung von Erich Honecker begraben werden.
- –
Zusammentreffen zwischen Regierungspersönlichkeiten der DDR und der BRD – genannt werden die Treffen10 Stoph11/Brandt12 – würden der Vergangenheit angehören. Erich Honecker würde keine Politik in dieser Richtung betreiben.
In verstärktem Maße werden sowohl unter Parteimitgliedern als auch unter parteilosen politisch interessierten Bürgern Fragen der Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Parteiführung der SED diskutiert.
Im Vordergrund stehen dabei Argumente, in denen betont wird, die Erfahrungen der letzten Jahre und die bisherige Politik der Partei hätten bewiesen, dass die Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Parteiführung gewährleistet ist. Dadurch hätten auch Erscheinungen, wie sie aus der ČSSR und der VR Polen13 bekannt geworden seien, in der DDR nicht auftreten können. Es sei gewiss, dass die Kollektivität der Parteiführung auch gegenwärtig wirksam sei und daher trotz Funktionsumbildung eine Änderung in der politischen Linie nicht zu erwarten wäre. In vielen Äußerungen wird der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass die Kollektivität der Parteiführung auch in Zukunft weiter erhalten bleiben möge, um Vorkommnisse wie in anderen sozialistischen Ländern von vornherein abzufangen. In einer Reihe Äußerungen – besonders auch aus Kreisen von Angehörigen der Intelligenz – wird in diesem Zusammenhang der Einfluss des Genossen Willi Stoph hervorgehoben. Er habe sich durch sein Auftreten besonders im Zusammenhang mit den Treffen mit Brandt große Sympathien unter der Bevölkerung der DDR erworben; seine Sachlichkeit und seine »nüchterne Einschätzung der Lage« würden sich im führenden Parteikollektiv positiv auswirken.
Weiter wird betont, die »Periode der großen Einzelpersönlichkeiten« in der Führung der SED habe mit der Funktionsabgabe durch den Genossen Walter Ulbricht ihren Abschluss gefunden. Als »Einzelpersönlichkeiten« werden besonders die Genossen Pieck,14 Grotewohl15 und Ulbricht genannt, wobei sich die Genossen Honecker und Stoph als Persönlichkeiten erst einen Namen machen müssten. In den letzten Jahren sei unter Leitung des Genossen Walter Ulbricht die Kollektivität der Parteiführung besonders stark entwickelt worden und würde gegenwärtig und in Zukunft die dominierende Rolle spielen.
Neben den überwiegend positiven Stimmen zur Kollektivität der Parteiführung werden vereinzelt – jedoch ebenfalls in allen Bezirken der DDR auftretend – Zweifel an der Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Parteiführung geäußert.
Danach bestünde seit Langem zwischen Genossen Honecker und Genossen Stoph eine Art Rivalität und der Führungswechsel sei nicht einmütig vonstattengegangen. Gen. Stoph, der in der Parteiführung den »Flügel der gemäßigteren Genossen« anführen würde, habe den »Kampf um den Posten des 1. Sekretärs« verloren.
Mit dieser »These« über die angebliche Rivalität zwischen Mitgliedern des Politbüros werden Spekulationen verbunden, wonach nach der Funktionsabgabe durch den Genossen Walter Ulbricht, der zwischen beiden Flügeln innerhalb der Parteiführung eine »Vermittlerrolle« gespielt habe, mit weiteren »Machtkämpfen«, die auch nach außen nicht immer zu verbergen seien, zu rechnen sei.16
Im Folgenden werden einige öfters auftretende Fragen und Unklarheiten im Zusammenhang mit der Funktionsabgabe durch den Genossen Walter Ulbricht zusammengefasst.
Dabei handelt es sich um Argumente, die in allen Bezirken der DDR und in allen Bevölkerungsschichten, besonders aber auch unter Jugendlichen, auftreten.
- –
Warum erfolgte die Entbindung von der Funktion nicht anlässlich des VIII. Parteitages und anlässlich einer entsprechenden würdigen Ehrung der Verdienste des Gen. Walter Ulbricht?
Gen. Walter Ulbricht dürfte nicht sang- und klanglos verabschiedet werden, sondern hätte zum Abschluss seiner aktiven Arbeit eine entsprechende Ehrung und Auszeichnung verdient.
- –
Welche Arbeit und Verantwortung ist mit der neuen Funktion des Vorsitzenden der SED verbunden?
Wie vereinbart sich die Schaffung dieser neuen Funktion mit dem Parteistatut und der bisher gültigen Struktur der Partei?
- –
Soll der Gen. Walter Ulbricht trotz seines Alters und seines Gesundheitszustandes die Funktion des Vorsitzenden des Staatsrates weiter ausüben oder wäre es nicht besser, wenn er auch von dieser Verantwortung entbunden wird?17
- –
Ist in Zukunft eine Trennung der Verantwortung bei den Funktionen 1. Sekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates zu erwarten oder wird der Gen. Honecker automatisch beide Funktionen übernehmen? Eine »Personalunion« wäre jedoch nicht richtig.
- –
Behält Gen. Ulbricht die Funktion des Vorsitzenden des Verteidigungsrates der DDR?18 Hat er in Zukunft noch die Übersicht, um in diesem Gremium entscheidende Fragen zu klären?
- –
Warum wurde Gen. E. Honecker auf einem Plenum zum 1. Sekretär gewählt? Ist dazu nicht eine Wahl auf dem Parteitag erforderlich?
Negierende, abwertende und direkt feindliche Äußerungen im Zusammenhang mit der Funktionsabgabe des Gen. W. Ulbricht wurden nur vereinzelt bekannt.
Sie stammen überwiegend von Bürgern, die dem MfS bereits als negativ oder feindlich bekannt sind oder die bereits operativ bearbeitet werden. Typisch ist, dass sie sich in den überwiegenden Fällen nicht gegen die Person des Gen. W. Ulbricht, sondern gegen die Politik der Partei im Allgemeinen und gegen die Freundschaft mit der SU und KPdSU richten.
Folgende Tendenzen werden sichtbar:
- –
innerhalb der Parteiführung der SED vollziehe sich ein »Machtwechsel«, Ulbricht sei zu alt, um sich noch durchsetzen zu können;
- –
die Rivalitäten in der Parteiführung der SED würden in nächster Zukunft sichtbar; der VIII. Parteitag werde noch eine Reihe von Funktionsentbindungen und Ablösungen bringen;
- –
der Wechsel in der Parteiführung sei »vom Kreml diktiert« worden;
- –
an der Politik ändere sich nichts, die SED müsse das ausführen, was die KPdSU befehle;
- –
die »wahren Gründe« über die personellen Veränderungen würden sowieso erst später bekannt; in anderen Parteien sozialistischer Länder war das auch so;
- –
es hätte jemand gefunden werden müssen, der für die schwierige wirtschaftliche Lage und die Versorgungsschwierigkeiten in der DDR »den Kopf hinhält«; jetzt könne W. Ulbricht »alles in die Schuhe geschoben werden«, und die Parteiführung habe für die nächste Zeit erst einmal eine Entschuldigung.
Ein Teil dieser feindlichen Argumente richtet sich gegen die Person des Gen. Honecker und gegen die von ihm erwartete Deutschlandpolitik, wie das bereits im ersten Teil der Information eingeschätzt wurde.