Reiseantrag des Schriftstellers Wolf Biermann
12. November 1971
Information Nr. 1078/71 über die Absicht des »freischaffenden Schriftstellers« Wolf Biermann, einen Antrag auf eine Reise nach Schweden zu stellen
Dem MfS wurde intern bekannt, dass Biermann, Karl Wolf,1 geboren 15.11.1936 in Hamburg, wohnhaft 104 Berlin, Chausseestraße 131, beabsichtigt, beim Ministerium für Kultur eine Reisegenehmigung nach Schweden zu beantragen. Biermann will sich in seinem Antrag auf eine persönliche Einladung aus Göteborg beziehen, wo am 19. November 1971 am Stadttheater die Premiere seines Stückes »Der Dra-Dra«2 erfolgen soll.
Da die Einladung aus Göteborg auch seine Lebensgefährtin Hagen, Eva-Maria,3 geborene Buchholz, geboren 19.10.1934 in Költschen, wohnhaft 104 Berlin, [Straße, Nr.], einschließt, besteht die Absicht, zugleich für diese eine Ausreisegenehmigung zu beantragen.
Zur Aussage des Stückes »Der Dra-Dra« von Biermann wurde u. a. Folgendes bekannt:
Biermann stellte sein Theaterstück »Der Dra-Dra« 1970 fertig. Im April 1971 wurde es in den Münchner Kammerspielen aufgeführt. Es handelt sich dabei um eine Fabel, die sich vom Motiv her an Jewgeni Schwarz’4 Parabelstück »Der Drache«5 anlehnt und auf der Grundlage einer Drachentöterlegende aufgebaut ist.
Das Theaterstück soll von der Aussage her gesellschaftliche Probleme des Kampfes unterdrückter Menschen gegen ihre Unterdrücker sichtbar machen. Dabei unterlässt es Biermann offensichtlich bewusst, konkret auszudrücken, für welche Gesellschaftsordnung sein Stück zutreffend ist. Er stellt es den Akteuren frei, diese Fabel gegen die Verhältnisse in der kapitalistischen Ausbeuterordnung oder gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung auszulegen. In »Anmerkungen« zur Aufführung weist Biermann darauf hin, dass dieses Stück nicht »gegen alle möglichen Drachen der Welt zu spielen ist«, sondern es sollte jeweils »gegen die eigenen Drachen in Szene gesetzt werden«. Bezeichnend für seine Zielsetzung im Zusammenhang mit seinem Stück »Der Dra-Dra« ist Biermanns Äußerung einem »Spiegel«-Journalisten gegenüber (veröffentlicht im »Spiegel« Nr. 10/71),6 wo er sich als »staatlich anerkannter Staatsfeind der DDR« bezeichnete, »der in der DDR kein Theaterstück gegen den Drachen in der DDR aufführen darf«.7
In diesem Sinne stellte Biermann wiederholt den »Drachen« der Staatsmacht gleich, die ein den Bürgern entgegengesetztes feindliches Unterdrückungs- und Ausbeutungsinstrument darstellen würde.
Im genannten Interview erklärte Biermann, dass »sein Drache ein bewährtes Gleichnis für reaktionäre Gewalt, parasitäre Macht und konterrevolutionären Terror ist«.8
In seinem Vorwort zum »Der Dra-Dra« im Programmheft der Kammerspiele München schreibt Biermann: »Da ich selbst in einem Land lebe, in dem die Kommunisten nicht mehr gegen die Kapitalisten kämpfen müssen, sondern schon für den Sozialismus kämpfen dürfen, hat das Dra-Dra-Stück auch antistalinistische Dimensionen.«
In der westdeutschen Zeitung »Die Zeit« wird am 30.4.19719 sein Stück u. a. wie folgt charakterisiert:
»Biermanns Stück liefert eine listige, anspielungsreiche, unverbiestert fröhliche Auseinandersetzung mit der DDR. Der Drachentöter Hans Folk bekämpft die immer wieder nachwachsende Brut des Stalinismus, die ideologische Versteinerung, die kleinbürgerlich durchwachsene Mentalität innerhalb der sozialistischen Strukturen, die totalitären Abweichungen von einem auf Befreiung hin formulierten Entwurf.«
Die Kritiker der »Dra-Dra«-Aufführungen in München unterstrichen diese politische Richtung des Stückes ebenfalls. Im »Spiegel« wurde dazu eingeschätzt:
»Den Besuchern wird freigestellt, wen sie für den größten Parasiten halten, den Aufsichtsratsvorsitzenden Abs oder den Bürgermeister von Leipzig … Die meisten bundesdeutschen Leser und Theaterbesucher halten den ›Dra-Dra‹ nicht ohne Grund für einen Protest gegen die Politik der DDR-Politiker. Es ist deshalb logisch, dass sie den Drachen eher im Osten suchen als im Westen.«10
Von progressiven Literaturschaffenden wurde das Stück mehrfach als eine mühsam in »revolutionäres Gewand« gehüllte Anti-Konzeption zur tatsächlichen revolutionären Bewegung und Tätigkeit und als Empfehlung für konterrevolutionäre Aktionen bewertet.
Obwohl sich Biermann in Interviews häufig zu den Veröffentlichungen in den westlichen Publikationsorganen über seine Person und seine Arbeiten äußerte, hat er bisher nie eine gegenteile Auffassung zu den vorstehend aufgeführten Einschätzungen vertreten und damit sein Einverständnis gegeben.
Zur Person Biermanns und zu seiner Rolle ist u. a. Folgendes bekannt:
Biermann steht seit Jahren in keinem ordentlichen Arbeitsverhältnis. Er lebt ausschließlich von Einnahmen aus in der BRD und dem kapitalistischen Ausland veröffentlichten »Gedichte, Balladen«11 und Schallplatten. Es wurde bekannt, dass Biermann in den Jahren 1965 bis 1968 allein über die AWA (Anstalt zur Wahrung öffentlicher Aufführungsrechte) 32 512,49 M für in der BRD von ihm verlegte und in Schallplatten oder im Rundfunk/Fernsehen veröffentlichte »Lieder und Balladen« erhalten hat. Dabei handelt es sich um offiziell bekannte und überwiesene Honorare.
Darüber hinaus erhielt er in dieser Zeit von der AWA 16 215 DM in westdeutscher Währung.
Durch illegal transferierte finanzielle und materielle Zuwendungen erhöhten sich diese Beträge wesentlich.
Soweit bisher bekannt wurde, sind von Biermann in der BRD über den Verleger Wagenbach12 und die Philipps-Produktion über 48 000 Schallplatten produziert und u. a. in der BRD, Westberlin, Holland, Österreich, Dänemark und in der Schweiz verkauft worden.
Seine »Lieder und Balladen« sind u. a. im westdeutschen/Westberliner, im englischen, österreichischen und süd-afrikanischen Rundfunk gesendet worden.
Die Arbeiten, die Biermann in der BRD und im kapitalistischen Ausland veröffentlicht, werden von ihm seit 1965 im Büro für Urheberrechte der DDR nicht vorgelegt, sondern illegal aus der DDR ausgeschleust.
In den letzten Jahren schrieb Biermann fortgesetzt Gedichte und Lieder, die sich gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR, die sozialistische Staatsmacht, die führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse und den proletarischen Internationalismus sowie gegen führende Repräsentanten unseres Staates richten.
Der politisch-ideologisch zersetzende Charakter der Gedichte und Lieder Biermanns wird u. a. in einem Gutachten namhafter Literaturwissenschaftler und Kulturfunktionäre der DDR – wie dem Direktor des Instituts »Johannes R. Becher« Leipzig, Prof. Max Walter Schulz,13 und dem Chefredakteur der »Neuen Deutschen Literatur«, Dr. phil. Werner Neubert14 – nachgewiesen. In diesem Gutachten, in dem die von Biermann verfassten und im Westberliner Verlag Klaus Wagenbach veröffentlichten Titel eingeschätzt werden, heißt es u. a.:
»Die Grundpositionen sind u. a. gesellschaftliche Äußerungen, in denen widersprüchliche Erscheinungen unseres gesellschaftlichen Lebens von ihren gesetzmäßigen Ursachen losgelöst betrachtet und ausschließlich auf das Versagen von Partei- und Staatsfunktionären, auf Bürokratismus, Karrierismus, Heuchelei usw. zurückgeführt werden … Sein Schaffen erzeugt ein abstraktes, subjektivistisch gefärbtes Bild vom Sozialismus, das unserer gesellschaftlichen Entwicklung provokativ entgegengestellt wird.«
Allgemein ist einzuschätzen – und das kommt auch in dem Gutachten zum Ausdruck –, dass Biermanns »literarische« Arbeiten im Zusammenhang mit den konterrevolutionären Ereignissen in der ČSSR15 eine Steigerung der feindlichen Aussagen aufweisen. In dem Gutachten z. B. heißt es dazu, dass die »in dieser und der nachfolgenden Zeit entstandenen Gedichte und Arbeiten ausgesprochen taktische Ratschläge für Konterrevolutionäre« beinhalten.
In dem Gutachten wird weiter festgestellt:
»Die Gutachterkommission kam in diesem Zusammenhang nicht umhin, auf die zumindest objektiv gegebene Synchronisation der Grundpositionen des Autors mit der Taktik des imperialistischen Gegners zu verweisen, der die sozialistische Staatsmacht, die führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse, die politisch-moralische Einheit der sozialistischen Menschengemeinschaft, in erhöhtem Maße mithmilfe einer pseudo-marxistischen, pseudo-sozialistischen Kritik zu unterhöhlen versucht. Hieraus erklärt sich auch zum großen Teil das Phänomen der Publizität des Verfassers in Westdeutschland und anderen kapitalistischen Ländern. Jede unvoreingenommene Wertung der Schriften von Biermann wird die Tatsache festzustellen haben, dass die ungewöhnliche Aufmerksamkeit bürgerlicher Institutionen nicht primär aus der künstlerischen Substanz dieses Autors, sondern aus dessen spektakulärer Haltung zum bestehenden Staat der DDR folgt.«
Über sein Wirken in der DDR erklärte Biermann u. a. in einem »Spiegel«-Interview (»Spiegel« 10/71): »Hier in der DDR, wo ich nicht verbreitet werden darf, bin ich mehr verbreitet als dort, wo meine Bücher in den Schaufenstern stehen.«
Danach schildert er seine Methode, durch die er sich bei DDR-Bürgern populär machen will: »Tonbandkopien und Schreibmaschinendurchschläge scheinen moderne und intensivere Verbreitungstechniken zu sein als Schallplatten und Taschenbücher.«
Dem MfS ist bekannt, dass Biermann in seiner Wohnung ständig Jugendliche aus der DDR und dem kapitalistischen Ausland, aber auch andere Personen empfängt, denen er entsprechende Ratschläge im o. g. Sinne erteilt und die er zu erneuten Zusammenkünften auffordert.
Biermann ist immer stärker bemüht, die Kontakte zu Jugendlichen in der DDR noch weiter auszubauen und sich auch eine breitere Basis in der BRD und im kapitalistischen Ausland zu schaffen.
Das erfolgt in einem ständigen engen Kontakt zu Robert Havemann16 und in jüngster Zeit auch zu Stefan Heym.17
In letzter Zeit gibt es Bemühungen Biermanns, persönliche Kontakte zu solchen Literaturschaffenden der Sowjetunion anzuknüpfen, die von den sowjetischen Organen als negativ und revisionistisch eingeschätzt werden. Diese Personen suchte er auch während einer Touristenreise in die SU 1971 auf.
Biermann versucht, seine feindlichen, politisch-ideologisch zersetzenden Arbeiten auch in der SU einem dafür geeignet erscheinenden Personenkreis zugänglich zu machen.
Im Zusammenhang mit dem Vorhaben des Biermann, anlässlich der Aufführung seines Stückes »Der Dra-Dra« in Göteborg um Ausreise nach Schweden zu ersuchen, wird unter Berücksichtigung der bekannten und in dieser Information nochmals zusammenfassend genannten Faktoren gebeten zu entscheiden, ob dem Ausreiseantrag stattgegeben werden sollte mit dem Ziel, Biermann nach erfolgter Ausreise die Staatsbürgerschaft der DDR abzuerkennen und seine Rückkehr in die DDR zu unterbinden.
(Die rechtlichen Grundlagen und Beweise dafür sind vorhanden.)
Da der Ausreiseantrag auch seine Lebensgefährtin Eva-Maria Hagen betrifft, wäre es zweckmäßig, bei einer diesbezüglichen Entscheidung auch der Hagen unter gleichen Bedingungen die Ausreise zu gestatten.18