Schwere Verbrechen des Grenzsoldaten Gerhard Meyer
27. Dezember 1971
Information Nr. 1231/71 über schwere Verbrechen des NVA-Angehörigen Soldat Meyer, Gerhard in der Zeit vom 24. bis 25. Dezember 1971
Am 24.12.1971, um 0.05 Uhr, hat der Soldat Meyer, Gerhard,1 geboren [Tag, Monat] 21.7.1952, wohnhaft Kieselbach, [Kreis] Bad Salzungen, [Straße, Nr.], NVA seit 1.11.1971 (GWD), Pionier in der PiK-15 Sonneberg, GR-15, Grenzkommando Süd, bewaffnet mit einer MPi und 60 Schuss Munition, seine Einheit verlassen und in der Folgezeit
- –
den Arzt Dr. [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1892 in [Ort], wohnhaft Sonneberg, [Straße, Nr.], verheiratet, durch Schlag mit MPi-Kolben schwer verletzt (Schädelfraktur);
- –
den Unterleutnant der VP Michaelis, Günther2, geboren [Tag, Monat] 1933, wohnhaft Sachsenbrunn, [Kreis] Hildburghausen, ABV in Sachsenbrunn, verheiratet, zwei Kinder durch MPi-Schüsse tödlich verletzt;
- –
die Säuglingsschwester [Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1952 in [Ort], wohnhaft [Ort, Nr.], [Kreis], mit MPi-Kolben verletzt (Kopfplatzwunde).
Im Ergebnis der sofort eingeleiteten umfangreichen Fahndungsmaßnahmen in den Bezirken Suhl und Gera wurde der Meyer am 25.12.1971, um 10.06 Uhr, in einem Wochenendhaus in Saalfeld, Am Lärchenhölzchen, festgestellt.
Bei der versuchten Festnahme kam es zu einem gegenseitigen Schusswechsel, bei dem der Major der VP, Adam, Helmut,3 geboren [Tag, Monat] 1929 in Rudolstadt, wohnhaft Saalfeld, [Straße, Nr.], erlernter Beruf: Tischler, 1. Stellv. des Leiters des VPKA Saalfeld, verheiratet, fünf Kinder [Alter], durch einen MPi-Schuss des Meyer tödlich verletzt wurde.
Meyer erlitt bei diesem Schusswechsel ebenfalls Verletzungen, die zum sofortigen Tod führten.
Die Fahndung nach dem M. und die ersten Untersuchungen seiner Verbrechen führten zu folgenden Feststellungen und Rekonstruktionen:
M. wurde am 23.12.1971 erstmalig mit einer Waffe (Maschinen-Pistole M 43 und 60 Schuss Munition) ausgerüstet und von 22.00 bis 24.00 Uhr als Wachposten in der Pionierkompanie am Kfz-Park eingesetzt. Bei seiner Ablösung um 24.00 Uhr entfernte sich Meyer von seiner Diensteinheit. Nach längerem Suchen wurde um 1.20 Uhr der Operative Diensthabende des Grenzregimentes Sonneberg verständigt, der entsprechende Fahndungsmaßnahmen einleitete.
Um 1.05 Uhr teilte die Ehefrau des Arztes [Name 1, Vorname] aus Sonneberg dem dortigen VPKA mit, dass ihr Ehemann nicht nach Hause gekommen sei. Um 2.00 Uhr wurde das VPKA Hildburghausen verständigt, dass auf dem Gelände des Krankenhauses Eisfeld ein heller Pkw Typ Opel-Kapitän aufgefunden wurde. Die Überprüfung des Kennzeichens ergab, dass es sich um den Pkw des Arztes [Name 1] aus Sonneberg handelte.
Gegen 6.30 Uhr wurde [Name 1] mit einer stark blutenden Platzwunde am Kopf in einer aufgebrochenen Gartenlaube in Eisfeld (ca. 150 m vom Pkw entfernt) aufgefunden.
Aufgrund der in dieser Gartenlaube sichergestellten Kleidungsgegenstände der NVA und der Zeugenaussagen des [Name 1] wurde zweifelsfrei festgestellt, dass es sich bei dem Täter um den Meyer handelt.
[Name 1] war von Meyer unter Waffenandrohung gezwungen worden, ihn mit seinem Pkw nach Eisfeld zu fahren.
Am 24.12.1971, gegen 4.50 Uhr, wurde im 2,5 km entfernten Sachsenbrunn von mehreren Bürgern der ABV Michaelis, Günther – der im Rahmen der Fahndungsmaßnahmen wirkte – schwer verletzt aufgefunden. Der ABV war voll bei Bewusstsein und gab an, dass er angeschossen worden sei. Auf dem Transport ins Krankenhaus verstarb Genosse Michaelis (Verblutung infolge eines Lungendurchschusses) gegen 5.20 Uhr.
Die am Tatort aufgefundenen zwei Patronenhülsen M 43 und ein Projektil vom Typ M 43 beweisen eindeutig, dass die Schüsse aus der Waffe des Meyer abgegeben worden waren.
Am 24.12.1971, gegen 20.05 Uhr, wurde die Säuglingsschwester [Name 2, Vorname] in der Nähe des Kreiskrankenhauses Saalfeld durch Meyer mit der MPi bedroht und in einem Handgemenge am Kopf verletzt (Kopfplatzwunde).
Danach flüchtete Meyer erneut.
Bei der sofort vorgenommenen Tatortuntersuchung wurden ein Seitengewehr für Maschinenpistole, Modell Kalaschnikow, mit der Nummer Z 6748 und eine hellblaue Dreifarben-Taschenlampe sichergestellt.
Im Rahmen der präzisierten Fahndungsmaßnahmen wurde Meyer am 25.12.1971, um 10.06 Uhr, in einem unbewohnten Wochenendhaus in Saalfeld, Am Lärchenhölzchen, ca. 200 m südwestlich des Kreiskrankenhauses Saalfeld, festgestellt.
Auf der Grundlage der Weisungen des Ministers des Innern wurde der Kommandeur der 10. VP-Bereitschaft Rudolstadt, Oberstleutnant Hennig,4 beauftragt, mit Teilkräften der Bereitschaft und mittels SPW den Widerstand des Täters risikolos zu brechen und keine weiteren Verbrechen zuzulassen.
Zur Realisierung der Aufgabe wurde dem Kommandeur der 10. VP-Bereitschaft Rudolstadt der 1. Stellvertreter des Leiters des VPKA Saalfeld, Major der VP Adam, zugeordnet.
Meyer wurde mehrfach über ein Hand-Megaphon aufgefordert, die Waffe abzulegen und das Objekt zu verlassen, was von ihm mit den Worten abgelehnt wurde: »Ich komme nicht heraus, wenn Sie mich haben wollen, müssen Sie mich erschießen, dann brauche ich es nicht selbst zu tun.«
Nach weiteren Aufforderungen, sich zu ergeben und nach Einsatz von Reizkörpern hat M. zwei weitere Schüsse abgefeuert. Aufgrund des dabei wahrgenommenen dumpfen Klanges der Schüsse und der in der Folge eingetretenen relativ längeren Ruhe vermutete Oberstleutnant der VP Hennig, dass der Meyer Selbstmord begangen hat. Diese Schlussfolgerung veranlasste ihn, die Eingangstür des Hauses, die der Täter von innen verbarrikadiert hatte, unter Zuhilfenahme von Werkzeug gewaltsam öffnen zu lassen. Zur Unterstützung der Handlungen befahl Oberstleutnant der VP Hennig dem Major Adam, mit einem weiteren SPW an die Giebelseite des Hauses heranzufahren. Bei Annäherung dieses SPW an das Objekt wurde von Meyer ein weiterer Schuss abgegeben.
Nach einem erneuten Einsatz von Reizkörpern begaben sich Oberstleutnant der VP Hennig, Major der VP Adam, Hauptmann der VP Samper5 und Oberwachtmeister der VP Meinhardt6 unter gegenseitigem Feuerschutz in das Objekt. Im oberen Stockwerk stand Oberstleutnant der VP Hennig nach Öffnen der Tür sofort dem Meyer in einer Entfernung von ca. 3,5 m gegenüber. In dieser Situation richtete Meyer die MPi auf Oberstleutnant Hennig und sagte: »Schießen Sie!«
Durch Oberstleutnant der VP Hennig und Major der VP Adam, die beide ihre Maschinenpistolen ebenfalls in Anschlag hielten, wurde ständig auf Meyer mit Worten eingewirkt, die Waffe wegzulegen und sich zu ergeben.
Um Meyer zum Niederlegen der Waffe zu bewegen, legte Oberstleutnant der VP Hennig selbst seine mitgeführte MPi im gesicherten Zustand ab und forderte Meyer auf, ebenso zu handeln. Auf mehrere Versuche der Genossen Oberstleutnant der VP Hennig und Major der VP Adam, auf Meyer zuzugehen, reagierte dieser sofort, indem er mit seiner Maschinenpistole auf diese zielte. Beim plötzlichen Versuch von Meyer, durch das Fenster zu flüchten, sprang Major der VP Adam auf Meyer zu – vermutlich in der Absicht, diesen zu entwaffnen.
Meyer wandte sich im gleichen Moment dem Major der VP Adam zu, und beide schossen – nach übereinstimmenden Aussagen der Genossen Oberstleutnant der VP Hennig und Hauptmann der VP Samper – fast im gleichen Augenblick aufeinander und brachen sofort zusammen. Meyer erlag den erlittenen Schussverletzungen sofort am Tatort. Major der VP Adam wurde durch einen Unterleibsschuss schwer verletzt und nach Erste-Hilfe-Leistung durch den am Einsatzort befindlichen Arzt in das Kreiskrankenhaus Saalfeld überführt, wo er während der sofort durchgeführten Operation an den Folgen der Verletzungen verstarb.
Zur Person des Täters:
M. besuchte die Polytechnische Oberschule in Kieselbach bis zum Abschluss der 10. Klasse im Jahre 1969. Anschließend lernte er als Aufbereitungslehrling im VEB Kalikombinat Werra, Objekt »Ernst Thälmann«.
Er entstammte einer Arbeiterfamilie. Sein Vater ist Genossenschaftsbauer in der LPG Kieselbach. Seine Erziehung im Elternhaus erfolgte im Sinne unseres Staates. Während seiner Schulzeit gehörte er der Pionierorganisation an und wurde 1967 Mitglied der FDJ.
Während seiner Lehrzeit zeigte M. wenig Interesse für seinen Beruf und erreichte nur befriedigende theoretische und fachliche Leistungen.
Bereits während seiner Schulzeit, aber auch während seiner Lehrzeit lebte er sehr zurückgezogen und fand keinen richtigen Kontakt zum Kollektiv. Er hatte einen sehr ruhigen und verschlossenen Charakter. Er ist als ausgeprägter Einzelgänger zu bezeichnen, der sich fast vollkommen abkapselte und keinen Umgang pflegte. Selbst gegenüber seinen Eltern war er sehr wortkarg und verschlossen.
M. besuchte keine Gaststätten, auch keine Veranstaltungen, trank keinen Alkohol und war Nichtraucher. Auch zu dem anderen Geschlecht pflegte er keinen Kontakt. Seine Freizeit verbrachte er meist zu Hause, betätigte sich aber auch zeitweilig in der LPG des Ortes. In der Freizeit beschäftigte er sich noch mit utopischer Literatur, sah Fernsehen, auch Westfernsehen.
Negatives über ihn war nicht bekannt. Er war sonst freundlich und hilfsbereit.
Nach seiner Einberufung zur NVA am 2.11.1971 stand er postalisch mit seinen Eltern in Verbindung und brachte auch zum Ausdruck, dass es ihm bei der NVA gefällt. Die von ihm zuvor geäußerten Voreingenommenheiten zur NVA bezeichnete er in diesem Zusammenhang als unberechtigt.
Auch während der kurzen Zugehörigkeit zur NVA zeigten sich die bereits erwähnten Charaktereigenschaften. Er fügte sich nur schwer in das Kollektiv ein und reagierte auf Kritik aufbrausend. Teilweise trat er undiszipliniert auf, musste jedoch disziplinarisch nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
Seine politischen Grundkenntnisse wurden als unzureichend eingeschätzt. Er besaß aufgrund geistiger Unbeweglichkeit nur ein schlechtes Aufnahmevermögen.
Als Hinweise auf das mögliche Motiv seiner Verbrechen liegen bis jetzt nur die von dem verletzten [Name 2] wiedergegebenen Äußerungen vor, wonach Meyer »das Leben bis oben hin satthabe und ihm daran nichts mehr liege«.
Von seiner Mutter wird noch angegeben, dass Meyer vor ca. zwei Jahren einen Badeunfall (Gehirnerschütterung) erlitten und seitdem häufig über Kopfschmerzen geklagt habe.
Die Untersuchungen zu den von M. begangenen Verbrechen, zu den Tathergängen und Tatmotiven, den tatbegünstigenden Umständen und Bedingungen sowie die Auswertung der Führung und Realisierung der Fahndungsmaßnahmen und des Zusammenwirkens der einbezogenen Schutz- und Sicherheitsorgane werden fortgeführt.