Tätlichkeiten gegen Angehörige der sowjetischen Botschaft
19. Mai 1971
Information Nr. 482/71 über das tätliche Vorgehen gegen Angehörige der sowjetischen Botschaft in der DDR am 15. Mai 1971 in Berlin-Biesdorf
Am 15.5.1971, gegen 21.50 Uhr, belästigten vier männliche Jugendliche einen in unmittelbarer Nähe des geschlossenen Bahnüberganges Berlin-Biesdorf haltenden Pkw »GAS 24« (neuer Wolga) der Botschaft der UdSSR in der DDR (polizeiliches Kennzeichen [Kennzeichen]) und versetzten dem Fahrzeugführer, den Bürger der UdSSR [Vorname Name 1], geboren am [Tag, Monat] 1946, Mitarbeiter-Nr. [Nr.], ausgestellt vom MfAA der DDR, einen Faustschlag ins Gesicht.
Im Pkw befand sich außerdem der Sowjetbürger [Vorname Name 2], geboren am [Tag, Monat] 1948, wohnhaft Berlin-Karlshorst, [Straße, Nr.].
Nachdem die Jugendlichen das polizeiliche Kennzeichen des Pkw und damit erkannt hatten, dass es sich um ein Fahrzeug des Diplomatischen Korps handelte, ließen sie von weiteren derartigen Handlungen ab und das Fahrzeug passierte den inzwischen wieder geöffneten Bahnübergang.
Die sofort eingeleiteten Maßnahmen führten zur Festnahme der Täter [Name 3, Vorname], 16 Jahre alt, Schüler der 10. Klasse der 21. Polytechnischen Oberschule in Berlin-Kaulsdorf, wohnhaft Berlin-Biesdorf, [Straße, Nr.], Mitglied der FDJ und des DTSB; [Name 4, Vorname], 17 Jahre alt, Fleischer im VEB Fleischkombinat Berlin, wohnhaft Berlin-Biesdorf, [Straße, Nr.], Mitglied des FDGB und des DTSB; [Name 5, Vorname], 18 Jahre alt, Schlosser im VEB Lufttechnische Anlagen Berlin-Lichtenberg, wohnhaft Berlin-Biesdorf, [Straße, Nr.], Mitglied der FDJ, der GST, des FDGB und des DTSB und [Name 6, Vorname], 16 Jahre alt, Betonbauer-Lehrling im VEB BMK Ost Fürstenwalde, Betriebsteil Bernau, wohnhaft Berlin-Marzahn, [Straße, Nr.], Mitglied der DSF und der GST.
Die vom MfS geführten Untersuchungen ergaben:
Die Beschuldigten verließen am 15.5.1971, gegen 21.30 Uhr, die am Bahnhof Biesdorf gelegene Gaststätte »Neumann« – Oberfeldstraße – in der sie gemeinsam sechs bis zehn Glas Bier getrunken hatten.
Dabei forderte [Name 4] die anderen Beschuldigten auf, Bürger zu belästigen und tätliche Auseinandersetzungen zu provozieren.
Als sie den genannten Pkw bemerkten, gingen sie – in der Annahme, einen mit Ausländern besetzten Pkw westlicher Herkunft vor sich zu haben – zu ihren rowdyhaften Handlungen über.
Dabei wollte [Name 3] mit einem Insassen des Pkw eine tätliche Auseinandersetzung herbeiführen, um sich gegenüber den anderen Jugendlichen hervorzutun. Er schlug deshalb mehrfach auf Kofferraumdeckel, Heck- und Seitenscheiben des Fahrzeuges. Durch Gesten zum Fahrzeugführer brachte er zum Ausdruck, ihn schlagen zu wollen.
Nachdem der Fahrzeugführer die Fensterscheibe des Pkw öffnete, um [Name 3] zum Unterlassen dieser Handlung aufzufordern, wurde er von [Name 3] mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Danach unternahm [Name 3] den Versuch, die Fahrzeugtür des Pkw gewaltsam zu öffnen.
Obwohl [Name 3] erkannte, dass es sich um einen sowjetischen Bürger handelte, nahm er von seinem Vorhaben nicht Abstand. Ihn habe die Nationalität des Angegriffenen bei der Verwirklichung seines Zieles, sich gegenüber den anderen Jugendlichen hervorzuheben, nicht interessiert. Erst nachdem er bemerkte, dass es sich um ein Diplomatenfahrzeug handelte, stellte er seine Handlungen ein.
In den bisherigen Untersuchungen gaben die Beschuldigten übereinstimmend an, dass sie wegen der von ihnen befürchteten strafrechtlichen Folgen nicht beabsichtigt hatten, Angehörige diplomatischer Vertretungen anzugreifen.
Anschließend provozierten sie in unmittelbarer Nähe zwei Ehepaare, u. a. einen in Zivilkleidung befindlichen Hauptwachtmeister der VP, den [Name 4] durch zwei Faustschläge ins Gesicht so verletzte, dass er Hämatome am Kopf und eine Fraktur des rechten Daumens davontrug.
Die Beschuldigten entstammen geordneten Familienverhältnissen. Sie bereiteten bisher keine erzieherischen Schwierigkeiten und erreichten in der schulischen bzw. beruflichen Ausbildung durchschnittliche Ergebnisse.
Alle vier Jugendlichen sind noch bei ihren Eltern wohnhaft.
In ihrer Freizeit empfangen sie Sendungen westlicher Rundfunk- und Fernsehstationen, insbesondere Kriminalfilme, Beatmusik, Sport- und Unterhaltungssendungen.
Sie haben sich bisher nicht tiefgründig mit politischen Problemen befasst und verfügen nur über eine labile politische Einstellung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR.
Sie vertreten insbesondere solche Auffassungen, dass die Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der DDR ihre persönliche Freiheit einschränken.
Gegen die Beschuldigten wurde ein EV mit Haft eingeleitet. Die Untersuchungen zur weiteren Aufklärung der Täterpersönlichkeiten, der Tatbeiträge und der Motivation der Täter werden fortgesetzt.