Tod des stellv. Ministerratsvorsitzenden Werner Titel
15. November 1971
Information Nr. 1092/71 über den Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Dr. Titel, Werner
Im Verlaufe umfangreicher Maßnahmen zur weiteren Aufklärung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der damit verbundenen Aufbereitung, Sichtung und Klärung entsprechender Archivmaterialien wurde durch das MfS festgestellt, dass ein gewisser Titel, Adolf,1 geboren am 10.4.1908 in Kolberg,2 ehemals wohnhaft in Potsdam, [Straße Nr.], Beruf: Schuhmachermeister, im Februar 1948 zusammen mit einem weiteren Mittäter durch das Landgericht Potsdam wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt wurde.
Die zur weiteren Aufklärung aller personellen und sachlichen Zusammenhänge eingeleiteten Ermittlungen führten zu dem Ergebnis, dass es sich dabei um den Vater des Dr. Titel, Werner3 geboren am 2.5.1931, wohnhaft in Berlin-Kaulsdorf, [Straße Nr.], Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Mitglied der DBD handelt.
Dabei wurde festgestellt, dass in den Personalunterlagen des Dr. Titel zwar Angaben über die Zugehörigkeit seines Vaters zur NSDAP, SS und Polizei enthalten sind, dagegen aber zu seiner Beteiligung an faschistischen Verbrechen und zu der im Jahre 1948 erfolgten Verurteilung keine Aussagen getroffen werden.
Die bisherigen Überprüfungen zur Person des Titel, Adolf ergaben Folgendes:
Titel, der seit 1.8.1932 Mitglied der NSDAP und seit Februar 1933 Angehöriger der SS war, hat zusammen mit anderen SS-Leuten in der Nacht vom 14. zum 15.4.1933 einen sozial-demokratischen Parteifunktionär in Arnswalde bei Potsdam4 grausam misshandelt und ermordet. Die Tat geschah im Auftrage höherer SS-Führer.
Titel, Adolf wurde, nachdem er von der damaligen Polizei als Mittäter ermittelt und inhaftiert worden war, auf Befehl des berüchtigten Kriegsverbrechers von dem Bach-Zelewski5 von einem SS-Kommando aus dem Gefängnis Landsberg6 befreit.
Titel wurde gemeinsam mit dem ebenfalls an dem Mord beteiligten Marten7 in ein Dorf in der Nähe von Frankfurt (O) gebracht und über die SS-Führung mit falschen Papieren ausgestattet.
Noch im Jahre 1933 wurde er als Aufseher im KZ-Sonnenburg8 eingesetzt (weitere Angaben liegen dazu bisher nicht vor).
Vom 1.10.1935 bis zum 28.11.1935 leistete er als Schütze bei der Infanterie seinen aktiven Wehrdienst ab.
Am 1.4.1939 wurde Titel als Oberwachtmeister in den Polizeidienst übernommen und 1944 bei der faschistischen Polizeiverwaltung Potsdam, Polizei-Landesschützenkompanie, zum Polizeihauptwachtmeister befördert.
Nach eigenen Angaben ist T. von Oktober 1943 bis Juli 1944 beim Gendarmeriekommandeur in Schytomyr9/SU eingesetzt gewesen, angeblich als Kammerwachtmeister.
Während der Dienstzeit bei der faschistischen Polizei wurde T. mit dem Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse mit Schwertern ausgezeichnet.
Ihm wurde gleichfalls die Befähigung als Zugführer der SS zugesprochen.
Ob Titel während seiner Zugehörigkeit zur faschistischen Polizei und seines Einsatzes in der SU an weiteren Verbrechen beteiligt war, konnte im Verlaufe der in der Zeit von 1946 bis 1948 geführten Untersuchungen nicht festgestellt werden.
Auch bei den jetzt durchgeführten Überprüfungen konnten bisher keine Dokumente aufgefunden und andere Beweise erarbeitet werden, die Auskunft über eine Verbrechensbeteiligung des Titel während des Zweiten Weltkrieges geben.
Titel, Adolf verstarb nach seiner gerichtlichen Verurteilung am 31. Juli 1948 infolge Herz- und Kreislaufschwäche im Krankenhaus Potsdam-Babelsberg, in welchem er den größten Teil der Untersuchungshaft zur Behandlung einer Syphiliserkrankung verbracht hatte.
Über die Verurteilung des Titel erfolgten Veröffentlichungen in der Presse (»Neues Deutschland« vom 15.2.194810 und »Märkische Volksstimme« vom 13. und 14.2.194811).
Aufgrund damaliger Ermittlungsersuchen an westdeutsche Polizei- und Justizorgane sowie durch Rechtshilfeersuchen des Oberstaatsanwaltes Lübeck12 aus dem Jahre 1949 zum Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen SS-Sturmführer Herder13 und den ehemaligen Ortsgruppenleiter Winkler14 – beide wie Titel aus Arnswalde bei Potsdam – und des dazu geführten Schriftverkehrs ist die Verurteilung des Titel bei westdeutschen Behörden bekannt.
Auch im Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS, Erich von dem Bach-Zelewski, wegen Tatverdachts der Anstiftung zum Mord an dem SPD-Funktionär Carl Sonnenburg15 aus Arnswalde, der von Titel und weiteren ehemaligen SS-Leuten ausgeführt wurde, wandte sich die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Nürnberg/Fürth 1952 und 1958 an den Bezirksstaatsanwalt von Potsdam mit der Bitte, entsprechende Strafakten zu übersenden bzw. in diese Einsicht nehmen zu können.
In Anbetracht dieser Umstände ist davon auszugehen, dass westdeutsche Organe im Besitz diesbezüglicher Kenntnisse sind. Inwieweit sie den in der Information genannten personellen Zusammenhang erkannt und aufgeklärt haben, ist gegenwärtig nicht bekannt.
Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist von westdeutscher Seite noch kein Gebrauch von eventuell vorhandenen Kenntnissen gemacht worden.
Die entsprechenden Archivunterlagen über Titel, Adolf befinden sich alle im Besitz des MfS, sodass für unberechtigte Personen keine Einsichtmöglichkeiten mehr bestehen.
Im Verlaufe der bisher geführten Überprüfungen wurde festgestellt, dass Dr. Titel, Werner zusammen mit seiner Mutter laut Sprechgenehmigung am 30.12.1946 und am 24.3.1947 seinen Vater während der Untersuchungshaft im Krankenhaus Potsdam-Babelsberg besucht hat.
Da Dr. Titel zu diesem Zeitpunkt knapp 16 Jahre alt war, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass er über die 1948 erfolgte Verurteilung seines Vaters informiert ist.
Über die Motive, diese Tatsache im Fragebogen nicht aufzuführen, liegen dem MfS keine Angaben vor.
Auf der Grundlage der in der Information genannten Umstände müsste entschieden werden, wie – besonders im Hinblick auf die verantwortungsvolle Funktion Dr. Titels – weiter verfahren werden soll.16