Versuchte Flugzeugentführung am 13. August 1971 (I)
16. August 1971
Information Nr. 819/71 über eine versuchte Flugzeugentführung einer Maschine der Interflug, Typ AN 24, Kennzeichen DM-SBA, durch einen Bürger der DDR am 13. August 1971
Am 13.8.1971, gegen 8.30 Uhr, versuchte der DDR-Bürger [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1951, wohnhaft [Ort], [Kreis] Nauen, [Straße, Nr.], Nebenwohnung: Merseburg, [Bezirk] Halle, [Straße], Internat I, ledig, Student am Institut für Verfahrenstechnik der Hochschule für Chemie »Gustav Schorlemmer« Merseburg, die mit 21 Passagieren besetzte planmäßige Inlandmaschine der Interflug auf der Fluglinie Erfurt – Zentralflughafen Berlin-Schönefeld gewaltsam zur Kursänderung und zur Landung auf dem Westberliner Flugplatz Berlin-Tempelhof zu zwingen.
[Name 1] konnte durch Passagiere überwältigt werden und wurde durch das MfS nach der Landung in Schönefeld festgenommen.
Die bisherigen Untersuchungen ergaben:
[Name 1] trägt sich bereits seit längerer Zeit mit dem Gedanken, die DDR ungesetzlich zu verlassen. Das geht aus bei ihm aufgefundenen Unterlagen wie z. B. Abbildung der Inneneinrichtung eines Flugzeuges sowie Brief, aus dem Fluchtabsichten konkret erkennbar sind, hervor. Ursächlich dafür sind seine negative Einstellung zur Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR. Er brachte mehrfach zum Ausdruck, dass er sich in der DDR »unfrei« fühle und nicht tun und lassen könne, was er wolle. Weiterhin hatte [Name 1] Schwierigkeiten bei der Durchführung seines Studiums. Seine Studienleistungen waren mangelhaft, sodass seine Exmatrikulation vorgesehen war.
Bei den Eltern des [Name 1] handelt es sich um Genossenschaftsbauern, die der Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR gegenüber loyal eingestellt sind.
Anfang Juli 1971 begab sich [Name 1] entsprechend einer Verpflichtung seiner Seminargruppe – aber entgegen seinem Willen – zu einem Brigadeeinsatz in die Volkswerft Stralsund. Wegen Unlust zur körperlichen Arbeit und angeblich mangelhafter Unterbringung brach er den Einsatz, ohne das Kollektiv vorher zu informieren, nach vier Tagen ab und kehrte nach Merseburg zurück.
In der mit ihm seitens der Institutsleitung geführten Aussprache verpflichtete sich [Name 1], eine Arbeit im Betonwerk Merseburg aufzunehmen. Nachdem ihm mitgeteilt worden war, dass er ab 12.8.1971 vorübergehend sein Zimmer im Internat räumen müsse, um Besucher der Herbstmesse in Leipzig unterzubringen, will er sich endgültig dazu entschlossen haben, die DDR ungesetzlich zu verlassen.
Aus Fernseh- und Pressemeldungen westlicher Publikationsorgane und Informationen der DDR-Presse war [Name 1] über Fälle von Flugzeugentführungen informiert und beschloss deshalb, auf diesem Wege die DDR ungesetzlich zu verlassen, da dies nach seiner Meinung aufgrund der gesicherten Staatsgrenze die einzige erfolgversprechende Möglichkeit wäre.
Zur Verwirklichung dieses verbrecherischen Vorhabens beschaffte sich [Name 1] in Ermangelung einer Schusswaffe ein Klappmesser mit einer etwa 10 cm langen Klinge und begab sich per Bahn am 12.8.1971 von Merseburg nach Erfurt, wo ihm entsprechend seiner Anfrage in der Zweigstelle des Reisebüros der DDR mitgeteilt wurde, dass ein Flug nach Berlin-Schönefeld am Morgen des 13.8.1971 möglich sei.
Nachdem er vom 12. zum 13.8.1971 im Hotel »Tourist« in Erfurt übernachtet hatte, begab er sich gegen 6.00 Uhr zur Haltestelle des Flughafen-Zubringerbusses in der Innenstadt von Erfurt. Bereits dort hielt [Name 1] Umschau nach einer ihm geeignet erscheinenden Geisel, bei der es sich seinen Vorstellungen entsprechend noch wegen der Wirksamkeit und des zu erwartenden geringen Widerstandes um ein Kind handeln sollte. Dabei fiel seine Wahl bereits auf den in Begleitung seiner Mutter reisenden Schüler [Name 2, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1958 in Jena, wohnhaft Erfurt, [Straße, Nr.].
Nach Besteigen der Maschine richtete [Name 1] es so ein, dass er neben [Name 2] Platz nahm.
Etwa 28 Minuten nach dem 8.08 Uhr erfolgten planmäßigen Start der Maschine umklammerte [Name 1] den [Name 2] von hinten und setzte ihm die Messerklinge an den Kehlkopf. Gleichzeitig forderte er die Passagiere auf, keinen Widerstand zu leisten, da er sonst das Kind umbringen würde.
Das von ihm bedrohte Kind vor sich herschiebend, begab sich [Name 1] zur Tür des vorderen Frachtraumes, die jedoch entsprechend den Sicherheitsbestimmungen verschlossen war.
Da [Name 1] dadurch an seinem Vorhaben, in das Cockpit einzudringen, gehindert wurde, klopfte er mehrfach mit dem Fuß gegen diese Tür und forderte zum Öffnen auf. Durch die dabei entstehenden Geräusche wurde die in ihrer Kabine im Heck der Maschine befindliche Stewardes [Name 3, Vorname] aufmerksam.
Die Stewardes verständigte durch Bestätigung des Notsignals die übrigen Besatzungsmitglieder von dem Eintreten einer Gefahrensituation und begab sich danach zu dem [Name 1] mit dem Ziel, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. [Name1] wurde durch die Annäherung der Stewardes abgelenkt, was von dem [Name 2, Vorname] sowie den an Bord der Maschine befindlichen Passagieren [Name 4, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1929, wohnhaft 1055 Berlin, [Straße, Nr.], beschäftigt als Produktionsleiter beim DFF und [Name 5, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1940, wohnhaft 1055 Berlin, [Straße, Nr.], beschäftigt als Ingenieur beim Staatlichen Kontor zur Erfassung nichtmetallischer Rohstoffe Berlin, genutzt wurde, um den Terroristen zu überwältigen. Dabei konnte [Name 1] das Klappmesser entrissen werden und er leistete danach keinen Widerstand mehr.
In den bisher durchgeführten Untersuchungen konnten keine Hinweise, die auf eine beabsichtigte Provokation zum 10. Jahrestag der Errichtung des antifaschistischen Schutzwalles1 hindeuten, erarbeitet werden.
Die Untersuchungen zur umfassenden Aufklärung der Zielsetzung, Motive, Ursachen und begünstigenden Bedingungen werden fortgesetzt.