Vorkommnisse an Grenzübergängen Drewitz und Marienborn
15. Januar 1971
Information über besondere Vorkommnisse mit NATO-Besatzern an den Grenzübergangsstellen Drewitz und Marienborn/Autobahn am 12. Januar 1971 [K 1/20]
Am 12.1.1971 kam es an den GÜST Drewitz und Marienborn/Autobahn zu längeren Standzeiten bei verschiedenen Fahrzeugen der westlichen Besatzungsmächte, die zwischen Westdeutschland und der selbstständigen politischen Einheit Westberlin sowie umgekehrt verkehren.
Im Einzelnen handelt es sich um folgende Vorkommnisse:
Ein Pkw der US-Besatzer sowie ein Lkw der britischen Besatzer reisten am 12.1.1971, um 11.30 Uhr bzw. 15.00 Uhr, aus Westberlin kommend, in die GÜST Drewitz ein. Beiden Fahrzeugen wurde seitens der sowjetischen Kontrollorgane um 18.00 Uhr die Ausfahrt in Richtung Marienborn – Helmstedt gestattet.
Am gleichen Tage, gegen 8.30 Uhr, sind von Westdeutschland aus kommend
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ein Lkw der französischen Besatzer,
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ein Lkw der US-Besatzer,
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drei Lkw und zwei Kübel-Fahrzeuge der britischen Besatzer,
in die GÜST Marienborn/Autobahn eingereist, um nach Westberlin weiterzufahren.
Gegen 19.00 Uhr ist durch die sowjetischen Kontrollorgane an der GÜST den genannten Fahrzeugen die Ausreise nach Westberlin freigegeben worden.
Zwischenzeitlich erschien um 16.00 Uhr an der GÜST Marienborn/Autobahn ein Fahrzeug der Militärpolizei, dessen Insassen die Besatzungen der wartenden Militärfahrzeuge mit Schlafdecken versorgten.
Zum Zeitpunkt des Aufenthalts dieses Fahrzeug-Konvois an der GÜST Marienborn/Autobahn führten zwei Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes entlang der Staatsgrenze routinemäßige Aufklärungsflüge durch.
Nach uns vorliegenden Informationen liegen die Ursachen des längeren Aufenthalts der Besatzer-Fahrzeuge an den GÜST Drewitz und Marienborn/Autobahn darin begründet, dass die Fahrzeugbesatzungen nicht im Besitz ordnungsgemäßer Dokumente waren bzw. dass auf den Dokumenten entsprechende Stempel fehlten.
Nach westlichen Presseveröffentlichungen sei von den sowjetischen Kontrollorganen ein DDR-Transitstempel in den Begleitdokumenten verlangt worden bzw. es sei versucht worden, den Fahrern der Besatzer-Fahrzeuge ein Kontrollzettel mit einem DDR-Stempel auszuhändigen.1
Weiter wäre von den sowjetischen Kontrollorganen bemängelt worden, dass das Abfertigungsverfahren der fünfziger Jahre seitens der westlichen Besatzungsmächte nicht mehr richtig eingehalten werde und deshalb eine Rückkehr zum ursprünglichen Zustand notwendig sei.
Die sowjetischen Kontrollorgane würden sich weiter auf ein gewisses Protokoll von 1957 bei ihren Maßnahmen berufen und einen Transitstempel verlangen, wie er bislang nur bei alliierten Zivilfahrzeugen üblich war bzw. eine bestimmte Kategorie von Militärlastwagen betroffen hätte. Kleinere Militärfahrzeuge seien davon nicht betroffen gewesen.
Im Zusammenhang mit den Standzeiten der Besatzerfahrzeuge an den GÜST Drewitz und Marienborn werden diese Vorkommnisse durch die westlichen Massenmedien (Presse, Funk, Fernsehen) zum Anlass genommen, in scharfmacherischer Form gegen die Sowjetunion Stellung zu nehmen.
So werden u. a. festgelegte Ausbildungsmaßnahmen bzw. Übungshandlungen von Truppenteilen der Sowjetarmee bis Regimentsstärke, die ihren Standort in der Nähe der Verkehrswege der DDR haben, als mögliche Ursache für die Wartezeit der Besatzerfahrzeuge angegeben.2 (Tatsächlich haben am 11. und 12.1.1971 seitens der Sowjetarmee Truppenbewegungen in Richtung Potsdam – Belzig stattgefunden, bei der die Autobahn Berlin – Marienborn bis zur Abzweigung Leipzig befahren wurde. Vom Stab einer Division der Sowjetarmee in Magdeburg fanden ebenfalls Fahrzeugbewegungen auf der Autobahn Magdeburg – Berlin statt, wobei es sich ausschließlich um Stabsfahrzeuge handelte.)
Truppenbewegungen der NVA oder polnischer Verbände haben in den genannten Zeiträumen in diesen Gebieten nicht stattgefunden. (Es befinden sich keinerlei polnische Truppen auf dem Territorium der DDR.)
Weiter werden durch die westlichen Massenmedien zusammengefasst folgende wesentliche Spekulationen bezüglich der Wartezeiten der NATO-Fahrzeuge an den GÜST Drewitz und Marienborn/Autobahn angestellt:
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Die globale Auseinandersetzung zwischen der Sowjetunion und den USA würde einen neuen Höhepunkt entgegengehen. Der Austragungsort sei wieder einmal Berlin, ohne diesen Vorgang dramatisieren zu wollen.
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Die Sowjetunion wolle den USA deutlich machen, dass jede antisowjetische Kampagne in den USA dazu benutzt werden kann, der USA-Regierung und deren Verbündeten sichtbare Demütigungen zuzufügen, da die Sowjetunion bezüglich Berlins am längeren Hebel sitzt.
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Die Sowjetunion wolle sich kurz vor dem nächsten Botschaftergespräch3 am 19.1.1971 in und über Berlin eine bessere Ausgangsposition verschaffen.
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Die Sowjetunion wolle alle Möglichkeiten durchspielen, die eine Änderung des Viermächtestatus allein für Westberlin unterstreichen sollen.
Es werden aber auch solche Vermutungen darüber angestellt, dass diese Vorkommnisse eine von der Sowjetunion beabsichtigte Maßnahme sei, um die DDR-Behörden an der Kontrolle des alliierten Verkehrs zu beteiligen.
Seit einiger Zeit, so ist den westlichen Verlautbarungen weiter zu entnehmen, falle die Übereinstimmung der offiziösen Äußerungen zur Berlin-Frage in den verschiedenen sozialistischen Ländern auf. Es würde jeder Zusammenhang der Berlin-Frage mit den Verträgen verschiedener sozialistischer Staaten mit der BRD bestritten. Wenn aber ein Zusammenhang nicht ganz geleugnet werden könne, dann würden seitens der sozialistischen Staaten die Westmächte dafür verantwortlich gemacht, dass die Berlin-Gespräche4 nicht vorangekommen sind.
Möglicherweise habe die Sowjetunion nach den Ereignissen in Polen5 Interesse daran, Spannung zu erzeugen, um sie als Disziplinierungsfaktor wirken zu lassen.
Aus den bisher vorliegenden Erkenntnissen kann kein schlüssiger Beweis erbracht werden, dass die vom Gegner entwickelten Aktivitäten im Zusammenhang mit den Maßnahmen der sowjetischen Kontrollorgane an den GÜST Drewitz und Marienborn auf Handlungen im Rahmen der NATO-Kommandostabs-Übung »Wintex 71«6 zurückzuführen sind.
Es wurden lediglich Feststellungen über Beobachtungshandlungen des Bundesgrenzschutzes sowie der Westberliner Polizei in den unmittelbaren GÜST-Bereichen gemacht.
Die Ausgangslage bei »Wintex 71« hat im Wesentlichen zum Inhalt, dass zur Stärkung des Prestiges der Sowjetunion und zur Erhaltung der politischen Vorherrschaft sich die Sowjetregierung zu einer Machtdemonstration entschlossen habe, die sich in einer Reihe von Grenzzwischenfällen und in der starken Verzögerung des Lastenverkehrs von und nach Westberlin zeige.
Weiter sind in der Ausgangslage außerdem Luftraumverletzungen, Häufung von Verletzungen internationaler Abmachungen, Grenzprovokationen usw. enthalten.
Die in diesem Zusammenhang erkannten gegnerischen Absichten wie Verstärkung der Beobachtungen des BGS in der Nähe der Staatsgrenze der DDR, ständiger Einsatz der BGS-Flugstaffel Nord sind als reine Maßnahmen innerhalb von »Wintex 71« anzusehen, in deren Verlauf Stäbe und Verbände des BGS mit einbezogen werden, wo z. B. wie vorgesehen, ab 12.1.1971 von der »Grenzüberwachung« zur »Grenzsicherung« überzugehen war.
In gleicher Richtung ist der Einsatz der Fernspähkompanie 100 des 1. westdeutschen Armeekorps Münster einzuschätzen. Diese Kräfte sind ebenfalls nach erfolgten Überprüfungen im Rahmen von »Wintex 71« tätig und operieren in der Nähe der Staatsgrenze der DDR.
Durch die operativen Linien der Aufklärung und äußeren Abwehr sind in Zusammenarbeit mit anderen zuständigen Organen Maßnahmen eingeleitet worden, um die Aktivitäten des Gegners unter ständiger Kontrolle zu halten und daraus weitere Schlussfolgerungen für notwendige Aufgaben unsererseits abzuleiten.