Aktivitäten eines Ehepaares zur Erzwingung der Ausreise
30. Dezember 1976
Information Nr. 911/76 über das provokatorische Auftreten und Verhalten eines Ehepaares aus Tangermünde/Kreis Stendal zur Erzwingung der staatlichen Genehmigung für die Übersiedlung nach der BRD und der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR
Dem MfS wurde bekannt, dass der Bürger der DDR, [Name], geboren: [Tag] 1943, wohnhaft: [Adresse], Schlosser im [Betrieb], am 28. Dezember 1976 bei der Abteilung Inneres des Rates des Kreises Stendal die Kopie eines von 39 Personen unterzeichneten Schreibens verleumderischen Inhalts gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR vorlegte, in welchem sich die Unterzeichner mit der Familie [des Schlossers] beim Betreiben ihrer Übersiedlungsabsicht »solidarisch« erklären und von den zuständigen staatlichen Organen die Genehmigung der Übersiedlung nach der BRD fordern.
Bei der Übergabe dieser Kopie an die Mitarbeiter der Abt[eilung] Inneres äußerte [der Schlosser], die Unterschriften selbst gesammelt und dieses Schreiben an die UNO gesandt zu haben.
[Der Schlosser] und seine Ehefrau wurden am 29. Dezember 1976 festgenommen und gegen sie ein Ermittlungsverfahren gemäß § 106 (staatsfeindliche Hetze) eingeleitet. Auf gleicher Rechtsgrundlage wurden Haftbefehle erlassen.
Die durch das MfS unverzüglich eingeleiteten Untersuchungen ergaben:
Seit Oktober 1975 betreiben [der Schlosser] und dessen Ehefrau, [Name], geboren: [Tag] 1944, wohnhaft: wie Ehemann, Haushaltssachbearbeiterin in der [Betrieb], für sich und ihre beiden Kinder, [Name] (13) und [Name] (11) hartnäckig die Absicht der Übersiedlung nach der BRD. Ein diesbezüglich durch sie am 12. Oktober 1975 gestellter Antrag an die Abteilung Inneres des Rates des Kreises Stendal wurde am 9. Dezember 1975 abgelehnt.
In der Folge fertigten und versandten sie insgesamt neun Eingaben an den Rat des Kreises Stendal, den Rat des Bezirkes Magdeburg, das Ministerium des Innern, an den Ausschuss für Eingaben der Volkskammer der DDR und in zwei Fällen an den Generalsekretär des ZK der SED, Genossen Honecker. In einem Fall wandte sich der in der BRD lebende Bruder der [Ehefrau], [Name], wohnhaft: [Adresse], selbstständiger Kaufmann, mit einer Eingabe an das Ministerium des Innern der DDR, in der er die Genehmigung der Übersiedlung forderte.
Ihre Antragstellung »begründen« [der Schlosser] und seine Ehefrau mit angeblicher Pflegebedürftigkeit der in Braunschweig/BRD wohnhaften Eltern der [Ehefrau], die im Jahre 1948, unter Zurücklassung ihrer damals 4-jährigen Tochter, das heutige Gebiet der DDR ungesetzlich verlassen haben. Die Eltern reisten seit 1958 jährlich mehrmals in die DDR ein. Zur »Pflegebedürftigkeit« der Eltern liegen keine Hinweise noch amtliche Bestätigungen vor.
[Der Schlosser] und seine Ehefrau berufen sich in ihrer Antragstellung dabei auf die Schlussakte von Helsinki und bringen weiter zum Ausdruck, dass sie in der DDR keine »Freizügigkeiten« für Auslandsreisen hätten und die sozialistische Erziehung ihrer Kinder ablehnen.
Während der mehrfach mit [dem Schlosser] und seiner Ehefrau durch Mitarbeiter des Rates des Kreises Stendal geführten Aussprachen traten sie im allgemeinen provokatorisch und anmaßend auf, verwiesen auf ihre »Rechte« entsprechend der Schlussakte von Helsinki und diskriminierten sowie verleumdeten in diesem Zusammenhang unsere sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung sowie führende Repräsentanten der DDR. Dabei drohten sie u. a. solche demonstrativen Handlungen an wie
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die publizistische Veröffentlichung der angeblich auf Tonband aufgezeichneten Aussprachen mit ihnen,
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die DDR ungesetzlich zu verlassen, wenn ihren Anträgen auf Übersiedlung nicht stattgegeben werde, wobei sie für alle beim Überwinden der Staatsgrenze der DDR zur BRD eventuell eintretenden Folgen die Staatsorgane der DDR verantwortlich machen würden.
Darüber hinaus weigerte sich [der Schlosser], einer im Januar 1977 bevorstehenden Einberufung zum Reservistendienst in der NVA nachzukommen und gab am 28. Dezember 1976 demonstrativ seinen Wehrpass beim Wehrkreiskommando Stendal ab.
Im September 1976 beschmierte er auf seiner Arbeitsstelle eine Spendenliste für Chile mit der Aufschrift »Freiheit für Chile ja – Freiheit für uns?«
Bei der am 29. Dezember 1976 erfolgten Festnahme des [Schlossers] und dessen Ehefrau führte er das eingangs erwähnte, von 39 Personen unterzeichnete und angeblich bereits an die UNO übersandte Schreiben im Original und in einer weiteren Kopie sowie zwei an ihn gerichtete Schreiben des ZDF-Magazins der BRD mit Hinweisen für sein weiteres Vorgehen beim Betreiben seiner Übersiedlungsabsicht bei sich.
In den bisherigen Untersuchungen wurde festgestellt, dass das am 28. Dezember 1976 beim Rat des Kreises Stendal vorgelegte Schreiben am 17. Dezember 1976 von [Name des Schlossers] und seiner Ehefrau im Beisein des Bruders der [Ehefrau] des [Name] entworfen und in der Wohnung mit der Schreibmaschine geschrieben wurde. [Der Bruder der Ehefrau] hat dieses Schreiben am 17. Dezember 1976 mit nach der BRD genommen und in der Folgezeit in seinem Geschäft (Vertrieb von Lacken und Farben) die auf dem Schreiben vorhandenen Unterschriften gesammelt. Am 26. Dezember 1976 habe [der Bruder der Ehefrau] während einer erneuten Einreise dieses Schreiben mit den Unterschriften von BRD-Bürgern (was jedoch aus den Unterschriften nicht ersichtlich ist) an [den Schlosser] übergeben, der es in der bereits dargelegten Art und Weise beim Rat des Kreises Stendal abgab.
Die bisherigen Untersuchungen des Ministeriums für Staatssicherheit zum Persönlichkeitsbild des Ehepaares [Name] ergaben:
[Der Schlosser] erlernte nach erfolgreichem Abschluss der 10. Klasse der Polytechnischen Oberschule von 1957 bis 1960 den Beruf eines Lokschlossers im RAW Stendal. Seit 1968 ist er im VEB [Name und Ort] als Bereichsschlosser tätig.
Von 1961 bis 1963 versah er seinen Wehrdienst bei den Grenztruppen der DDR. Sein letzter Dienstgrad war Unteroffizier. Im Jahr 1963 ging er mit der [Name] die Ehe ein, aus der zwei Kinder hervorgingen. Im Jahre 1967 wurde [der Schlosser] zu einem Reservistenlehrgang einberufen und nach dessen Absolvierung zum Feldwebel befördert. Aufgrund seiner ständig guten Arbeitsleistungen im Betrieb wurde er 1975 als Aktivist ausgezeichnet. Er war im FDGB und der DSF organisiert, trat in gesellschaftlicher Hinsicht jedoch nicht in Erscheinung. Im Zusammenhang mit der Ablehnung seines Antrages auf Übersiedlung nach der BRD trat er demonstrativ aus diesen Organisationen aus.
Die Ehefrau des [Schlossers] wurde ab dem vierten Lebensjahr von ihren Großeltern erzogen, die 1972 verstarben. Sie erlernte den Beruf eines Postfacharbeiters. Gegenwärtig ist sie als Haushaltssachbearbeiterin an der [Betrieb und Ort] tätig. Ihr wird eine gute Arbeitsleistung bestätigt. In gesellschaftlicher Hinsicht trat sie ebenfalls nicht in Erscheinung. Sie ist Mitglied des FDGB. Nach Ablehnung des Antrages auf Übersiedlung legte sie die Funktion eines Kulturobmannes der Gewerkschaftsgruppe nieder.
Zwischen der [Ehefrau] und ihren Eltern in der BRD bestanden zu jeder Zeit Kontakte, die jedoch nach dem Tod ihrer Großeltern stark aktiviert wurden.
Die Untersuchungen des MfS zur umfassenden Aufklärung der Ursachen und Motive dieser demonstrativ-provokatorischen Handlungen und Verhaltensweisen, der konkreten Umstände der Inspirierung und Organisierung der Unterschriftensammlung sowie der von feindlichen Zentren und Kräften in der BRD ausgegangenen Einwirkungen werden fortgesetzt.
Der 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED Magdeburg und der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Stendal wurden durch das MfS entsprechend informiert.