Anträge auf Ausreise in die Bundesrepublik
28. Januar 1976
Information Nr. 77/76 über massive gegnerische Interventionen zur Erzwingung von Genehmigungen zur Übersiedlung von Bürgern der DDR nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin
In der letzten Zeit verstärken sich zunehmend Aktivitäten und Versuche gegnerischer Kräfte zur unmittelbaren Einmischung in innere Angelegenheiten der DDR.
Durch offizielle Behörden, Einrichtungen und Institutionen der BRD, besonders durch die Massenmedien – z. B. durch den Mitbegründer und Sprecher des »Bundes Freies Deutschland«1 in Westberlin und »Einfluss-Agent« des BND im ZDF, Gerhard Löwenthal, im ZDF-Magazin am 21. Januar 1976 – erfolgt eine aktive und zielgerichtete sich ständig ausweitende Einwirkung auf das Bewusstsein von Teilen der Bevölkerung der DDR.
Konkrete Auswirkungen dieser massiven gegnerischen Einmischungsversuche zeigen sich darin, dass Bürger der DDR, die Anträge auf Übersiedlung in nichtsozialistische Staaten und Westberlin und auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR gestellt haben, zunehmend dahingehend in Erscheinung treten, dass sie, offensichtlich inspiriert durch gegnerische Argumentationen, in zum Teil provokatorischer Form eine »zügige« und »positive« Bearbeitung ihrer Anträge fordern und die Einschaltung von Massenmedien der BRD und Westberlins bzw. internationaler Organisationen in die Lösung ihrer Anliegen androhen. Gleichermaßen treten Massenmedien der BRD und Westberlins zunehmend als »Interessenvertreter« derartiger Antragsteller in Erscheinung, indem sie Einzelbeispiele von Personen, die eine Umsiedlung beantragt haben, und die sich aufgrund der ständigen massiven Propagierung direkt an Behörden, Einrichtungen, Institutionen und Massenmedien der BRD und Westberlins zur »Unterstützung« ihres Anliegens gewandt haben oder in der BRD und Westberlin lebende Verwandte und Bekannte damit beauftragten, mit Namen und Adresse popularisieren, um auch auf diese Art und Weise Druck auf die zuständigen staatlichen Organe der DDR auszuüben.
Durch das »Zweite Deutsche Fernsehen« ist geplant, die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR durch Veröffentlichung weiterer Namen und Adressen von DDR-Bürgern, die sich zwecks »Unterstützung« ihrer Anträge auf Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin an das ZDF gewandt haben, fortzusetzen.
Die Überprüfungen des MfS zu den in der Sendung des »Zweiten Deutschen Fernsehens« am 21. Januar 1976 veröffentlichten Namen und Adressen von Bürgern der DDR hat ergeben:
Bei den während der Sendung des »ZDF-Magazins« am 21. Januar 1976 veröffentlichten 65 Personen und Adressen handelt es sich um 15 Familien und 14 Kinder sowie um 21 Einzelpersonen. Der jüngste in dieser Sendung des ZDF genannte Bürger der DDR, der sich zwecks »Unterstützung« seines Antrages auf Übersiedlung in nichtsozialistische Staaten bzw. Westberlin an Massenmedien der BRD und Westberlins wandte, ist 18 Jahre und der älteste Bürger der DDR 63 Jahre alt. Das Durchschnittsalter der genannten Personen beträgt 30 Jahre.
Aus den Veröffentlichungen der Namen und Adressen durch das ZDF wird ersichtlich, dass sich die unmittelbaren Einflüsse und Einwirkungen gegnerischer Kräfte auf das Erzwingen von Genehmigungen zur Übersiedlung von DDR-Bürgern nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin vorrangig – wie die Überprüfungen ergaben – auf hochqualifizierte Kräfte der DDR konzentrieren, wie zum Beispiel
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Ärzte (3)
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Zahnärzte (2)
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Pharmazie-Ingenieur (1)
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Elektronikingenieur (1) sowie
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qualifizierte Facharbeiter (22).
Nach noch nicht vollständig vorliegenden Untersuchungsergebnissen befinden sich auch unter den als »Hausfrauen« genannten Antragstellern ebenfalls qualifizierte Fachkräfte.
Die Überprüfungen des MfS ergaben weiter, dass seitens der vom »ZDF-Magazin« veröffentlichten DDR-Bürger am häufigsten als Grund für die beantragte Übersiedlung die »Familienzusammenführung« mit in der BRD oder Westberlin lebenden Verwandten sowie die durch Kontakte und Begegnungen im Zusammenhang mit dem verstärkten Einreiseverkehr von Bürgern der BRD und ständigen Einwohnern von Westberlin entstandenen sogenannten Verlöbnissen mit DDR-Bürgern angegeben wurde. So sind u. a. folgende charakteristische Begründungen für eine Übersiedlung angegeben worden:
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Aufgrund erfolgter Ehescheidungen seien keine Bindungen mehr an die DDR vorhanden, sodass nur eine Übersiedlung zu in der BRD wohnhaften Verwandten infrage käme.
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Eine zu einem früheren Zeitpunkt aus der BRD in die DDR erfolgte Übersiedlung sei eine »Fehlentscheidung« gewesen, und deshalb wolle man wieder in die BRD zurück.
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Unter Berufung auf die Möglichkeit der »Familienzusammenführung« wolle man zur Mutter, zum Bruder, Onkel oder anderen Verwandten in die BRD übersiedeln.
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DDR-Bürgerinnen motivieren ihren Antrag zur Übersiedlung in die BRD bzw. in andere nichtsozialistische Staaten damit, dass sie mit ihren »Verlobten« zusammenleben wollen.
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Unter Missbrauch von genehmigten Reisen in dringenden Familienangelegenheiten in die BRD nicht zurückgekehrte DDR-Bürger, fordern ihre in der DDR wohnhaften Ehepartner auf, alles zu unternehmen, um eine Genehmigung zur Übersiedlung im Rahmen der »Familienzusammenführung« zu erzwingen.
Darüber hinaus sind eine Anzahl von Anträgen auf Übersiedlung in nichtsozialistische Staaten und Westberlin und die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR damit begründet worden, dass die Antragsteller angeblich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR nicht einverstanden seien. Darunter befinden sich DDR-Bürger, die über Jahre eine positive Einstellung zur sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR hatten und zum Teil eine aktive gesellschaftliche Arbeit leisteten oder zumindest eine loyale Haltung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen der DDR bezogen.
Bei der Antragstellung zur Übersiedlung traten sie zum Teil in provokatorischer Art und Weise auf und äußerten sich mündlich oder schriftlich negativ zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR. Diese Antragsteller motivierten ihre Haltung u. a. mit folgenden Argumenten:
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Als Nichtmitglied der SED habe man in der DDR »keine Perspektive« und keine Möglichkeit der fachlichen Qualifikation.
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Ihre Weltanschauung entspreche nicht der Politik von Partei- und Staatsführung.
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In der DDR wären die demokratischen Rechte der Bürger, insbesondere die Meinungs- und persönliche Freiheit, eingeschränkt.
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Christlich orientierte Bürger der DDR wären in ihrer Glaubensausübung und im gesellschaftlichen Leben benachteiligt.
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In der DDR würde die Freizügigkeit des Reiseverkehrs nach anderen Staaten – im Widerspruch zu Verträgen und Vereinbarungen – eingeschränkt.
In einer Reihe von Fällen versuchen die Antragsteller, inspiriert durch sogenannte »Ratschläge«, wie sie das ZDF am 21. Januar 1976 erneut verbreitete, durch Androhung von Demonstrativhandlungen, Intervenierung bei internationalen Organisationen, der Einschaltung von Behörden, Einrichtungen und Institutionen sowie Massenmedien der BRD und Westberlins, »Druck« auf die staatlichen Organe auszuüben, um eine positive Entscheidung ihrer Anträge zu erzwingen.
Bei einem Teil der im ZDF genannten DDR-Bürger, deren Anträge auf Übersiedlung »aktiv unterstützt« werden sollen, handelt es sich um Personen (insgesamt 5), die wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts, staatsfeindlicher Hetze, Verfehlung zum Nachteil persönlichen und privaten Eigentums, Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten durch Gerichte der DDR in der Vergangenheit rechtskräftig verurteilt worden waren. [Nennung eines konkreten Beispiels]
Des Weiteren befinden sich unter den vom ZDF genannten Personen solche Antragsteller, die eine asoziale Lebensweise führen (2) und die ihre verfestigte negative und feindliche Einstellung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen der DDR durch
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die Verweigerung des Wehrdienstes (1),
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die Weigerung der Beteiligung an Wahlen seit 13 Jahren (1),
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demonstrativen Austritt aus der LDPD, da diese Partei ihre Weiterentwicklung hemme (2),
zum Ausdruck bringen.
Von den insgesamt 51 erwachsenen DDR-Bürgern, die in der ZDF-Sendung genannt wurden und einen Antrag auf Übersiedlung stellten, waren
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drei Anträge durch die zuständigen Organe der DDR bereits genehmigt,
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sechs Anträge befinden sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch in Bearbeitung.
In allen anderen Fällen erfolgte die Ablehnung der Gesuche entsprechend den geltenden Grundsätzen für die Bearbeitung von Anträgen auf Übersiedlung.