Ausfall einer Äthylenanlage in einem Kombinatsbetrieb in Böhlen
1. März 1976
Information Nr. 170/76 über die bisherigen Untersuchungsergebnisse im Zusammenhang mit dem Ausfall der Äthylenanlage im VEB Petrolchemisches Kombinat Schwedt, Kombinatsbetrieb »Otto Grotewohl« Böhlen, [Kreis] Borna, [Bezirk] Leipzig, am 23. Februar 1976
Am 23. Februar 1976 musste die Äthylenanlage im VEB Petrolchemisches Kombinat Schwedt, Kombinatsbetrieb »Otto Grotewohl« Böhlen, wegen einer Störung im Glykolsystem abgefahren werden.
Nach ersten Berechnungen des Ministeriums für chemische Industrie ergibt sich bei einer angenommenen Stillstandszeit der Äthylenanlage für die Versorgung der Volkswirtschaft der DDR und der ČSSR mit den Produkten Äthylen und Propylen folgende Lage:
Bei Äthylen erhält die ČSSR die Menge, die als Minimum zur Aufrechterhaltung der Produktion im Chemiekombinat Zaluzi benötigt wird (ca. 1/3 der Vertragsmenge). Die Bedarfsträger der DDR werden mit ca. 2/3 des benötigten Äthylens versorgt.
Die im Februar 1976 an die ČSSR vertraglich zu liefernde Menge Propylen wird von 3 200 t auf 2 000 t reduziert. Zur Sicherung der vertraglich mit der ČSSR vereinbarten Liefermenge für März 1976 sind 2 400 t Propylen durch die DDR aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet zu importieren. (Der Importpreis beträgt ca. 600 VM/t.)
Die vom MfS in Zusammenarbeit mit Fachexperten eingeleiteten Untersuchungen zur Aufklärung der Ursachen ergaben bisher Folgendes:
Aufgrund von Bedienungsfehlern ist Natronlauge in den Stickstoffkreislauf eingedrungen und hat in den Kolonnen und Wärmetauschern der Glykolwäsche zu einer Polymerisation geführt. Die erfolgte Polymerisation hatte das Zusetzen der Rohre und Behälter sowie den Ausfall der Mess- und Regeltechnik zur Folge. (Das Freimachen der Rohre und Behälter der Glykolwäsche vom Polymerisat, einem harten, gummiartigen Stoff, erfordert nach Angaben der Experten erheblichen manuellen Arbeitsaufwand.) Wie bisher festgestellt werden konnte, haben lückenhafte Betriebsvorschriften derartige Bedienungsfehler begünstigt.
Die Überprüfung der Laugen- und Stickstoffleitungen ergab, dass auf Veranlassung des Betreibers der Anlage nachträglich zwischen beiden Leitungssystemen eine starre Verbindung geschaffen wurde. (Im Projekt der Vereinigten Österreichischen Stahlwerke (VÖST) war keine starre Verbindung vorgesehen.) Gleichzeitig wurde damit notwendig, beide Rohrleistungssysteme, die getrennt voneinander betrieben werden, durch sogenannte Stechscheiben gegeneinander abzusichern. Vom Betriebsdirektor wurde dazu eine Weisung erteilt (Trennung des Stickstoff-Systems von der Laugenleitung). Die Durchführung der Weisung wurde jedoch nicht organisiert und auch nicht kontrolliert. Sie wurde nicht in die Betriebsvorschrift für das Betriebsmittelsystem Stickstoff eingearbeitet. Außerdem begünstigte die ungenügende fachliche Qualifikation des Anlagenpersonals das Eintreten vorgenannter Havarie in der Äthylenanlage.
Die bisherigen Untersuchungsergebnisse erbrachten keine Hinweise auf Feindtätigkeit.
Bereits am 13. Februar 1976 wurde im Stickstoffkreislauf der Äthylenanlage Natronlauge festgestellt. Eine entsprechende Eintragung im Schichtbuch ist vorhanden. Es wurden jedoch nicht sofort die geeigneten Maßnahmen zur Untersuchung der Ursachen eingeleitet.
Am 21. Februar 1976 wurde in einer der Äthylenanlage nachgeschalteten Pilotanlage erneut Natronlauge im Stickstoffsystem festgestellt. Von dieser Tatsache wurden der Schichtleiter, der amtierende Abteilungsleiter und die Direktorin für Produktion, [Name], verständigt. Die Direktorin für Produktion veranlasste daraufhin den Schichtleiter, eine Probe aus der Pilotanlage zu entnehmen und diese einer Laboruntersuchung zuzuführen sowie den Stickstoffkreislauf der Äthylenanlage auf Vorhandensein von Natronlauge zu überprüfen.
Die vom Schichtleiter veranlasste Prüfung des Stickstoffkreislaufes an fünf verschiedenen Messpunkten der Äthylenanlage wurde visuell vorgenommen und erbrachte keinen Hinweis auf das Vorhandensein von Natronlauge im Stickstoffkreislauf. (Gegenwärtig kann noch nicht eingeschätzt werden, ob die Prüfmethode und die Lage der gewählten Messstellen den Erfordernissen entsprachen.) Aufgrund des Prüfungsergebnisses wurde die Anlage auf Weisung der Direktorin für Produktion, [Name], weitergefahren.
Das MfS möchte im Zusammenhang mit vorgenannter Situation nochmals darauf aufmerksam machen, dass sich während des Probe- und Dauerbetriebes (Beginn 10.6.1975) in der Äthylenanlage 246 Havarien und Störungen ereigneten, die in der Regel mit zeitweiligem Stillstand der Anlage verbunden waren. Damit war kein Ausfall an Warenproduktion verbunden, weil das Ausgangsprodukt Erdöl anderweitig, zur Benzinherstellung, eingesetzt wurde. Insgesamt fielen etwa 27 Mio. Mark in der Äthylenherstellung aus.
Vom MfS wurde bereits am 16. Februar 1976 (Information Nr. 103/76) darauf hingewiesen, dass bei der Einschätzung der bisher untersuchten Havarien und Störungen zu berücksichtigen ist, dass
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es sich um eine Äthylenanlage handelt, die kapazitätsmäßig mit zu den größten Anlagen der Welt zu zählen ist und einen außerordentlich hohen Automatisierungsgrad ausweist, in der DDR gegenwärtig jedoch noch zu geringe Erfahrungen zum Betreiben derartiger Anlagen vorliegen,
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das Anlagenpersonal infolge unzureichender Qualifizierung die komplizierten technologischen Prozesse zurzeit nur ungenügend beherrscht und die Anlage ständig mit einer Unterbesetzung von 25 Prozent der vorgesehenen Fachkräfte gefahren wird,
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für ca. 70 Prozent der Störungen technische und Materialmängel als Ursachen erkannt wurden, die sich erst beim Dauerbetrieb der Anlagen herausstellten,
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das Havarie- und Störgeschehen durch Unzulänglichkeiten in der Leitungstätigkeit begünstigt wird.
Beispielsweise liegen über 26 Störungen, die von Juli bis Oktober 1975 auftraten, keine Unterlagen vor. Außerdem traten auch ökonomische Verluste für die DDR ein, weil Garantieansprüche gegenüber dem Lieferanten, VÖST, nicht exakt nachweisbar und demzufolge auch nicht durchsetzbar sind.
Das Leitungskollektiv des Kombinatsbetriebes ist in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung instabil und beherrscht nicht die Grundprozesse der Äthylenanlage. Das drückt sich besonders darin aus, dass
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die Aufklärung und Auswertung der Ursachen und begünstigenden Bedingungen für Havarien und Störungen nicht gründlich vorgenommen wird,
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die Betriebs- und Bedienungsvorschriften nicht ständig auf der Grundlage vorliegender Auswertungen und Betriebserfahrungen auf den neuesten Stand der Erkenntnisse gebracht werden (von insgesamt 30 für die Anlage geltenden Betriebsvorschriften wurden mit Stand vom 26. Februar 1976 erst 9 überarbeitet),
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die in der Leitungspyramide und -linie festgelegten Pflichten und Rechte der Betriebsfunktionäre durchbrochen werden,
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die Koordinierung und Abstimmung der Aufgabengebiete zwischen den Leitungskadern fehlt und die Kontroll- und Aufsichtspflicht durch die verantwortlichen Funktionäre vernachlässigt wird.
Obwohl der Kombinatsdirektor Mahrwald entscheidenden Anteil an der Vorbereitung und am Aufbau des Olefinkomplexes im Kombinatsbetrieb Böhlen hat, ist aufgrund vorliegender Sachverhalte einzuschätzen, dass er es bisher noch nicht verstand, exakte Leitungsprinzipien durchzusetzen. Auch der Generaldirektor des VEB Petrolchemisches Kombinat Schwedt, Frohn, hat in der Vergangenheit eine ungenügende Anleitung und Kontrolle ausgeübt, obwohl er sich leitungsmäßig aufgrund der sich häufenden Havarien und Störungen hätte vorrangig um die stabile Fahrweise der Äthylenanlage bemühen müssen.
Im Zusammenhang mit dem am 23. Februar 1976 eingetretenen Stillstand der Äthylenanlage wies der Minister für Chemische Industrie, Wyschofsky, den Generaldirektor Frohn an, sich für die Stabilisierung der Äthylenanlage persönlich einzusetzen.
Das MfS setzt seine Untersuchungen zur umfassenden Aufklärung der Ursachen und begünstigenden Bedingungen fort. Es wird nachberichtet.