Ausreiseantrag des Radsportlers Wolfgang Lötzsch
[ohne Datum]
Information Nr. 602/76 über eine Antragstellung auf Übersiedlung in die BRD durch den ehemaligen Leistungssportler des SC Karl-Marx-Stadt, Lötzsch, Wolfgang
Nach dem MfS vorliegenden Informationen hat der ehemalige Leistungssportler vom Sportclub Karl-Marx-Stadt, Sektion Radsport, Lötzsch, Wolfgang, geboren am [Tag] 1952, wohnhaft: Karl-Marx-Stadt, [Adresse], bereits drei Anträge auf Übersiedlung in die BRD gestellt. Mehrmals suchte Lötzsch auch die Ständige Vertretung der BRD in der DDR auf, offensichtlich zu dem Zweck, von dort Hilfe und Unterstützung für seine beabsichtigte Übersiedlung zu erlangen.
Ein am 20. Juli 1976 in der »Süddeutschen Zeitung« erschienener ausführlicher Artikel von Peter Pragal unter dem Titel »Wenn nichts mehr zu gewinnen ist, Rekordmann Lötzsch will nicht in der Partei Rad fahren«, deutet darauf hin, dass Lötzsch während seines Aufenthaltes in der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR ausführlich über seine persönliche und sportliche Entwicklung sowie damit zusammenhängende Probleme Angaben machte. In ähnlicher Form behandelte auch der »SFB« am 20. Juli 1976 den »Fall Lötzsch«.1
Dem MfS liegen interne Informationen vor, wonach das »ZDF« der BRD beabsichtigt, in absehbarer Zeit eine Sendung über Lötzsch zu gestalten und zu senden. Nach Angaben des Lötzsch handelt es sich um den Beginn einer Fortsetzungsreihe über DDR-Bürger, »die mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR nicht einverstanden seien«.
Über das Persönlichkeitsbild und die Entwicklung des Lötzsch liegen dem MfS folgende Hinweise vor:
Lötzsch gehörte seit 1965 bis zu seiner Ausdelegierung am 13. April 1972 dem SC Karl-Marx-Stadt, Sektion Radsport, an. Er war Olympiakader 1972 und bestätigter Reisekader für nichtsozialistische Staaten. Wie aus dieser Zeit vorliegende Einschätzungen beinhalten, galt Lötzsch zumindest bis Ende 1971 als ein »ausgezeichneter Sportler, der sich auch für die Interessen unseres Staats voll einsetzt«. Nach diesem Zeitpunkt wurde bekannt, dass Lötzsch im Elternhaus politisch-ideologisch negativ beeinflusst werde und Verbindungen zu seinem Cousin Dieter Wiedemann (ehemaliger Radsportler des SC Karl-Marx-Stadt, der im Jahre 1964 die DDR auf ungesetzlichem Wege verließ und Radprofi in der BRD wurde) unterhalten soll.
Vorgenannte Fragen waren deshalb Gegenstand einer am 29. Februar 1972 durchgeführten längeren Aussprache mit Lötzsch, an der Verantwortliche des SC Karl-Marx-Stadt, seine Trainer sowie der Direktor der KJS teilnahmen. Wie dem dazu gefertigten Protokoll zu entnehmen ist, habe Lötzsch bei dieser Aussprache eine negative politisch-ideologische Haltung bezogen. Die negative Haltung wurde abgeleitet
- –
aus seinem Desinteresse für Grundfragen der Politik unserer Partei,
- –
aus einer vorläufig ablehnenden Haltung zu einer eventuellen Mitgliedschaft in der SED,
- –
aus einer starken Orientierung auf westliche Rundfunk- und Fernsehsender sowie
- –
einer stark betonten materiellen Interessiertheit des Lötzsch.
(L. war zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt.) Eine Verbindung zu Wiedemann wurde von Lötzsch strikt verneint, bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegen auch keinerlei diesbezüglichen Hinweise vor.
Im Ergebnis dieser Aussprache wurde durch den Sportclub Karl-Marx-Stadt, entgegen der Auffassung des Cheftrainers Marschner, der Lötzsch noch für erziehbar hielt, nach Absprache mit dem Bezirksvorstand des DTSB Karl-Marx-Stadt der Vorschlag zur Ausdelegierung aus dem SCK an den DTSB-Bundesvorstand eingereicht.
Nach zwei daraufhin erneut durchgeführten Aussprachen im Beisein eines Mitarbeiters des Staatssekretariats für Körperkultur und Sport erfolgte mit Wirkung vom 13. April 1972 die Ausdelegierung des Lötzsch aus dem SC Karl-Marx-Stadt.
Laut Protokoll der letzten Aussprache wurde diese Ausdelegierung gegenüber Lötzsch mit »Nichteinhaltung der Prinzipien und Regeln des Leistungssports« begründet. Gleichzeitig wurde ihm dargelegt, dass diese Ausdelegierung aufgrund der Bestimmungen der Leistungssportkommission des DTSB endgültig sei. Gleichzeitig wurden durch den SC Karl-Marx-Stadt Maßnahmen festgelegt, dass Lötzsch das Abitur an der KJS ablegt und einen Studienplatz an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt vermittelt bekommt. Außerdem behielt er seine Lizenz als Radrennfahrer, sodass er sich einer BSG anschließen konnte. Lötzsch wurde daraufhin am 14. April 1972 Mitglied der BSG Wismut Karl-Marx-Stadt, Sektion Radsport, und begann am 1. September 1972 sein Studium an der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt, Sektion Automatisierungstechnik.
Entgegen einer Orientierung des SC Karl-Marx-Stadt an die Technische Hochschule, wonach Lötzsch »als normaler Student zu behandeln sei«, wurden für Lötzsch seitens leitender Mitarbeiter der TH Karl-Marx-Stadt Förderungsmaßnahmen festgelegt. (Diese Maßnahmen sahen in erster Linie vor, dass Lötzsch sein Grundstudium in drei und nicht wie üblich in zwei Jahren absolvieren konnte.) Die daraus resultierenden Trainingsmöglichkeiten trugen wesentlich dazu bei, dass Lötzsch in der Folgezeit bedeutende Rennen gegen die gesamte DDR-Spitzenklasse gewinnen bzw. vordere Plätze belegen konnte. Außerdem wurde er DDR-Verfolgungsmeister auf der Bahn. (Er erhielt auch zu allen DDR-offenen Radrennen eine Freistellung seitens der TH.) Diese Förderungsmaßnahmen seitens der TH Karl-Marx-Stadt wurden erst Mitte des Jahres 1975 auf Einwirken des Staatssekretariats für Körperkultur und Sport eingestellt.
Aufgrund einer erlittenen Sturzverletzung im April 1975 stellte Lötzsch [Angaben zum Inhalt eines ärztlichen Gutachtens] einen Antrag auf Unterbrechung seines Studiums für ein Jahr. Diesem Antrag wurde seitens der TH Karl-Marx-Stadt stattgegeben.
Seit seiner Ausdelegierung aus dem SC Karl-Marx-Stadt bemühte sich Lötzsch – offensichtlich gestützt auf seine sportlichen Erfolge – ständig, wieder als Leistungssportler in einem Sportclub aufgenommen zu werden. U. a. wandte er sich in diesem Zusammenhang 1974 schriftlich an die BSG Wismut Gera und an den Vizepräsidenten des DTSB. In Beantwortung seiner Eingabe wurde Lötzsch in einer Aussprache durch verantwortliche Funktionäre des DTSB am 30. Januar 1975 letztmalig mitgeteilt, dass einer erneuten Aufnahme in den Leistungssport nicht zugestimmt wird.
Wie dem MfS weiter intern bekannt wurde, hat Lötzsch 1974 persönlich zum BRD-Bundestrainer Altig – der sich anlässlich der Friedensfahrt in Karl-Marx-Stadt aufhielt – Kontakt aufgenommen. Über den Inhalt der dabei geführten Gespräche liegen keine konkreten Hinweise vor.
Seit 1975 wurden gegen Lötzsch seitens des Radsportverbandes der DDR zusätzliche Maßnahmen getroffen, um weitere Starts des Lötzsch in der Meisterklasse zu verhindern. Eine weitere Einschränkung der Möglichkeiten seiner sportlichen Betätigung erfolgte am 31. Mai 1976, als er auf Beschluss des Kreisvorstandes des DTSB Karl-Marx-Stadt aus dem DTSB ausgeschlossen wurde. Dieser Beschluss ist Anfang Juli 1976 seitens des DTSB-Bundesvorstandes aufgehoben worden. Danach wurde Lötzsch Mitglied der BSG Aufbau Zentrum Leipzig. (Als Mitglied dieser BSG kann er sich an allen Rennen in der DDR beteiligen, die ohne Teilnahme der Meisterklasse durchgeführt werden.)
Offensichtlich durch vorgenannte Maßnahmen beeinflusst, stellte Lötzsch am 17. Dezember 1975 sowie am 25. März 1976 beim Rat der Stadt Karl-Marx-Stadt, Abteilung Inneres, Antrag auf Übersiedlung in die BRD. Diese Anträge begründet er damit, dass er aktiver Radsportler sei und in der DDR keine Möglichkeit zur Ausübung seines Sportes besitzen würde. Deshalb sei er auch bereit, seine Antragstellung zurückzuziehen, falls er wieder in einem Sportclub Leistungssport betreiben könne. Da diese Anträge abgelehnt wurden, stellte Lötzsch am 10. April 1976 beim MdI, Berlin, einen weiteren Antrag auf Übersiedlung in die BRD. Dabei bezog er sich auf die bereits gestellten und abschlägig beschiedenen Anträge.
Die mit Lötzsch durch die Abteilung Inneres, den DTSB und die Leitung der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt mit dem Ziel geführten Aussprachen, eine Zurücknahme seiner gestellten Anträge auf Übersiedlung in die BRD zu erreichen, verliefen ergebnislos. Lötzsch, der dabei zu einigen gesellschaftlichen Problemen in der DDR, insbesondere seine sportliche Betätigung, Entwicklung und »persönliche Freiheit« betreffend, einen negativen Standpunkt bezog, bekräftigte erneut, dass er sich »ungerechtfertigt behandelt fühle und nur dann seinen Antrag zurückziehen würde, wenn er wieder Leistungssport betreiben könne«.
Wie dem MfS in diesem Zusammenhang weiter intern bekannt wurde, hat der Lötzsch im Verlaufe der bereits erwähnten Gespräche in der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR dem für Sportfragen zuständigen Mitarbeiter der Vertretung, Hans-Joachim Becker, eine Reihe von Unterlagen, die seine Person betreffen – u. a. ein Duplikat seiner Übersiedlungsanträge – übergeben. Aufgrund dieses »sehr interessanten Falles« seien auch bereits Überlegungen getroffen worden, wie dem Lötzsch seitens der BRD-Vertretung »geholfen« werden könne. (Eine erste Maßnahme war, dem Korrespondenten Pragal von der »Süddeutschen Zeitung« zu gestatten, die über Lötzsch in der BRD-Vertretung vorhandenen Unterlagen einzusehen. Auf dieser Basis entstand offensichtlich der bereits erwähnte Artikel.)
Lötzsch selbst äußert sich intern über seine Besuche in der BRD-Vertretung dahingehend, dass er sich dadurch »in Bezug auf seine weitere sportliche Entwicklung Hilfe erhoffe« bzw. von westdeutscher Seite bei der Realisierung seines Übersiedlungsantrages eventuell unterstützt werden könne. Er sei in diesem Zusammenhang aufgefordert worden, »vorbehaltlos über seine politische, berufliche und sportliche Entwicklung zu berichten, wenn die Vertretung ihm wirklich helfen solle«.
Über die Veröffentlichung in der »Süddeutschen Zeitung« äußerte Lötzsch sinngemäß, »es habe nun die längste Zeit gedauert, dass man in der DDR mit ihm hätte machen können, was man wolle«. »Es sei ihm versichert worden alles zu tun, um ihn bald in der westlichen Welt begrüßen zu können.« Auch habe man ihm bestimmte Verhaltensmaßregeln erteilt (z. B. ständige Wiederholung seiner Antragstellung).
In Anbetracht der im Zusammenhang mit den Anträgen auf Übersiedlung des Lötzsch in die BRD und den anderen von ihm entwickelten Aktivitäten entstandenen Lage wird empfohlen, die gesamte Angelegenheit durch die dafür zuständigen Organe des DTSB nochmals gründlich zu prüfen.
Ziel dieser Maßnahmen sollte es sein, den Lötzsch unbedingt zur Zurücknahme seiner Übersiedlungsanträge zu veranlassen. Davon ausgehend müsste eine intensive und systematische politisch-ideologische Erziehungsarbeit mit ihm geleistet werden. Dabei wäre auch zu prüfen, inwieweit bei ihm entsprechende Möglichkeiten einer weiteren leistungssportlichen Entwicklung in Betracht gezogen werden könnten.