Beabsichtigte Ausreise des Schriftstellers Siegmar Faust
23. Juli 1976
Information Nr. 521b/76 über die beabsichtigte Übersiedlung des ehemaligen Strafgefangenen Faust aus Heidenau, Kreis Pirna, Bezirk Dresden in die BRD [Zweite Fassung – Langfassung]
Dem MfS wurde bekannt, dass der Faust, Siegmar, geboren am 12.12.1944, zurzeit ohne Arbeitsverhältnis und ohne offizielles Einkommen, wohnhaft: Heidenau/Kreis Pirna, [Adresse], polizeilich gemeldet 104 Berlin, [Adresse], von seinem gegenwärtigen Aufenthaltsort in Heidenau in einer Eingabe an den Rat des Kreises Pirna, die in provokatorischer Form abgefasst ist, für sich und seine Familie die Genehmigung zur Übersiedlung in die BRD forderte.1 (Vom Rat des Kreises Pirna wurde diese Eingabe, da Faust nicht mehr in diesem Kreis gemeldet ist, an den Rat des Stadtbezirkes Berlin-Mitte zur weiteren Bearbeitung weitergeleitet.)
Im Zusammenhang mit diesem Übersiedlungsantrag und zur Person des Faust sind folgende Fakten bedeutsam:
Nach dem Besuch der Grund- und Oberschule legte Faust 1964 das Abitur ab. Bereits während seiner Schulzeit verstieß er wiederholt gegen die schulische Disziplin. Nach Ablegung des Abiturs arbeitete Faust zunächst in der Landwirtschaft und danach als Aushilfskellner; eine abgeschlossene Berufsausbildung besitzt Faust jedoch nicht.
Im Jahre 1965 wurde er Kandidat der SED, weil er sich dadurch nach eigenen Aussagen die Zulassung zum Hochschulstudium erhoffte.
Von einem 1965 aufgenommenen Studium für Kunsterziehung und Geschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig wurde er ebenso wie von einem 1967 begonnenen Studium am Literatur-Institut »Johannes R. Becher« in Leipzig wegen fortlaufender Disziplinarverstöße exmatrikuliert.
Bereits zum damaligen Zeitpunkt wurde sichtbar, dass Faust seine Fähigkeiten auf künstlerischem Gebiet stark überschätzte, die Leistungen fähiger, insbesondere jedoch progressiver Schriftsteller der DDR anzweifelte.
Im Jahre 1968 wurde Faust wegen seiner parteifeindlichen Haltung und Einstellung zu den konterrevolutionären Ereignissen in der ČSSR aus der SED ausgeschlossen.
Zu diesem Zeitpunkt begann er, sich nebenberuflich als »freischaffender Schriftsteller« zu betätigen. (Faust war und ist nicht Mitglied des Schriftstellerverbandes der DDR.) In seinen »Gedichten« diffamierte er die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR und forderte eine »verselbstständigte« Kulturpolitik.
Diese der sozialistischen Entwicklung der DDR entgegengesetzten Auffassungen führten auch mehrfach zu Auseinandersetzungen mit ihm durch verschiedene staatliche und gesellschaftliche Institutionen.
Da Faust in seinen »schriftstellerischen« Arbeiten jedoch unvermindert gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung in der DDR hetzte, wurde am 27. November 1971 gegen ihn ein Ermittlungsverfahren mit Haft wegen staatsfeindlicher Hetze und Diebstahls sozialistischen Eigentums eingeleitet. Im Zuge des Amnestieerlasses im Jahre 1972 wurde er aus der Untersuchungshaft entlassen.
Während der Untersuchungshaft wurde die erste Ehe des Faust geschieden. [Streichung eines Satzes zur Wahrung überwiegender schutzwürdiger Interessen gemäß StUG.]
Nach dem MfS weiter vorliegenden Hinweisen nahm Faust im Jahre 1973 Kontakt zu Biermann auf, dessen Beeinflussung bei ihm weitere feindliche Aktivitäten auslöste. In seinen »literarischen Arbeiten«, in denen er wiederum gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR hetzte, verbreitete er Schriftstücke, in denen er sich selbst darstellte und seine feindliche Einstellung zur sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR klar zum Ausdruck brachte.
So werden die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR in diesen Schriftstücken als »Mauer- und Stacheldrahtghetto«, »Monopolbürokraten-Staat«, »pragmatischer Diktatur-Sozialismus«, »großes Volksgefängnis« usw. bezeichnet. Die Rolle der Arbeiter und Bauern in der DDR verunglimpfte Faust mit solchen hetzerischen Bemerkungen: »Die einfachen Arbeiter oder die zwangskollektivierten Bauern haben in diesem sogenannten Arbeiter-und-Bauern-Staat keine entscheidende politische oder ökonomische Macht. Dafür haben sie ein machtbürokratisches Zentrum über sich, das international mit anderen Zentren verbunden und dem sowjetischen Machtapparat untergeordnet ist …«.
Im gleichen Zeitraum stellte er wiederholt für sich und seine Familie Anträge auf Übersiedlung in die BRD und Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR.
Die von ihm verfassten Anträge und Eingaben waren ebenfalls durch hetzerische Formulierungen gekennzeichnet.
Aufgrund seiner staatsfeindlichen Aktivitäten wurde Faust im Mai 1974 durch das Bezirksgericht Dresden zu viereinhalb Jahren Freiheitsentzug wegen staatsfeindlicher Hetze verurteilt.
Auch während der Verbüßung der Freiheitsstrafe in der Strafvollzugseinrichtung Cottbus bezeichnete er sich selbst wiederholt offiziell als »Feind der Staatsordnung der DDR« und äußerte offen, er werde mit den Mitteln des Schriftstellers gegen die sozialistischen Verhältnisse in der DDR auftreten. Er verwirklichte diese Androhungen auch durch hetzerische Äußerungen gegenüber anderen Strafgefangenen und Angehörigen der Strafvollzugseinrichtung in schriftlicher und mündlicher Form. Während der Strafvollzugshaft des Faust wurde dessen Ehefrau von Biermann finanziell unterstützt.
Am 22. März 1976 wurde Faust vorzeitig aus der Strafvollzugseinrichtung entlassen. An ihn erging die Aufforderung, sich umgehend beim zuständigen Volkspolizeikreisamt Pirna anzumelden, einen Personalausweis zu beantragen und eine geregelte Tätigkeit aufzunehmen, um seine Familie unterhalten zu können. Er wurde weiterhin eindringlich ermahnt, zukünftig die Gesetze der DDR zu achten. Bereits bei der Entlassung trat Faust wiederum provokatorisch und anmaßend auf. Er äußerte offen, er werde sich weder polizeilich melden noch einen Personalausweis entgegennehmen, da er sich nicht als DDR-Bürger betrachte. Sein erster Weg werde zu seinem Freund Biermann nach Berlin führen.
Wie dem MfS intern bekannt wurde, nahm Faust unmittelbar nach seiner Haftentlassung Kontakte zu Biermann und Havemann in Berlin auf.
Aufgrund der Beeinflussung durch Biermann und Havemann, die offensichtlich an seinem Verbleiben in der DDR stark interessiert sind, beantragte Faust am 26. März 1976 im Volkspolizeikreisamt Pirna/Bezirk Dresden einen Personalausweis und meldete sich beim dortigen Rat des Kreises, Abteilung Inneres, als Haftentlassener.
Im Verlaufe des in diesem Zusammenhang geführten Gespräches erklärte Faust, er werde seinen Wohnsitz nach Berlin verlegen, um »als Sekretär beim Berliner Schriftsteller Biermann tätig zu werden«.
Nachdem Faust vorerst unangemeldet bei Biermann und Havemann wohnte, meldete er sich am 22. April 1976 polizeilich in 104 Berlin, Wilhelm-Pieck-Straße 220 (Wohnung der Schauspielerin Eva-Maria Hagen) an. Während dieser Zeit wurde Faust von Biermann und Havemann beeinflusst, seinen Übersiedlungsantrag in die BRD fallen zu lassen und in der DDR zu verbleiben, um durch »schriftstellerische Arbeiten« und andere Aktivitäten die »politische Position Biermanns und Havemanns in der DDR zu stärken«.
Einer geregelten Tätigkeit geht Faust seit seiner Haftentlassung nicht nach und wird insbesondere von Biermann finanziell unterstützt.
Wie dem MfS weiter intern bekannt wurde, hat Biermann bestimmte Kulturschaffende der DDR zur finanziellen Unterstützung von Faust aufgefordert. Daraufhin »spendete« z. B. der Schriftsteller Stefan Heym 3 000 Mark zur Unterstützung des Faust.
Der Schriftsteller Volker Braun hilft dem Faust als »Mentor« bei seinen sogenannten literarischen Arbeiten.
In den Monaten Mai und Juni 1976 versuchte Faust mehrmals, von ihm verfasste Hetzliteratur in die BRD auszuschleusen. Bei dieser Literatur handelt es sich um »Episoden aus dem Strafvollzug der DDR«,2 in denen die sozialistische Gesellschaft in der DDR, speziell jedoch der Strafvollzug, verleumdet werden. Gleichzeitig wird in diesen Materialien Biermann verherrlicht, dem er speziell eine Episode mit dem Titel »Biermann in Cottbus« widmet.
In dieser Episode schildert Faust in hetzerischer Form, wie ihm die »Biermann-Werke« Mut und Kraft gegeben hätten, in der Strafvollzugseinrichtung Cottbus »auszuharren«. Wörtlich schreibt er darin u. a.:
»… in den paar Wochen, in denen ich ›psychologischer Kriegsführer‹ in einer Gemeinschaftszelle hausen durfte, wurde manche Debatte um die Person Biermanns, um die sich allerlei Legenden ranken, geführt. … ohne diese mittelbare Nähe zu den Hetzliedern, Gedichten und Balladen meines großen Bruders hätte ich wohl kaum diese 23 Monate Einzelhaft, die ich in diesem real sozialistischen Hoheitsgebiet abschrubben musste, einigermaßen gesund überleben können.«
Seine eigene politische Position nach der vorzeitigen Haftentlassung vergleicht er großspurig mit den Führern der kommunistischen Parteien Spaniens, Italiens und Frankreichs, die sich »von einer kommunistischen Plattform aus gegen die Moskauer Linie« aussprechen, denn »die Machthaber könne man am wirkungsvollsten reizen, wenn man sie auf ihrem eigenen Feld mit ihren eigenen Waffen schlage«.
Gleichzeitig mit dieser Hetzliteratur versuchte Faust, eine Abschrift des Briefes von Havemann an den Generalsekretär des ZK der SED, Genossen Erich Honecker, in die BRD zu schleusen.3
In Abstimmung mit Biermann und Havemann entwickelte Faust verstärkte Aktivitäten, um die vorzeitige Entlassung von weiteren Strafgefangenen aus Strafvollzugseinrichtungen der DDR durchzusetzen. Zu diesem Zweck verfasste Faust ein sogenanntes Testament des Strafgefangenen D. (Der D. verbüßte ebenfalls wie Faust in Cottbus eine Freiheitsstrafe.)
Dieses »Testament«, das Faust innerhalb und außerhalb der DDR zu verbreiten versucht, verleumdet den sozialistischen Strafvollzug der DDR.
Nach weiter dem MfS intern vorliegenden Hinweisen traf Faust am 13. Mai 1976 in der Wohnung des Biermann mit einem namentlich bekannten Mitglied des BRD-Komitees von »Amnesty International« zusammen.
Faust unterhält außerdem zu ehemaligen Strafgefangenen der DDR, die in die BRD ausgewiesen wurden und dem MfS namentlich bekannt sind, Kontakte, um die Möglichkeiten dieser Personen zur Organisierung von Aktionen in der BRD zur Freilassung weiterer Strafgefangener der DDR zu nutzen.
Entsprechend den im Rahmen dieser Kontakte getroffenen Absprachen sollen hierzu neben »Amnesty International«, die »Arbeitsgemeinschaft 13. August«, die »Menschenrechtskommission der BRD«, die »Organisation sozialistischer Kulturschaffender in der BRD« und Massenmedien der BRD eingesetzt werden.
Wie dem MfS weiter bekannt wurde, ist Faust von einer ursprünglich angestrebten Scheidung von seiner zweiten Ehefrau, nachdem er sich mit der Hagen überworfen hat, zurückgetreten.
Gegenwärtig hält er sich unangemeldet bei seiner Ehefrau bzw. in einem Atelier in Dresden-Gostritz auf.
[Streichung eines Satzes zur Wahrung überwiegender schutzwürdiger Interessen gemäß StUG.]
In internen Gesprächen äußert Faust, er wolle versuchen, sich nunmehr von der Bevormundung durch Biermann freizumachen und auch finanziell unabhängig werden.
Gleichzeitig informierte er seine Verbindungen in der BRD, entsprechende Schritte zu unternehmen, um ihn und seine Familie bei der Übersiedlung in die BRD zu unterstützen.
Zu diesem Zwecke leitete er auch eine Abschrift der erwähnten Eingabe an den Rat des Kreises Pirna einem ehemaligen Mithäftling in die BRD zu, um diesem »zur gegebenen Zeit« und entsprechend vorher getroffener Absprachen die Möglichkeit zu geben, mit diesem Schriftstück in der BRD massenwirksame Maßnahmen zur Unterstützung der Übersiedlung einleiten zu können.
Ohne Kenntnis von Biermann und Havemann suchte Faust am 24. Juni 1976 die Eingabenstelle beim Staatsrat der DDR auf, wobei er im Verlaufe des geführten Gespräches u. a. auf seine vor und während der Verbüßung seiner Freiheitsstrafe gestellten Anträge auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und Übersiedlung in die BRD Bezug nahm.
Durch das MfS wird aufgrund der gegenwärtigen Sachlage vorgeschlagen, dem neuerdings gestellten Antrag auf Übersiedlung des Faust und dessen Familie in die BRD (unter Berücksichtigung bereits früher gestellter Anträge) zuzustimmen, jedoch den provokatorischen Ton seines Schreibens entschieden zurückzuweisen.
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