Bericht Organisationsprobleme beim Gütertransport der DR
20. Januar 1976
Information Nr. 24/76 über einige Probleme der unrationellen Ausnutzung des Güterwagenparkes der Deutschen Reichsbahn
Das MfS untersuchte im Zusammenwirken mit Experten auf bedeutenden Zugbildungsbahnhöfen der Deutschen Reichsbahn einige Probleme der unrationellen Ausnutzung des Güterwagenparkes, insbesondere die auf Verstöße gegen Güterzugbildungsvorschriften zurückzuführenden Wagenfehlleitungen.
Im Ergebnis der Untersuchungen wurde festgestellt, dass durch Wagenfehlleitungen, hervorgerufene Verzögerungen in der termin- und artengerechten Bereitstellung von Transportraum monatlich der volkseigenen Wirtschaft ca. 30 000 Güterwagen für die Beladung nicht zur Verfügung stehen. Durch den Ausfall der genannten Anzahl Güterwagen können etwa 600 000 t Transportgüter nicht befördert werden. (Diese Menge entspricht etwa der Beladeleistung der Deutschen Reichsbahn von einem Tag im Monat.)
Darüber hinaus müssen zusätzlich wegen Wagenfehlleitungen eintretende Verzögerungen in der Beförderung von Güterwagen fremder Bahnverwaltungen höhere Wagenmieten in Valuta-Mark entrichtet werden. (Diese Valutaaufwendungen werden auf der Grundlage progressiv gestaffelter Wagenmietsätze berechnet und sind z. B. für von Bahnverwaltungen der nichtsozialistischen Länder angemieteten Güterwagen grundsätzlich in Schweizer Franken zu zahlen.)
Über die Ursachen und begünstigenden Bedingungen für Wagenfehlleitungen wurden folgende Feststellungen getroffen:
Ursächlich für die umfangreichen Wagenfehlleitungen sind im Wesentlichen grobe Pflichtverletzungen, disziplinloses Verhalten und Missachtung bestehender Rechtsvorschriften (Transportverordnung der DDR), innerdienstlicher Weisungen (Güterzugbildungs- und Fahrdienstvorschrift der Deutschen Reichsbahn) und erteilter Befehle, die von mit der Abwicklung des Rangierdienstes beauftragten Angehörigen der Deutschen Reichsbahn begangen werden. Sie finden ihren konkreten Ausdruck besonders in solchen Verhaltensweisen,
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dass Wagenzettel entfernt werden, sodass Bestimmungsbahnhöfe nicht mehr ersichtlich sind, die Zuführung der Leerwagen zum nächstfolgenden Einsatzort bzw. die Zuführung zur fristgemäßen Untersuchung und Reparatur nicht mehr gewährleistet werden kann,
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dass Güterwagen fehlerhaft bezettelt werden, das Vertauschen von Wagenzetteln geduldet wird und deshalb Güterwagen zu falschen Zielbahnhöfen laufen,
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dass Güterwagen in falsche Güterzüge eingestellt werden bzw. in falschen Güterzügen belassen werden.
Wie aus den Untersuchungen ersichtlich wurde, handeln die betreffenden Angehörigen der Deutschen Reichsbahn in erster Linie aus Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit und Routine sowie dem vorherrschenden Interesse zur Erzielung einer hohen Bahnhofsprämie. (Die Bahnhofsprämie ist Bestandteil der gesamten Lohnberechnung und wird auf der Grundlage der abgefertigten Wagenzahl errechnet, wozu u. a. die sogen[annte] »Bergleistung« – über den Rampenberg ablaufende Anzahl von Güterwagen – und der Wagenausgang vom Zugbildungsbahnhof zur Berechnung herangezogen werden.)
Die in diesem Zusammenhang besonders zu beachtenden konkreten negativen Auswirkungen bestehen darin, dass Wagenfehlleitungen zu höheren Belastungen der Rangierbahnhöfe und Strecken führen, den zusätzlichen Einsatz von Triebfahrzeugen und von Personalen der Deutschen Reichsbahn erfordern, Export- und Importlieferungen verzögern sowie wesentliche Transportaufgaben im Innern der DDR bzw. im Transitverkehr behindern.
Wie die Untersuchungen weiter ergaben, wird das Problem der Wagenfehlleitungen und die damit verbundenen negativen Auswirkungen durch die verantwortlichen Leitungskräfte aller Ebenen der Deutschen Reichsbahn bis zum Ministerium für Verkehrswesen unterschätzt. Weder im Prozess der ständigen politisch-ideologischen Erziehungsarbeit unter den Angehörigen der Deutschen Reichsbahn noch in der Aus- bzw. Weiterbildung erfolgen Erläuterungen und Auseinandersetzungen über Verstöße gegen die Güterzugbildungsvorschriften (GZV).
Wie festgestellt wurde, orientieren sich die Rangierer, Zugabfertiger sowie Leitungskader in den Zugbildungsbahnhöfen hauptsächlich auf die Erfüllung solcher quantitativer Kennziffern, wie Anzahl der Wagen im täglichen Ausgang, aufgelöste und gebildete Züge, Rückstau, Be- und Entladung, Auslastung, Sonderzugaufkommen, Frachtbestände und Pünktlichkeit, ohne jedoch auch die negativen Auswirkungen der Wagenfehlleitungen in die Abrechnung mit einzubeziehen. Die finanziellen Regelungen orientieren ebenfalls nur auf die mengenmäßige Abrechnung aufgelöster und neu gebildeter Züge und berücksichtigen nicht die qualitätsgerechte Seite der Zugauflösung und -bildung.
In den Wettbewerbsbestimmungen der Deutschen Reichsbahn sind Maßnahmen zur Verhinderung von Wagenfehlleitungen nicht vorgesehen.
Die fehlende Orientierung des Ministeriums für Verkehrswesen kommt u. a. darin zum Ausdruck, dass der Minister für Verkehrswesen zwar in einem Brief (vom 11. März 1975) die Präsidenten der Reichsbahndirektionen auf das Problem der Güterzugbildungsvorschriften im Allgemeinen aufmerksam machte, jedoch fehlt bisher eine konkrete zentrale Weisung zur Feststellung, Bearbeitung und Auswertung von Verstößen gegen die Güterzugbildungsvorschriften. Eine im Jahr 1966 erlassene »Richtlinie zur Erfassung und Behandlung von GZV-Verstößen und GZV-Abweichungen« wurde im November 1974 im Rahmen der Bereinigung bestehender Dienstvorschriften ersatzlos durch das Ministerium für Verkehrswesen außer Kraft gesetzt.
Weder im Ministerium für Verkehrswesen, seinen Fach- und Querschnittsbereichen, noch in den Zwischenleitungsorganen und deren Abteilungen und Stäben gibt es einen Verantwortungsbereich, in dem es zu den funktionellen Pflichten gehört, die Erfassung und Analyse von Wagenfehlleitungen verantwortlich zu bearbeiten sowie entsprechende Grundsatzentscheidungen und -regelungen vorzubereiten und operative Maßnahmen zur Zurückdrängung von Wagenfehlleitungen zu veranlassen.
Die auf den Bahnhöfen vorhandenen Betriebssachbearbeiter, die im Wesentlichen alle im Transportprozess durch die Deutsche Reichsbahn verursachten Schadenfälle bearbeiten, beachten ebenfalls nicht die infolge von Wagenfehlleitungen den Transportkunden entstehenden ökonomischen Schäden.
In den Untersuchungen wurde besonders die die bestehende Unterschätzung der Wagenfehlleitung charakterisierende Einstellung der Leitungskräfte auf den Zugbildungsbahnhöfen Karl-Marx-Stadt und Halle deutlich sichtbar. Auf dem Bahnhof Karl-Marx-Stadt/Hilbersdorf musste auf Forderung des Ministers für Verkehrswesen ein Maßnahmeplan zur qualitativen Verbesserung der Zugbildungsarbeit erarbeitet werden. Die zwischenzeitlich durchgeführten Kontrollen ergaben jedoch, dass die in dem Maßnahmeplan enthaltenen Festlegungen nach wie vor nicht von den Leitungskräften beachtet werden.
Der Amtsvorsteher des Reichsbahnamtes Halle erklärte, er wäre wohl Mitte April 1975 von den Sicherheitsorganen über Wagenfehlleitungen im Güterbahnhof Halle informiert worden, jedoch erschien ihm das Ausmaß der angegebenen Wagenfehlleitungen zunächst kaum glaubwürdig (22 000 Wagenfehlleitungen im inneren Bahnhof des Güterbahnhofes im Jahre 1974). Er habe sich bis zu diesem Zeitpunkt um Wagenfehlleitungen nicht weiter bemüht, da ihm weder von Leitungskadern des Güterbahnhofes noch von Mitarbeitern des Reichsbahnamtes Halle entsprechende Informationen gegeben worden wären. Als Ursache der Wagenfehlleitungen sehe er vor allem die unzureichende Beachtung dieses Problems in der Leitungstätigkeit. Entsprechende Maßnahme- und Kontrollpläne wären kein Bestandteil der Leitungsdokumente und würden deshalb auf den Zugbildungsbahnhöfen, in den Reichsbahnämtern und -direktionen nicht genügend beachtet und danach gehandelt [sic!].
Der Dienstvorsteher des Güterbahnhofes Halle äußerte, dass ihm die auf dem Güterbahnhof Halle verursachten Wagenfehlleitungen bekannt waren. Er habe die mittleren leitenden Kader daraufhin auch angesprochen, u. a. auch auf die entstehenden volkswirtschaftlichen Verluste aufmerksam gemacht, jedoch keine weiteren Entscheidungen zur Zurückdrängung dieser Erscheinungen getroffen.
Wie weiter festgestellt wurde, waren bis zu den Prüfungshandlungen des MfS auf dem Bahnhof Nordhausen weder der Inhalt des Briefes des Ministers für Verkehrswesen vom März 1975 noch ein von der Reichsbahndirektion Erfurt auf dieser Grundlage erarbeiteter Maßnahmeplan (Mai 1975) bekannt.
Die Unterschätzung der mit den Verstößen gegen die Güterzugbildungsvorschriften auftretenden Fragen ist nach Feststellungen des MfS besonders in den örtlichen Dienststellen der Deutschen Reichsbahn verbreitet. In diesen Verantwortungsbereichen werden in der Regel die eigenen Arbeitsleistungen nicht konkret kontrolliert. Es erfolgen auch keine Auseinandersetzungen mit Wagenfehlleitungen verursachenden Zugbildungsbahnhöfen. Im »Interesse der Wettbewerbsführung« bestehen sogenannte stille Abmachungen, sich nicht gegenseitig zu belasten. Statt wirksamer Kontrollen und erzieherischer Auseinandersetzungen über Wagenfehlleitungen, beherrscht in einer Reihe von Fällen falsche Kollegialität das Brigadeleben.
Die in den GZV-Vorschriften enthaltenen Möglichkeiten, in begründeten Ausnahmefällen (z. B. Vermeidung ungerechtfertigter Rangierarbeiten) durch die Dispatcherleitungen Wagenfehlleitungen genehmigen zu lassen, werden vielfältig genutzt, um derartige Anträge zu stellen, ohne dafür konkrete Begründungen abzugeben. Von den Dispatcherleitungen werden oftmals leichtfertig und ohne entsprechende Prüfung solcher Anträge und der Gründe Genehmigungen für Wagenfehlleitungen erteilt.
Die Dispatcherleitung des Bahnhofes Karl-Marx-Stadt/Hilbersdorf genehmigte z. B. im Juli 1975 insgesamt 733 Wagenfehlleitungen. Die Dispatcherleitung des Reichsbahnamtes Leipzig erteilte an die örtlichen Bahnhöfe oftmals Genehmigungsnummern für Wagenfehlleitungen, ohne deren begründete Notwendigkeit konkret zu prüfen. Diese den örtlichen Bahnhöfen bekannte Handlungsweise der Dispatcherleitung führte dazu, dass Genehmigungsnummern für Wagenfehlleitungen ohne konkrete Angabe von Gründen erschwindelt wurden.
Um den Umfang der durch Verstöße gegen die Güterzugbildungsvorschriften verursachten Wagenfehlleitungen einzuschränken, wird seitens des MfS empfohlen,
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die Leitung des Ministeriums für Verkehrswesen zu beauftragen, die Fragen der Güterzugbildung und die damit im Zusammenhang stehenden Probleme künftig stärker in ihrer Führungs- und Leitungstätigkeit zu beachten, insbesondere durch die Erteilung eindeutiger Weisungen und Festlegungen kontrollfähiger Maßnahmen zur Verhinderung von Wagenfehlleitungen,
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die politisch-ideologische Erziehungsarbeit unter den mit der Güterzugabwicklung beauftragten Angehörigen der Deutschen Reichsbahn, den in Dispatcherleitungen verantwortlichen Mitarbeitern für Zugbildung und -auflösung sowie den mit Kontrollfunktionen versehenen Angehörigen der Deutschen Reichsbahn zu verstärken.
Darüber hinaus wäre durch das Ministerium für Verkehrswesen zu prüfen, in welchem Umfang die geltenden Dienstvorschriften der Güterzugbildung gegebenenfalls zu verändern wären, um den rationellsten Einsatz des vorhandenen Güterwagenparkes zu gewährleisten und Wagenfehlleitungen durch geeignete finanzielle Anreize weitestgehend auszuschließen.
In den Zwischenleitungen und Bahnhöfen müsste durch geeignete Maßnahmen gesichert werden, dass die technologischen Unterlagen den Erfordernissen einer rationellen Ausnutzung des Güterwagenparkes entsprechen und Wagenfehlleitungen durch entsprechende Kontrollmöglichkeiten verhindert werden. Bei feststellbaren schwerwiegenden Verstößen gegen die Güterzugbildungsvorschriften sollten die erforderlichen öffentlichen Auswertungen gesichert und gegebenenfalls auch entsprechende finanzielle Sanktionen eingeleitet werden.
Für die konzeptionelle Gestaltung des sozialistischen Wettbewerbs im Verantwortungsbereich der Deutschen Reichsbahn sollte die Zweckmäßigkeit geprüft werden, ob die Verringerung der Wagenfehlleitungen in Zukunft mit berücksichtigt werden kann.