Bevölkerungsreaktion auf die konstituierende Tagung der Volkskammer
1. November 1976
Information über erste Reaktionen der Bevölkerung der DDR nach der konstituierenden Tagung der Volkskammer der DDR am 29. Oktober 1976 [Bericht O/31]
Aus den bisher vorliegenden ersten Informationen geht hervor, dass die Bevölkerung der DDR sehr großes Interesse an den Ergebnissen der Volkskammersitzung vom 29. Oktober 1976 zeigt. In vielen Betrieben und Einrichtungen wurde die Tagung der Volkskammer über Betriebsfunk gesendet oder in kleineren Kollektiven am Radio oder Fernsehapparat verfolgt. Bereits am Tage der konstituierenden Sitzung gab es in allen Bevölkerungskreisen verbreitet Diskussionen zur Besetzung der führenden Positionen des Staatsapparates der DDR.
Grundtendenz der aufgetretenen Reaktionen der Bevölkerung ist eine breite Zustimmung zur Wahl des Vorsitzenden und der Mitglieder des Staatsrates, des Vorsitzenden des Ministerrates und des Volkskammerpräsidenten der DDR. In ersten Meinungsäußerungen/Stellungnahmen wird volle Zustimmung zu den Entscheidungen der Volkskammer bekundet, wobei die Fortführung der kontinuierlichen Arbeiterpolitik auf der Grundlage der vom IX. Parteitag der SED beschlossenen Generallinie hervorgehoben wird.1
Die Wahl des Genossen Erich Honecker zum Vorsitzenden des Staatsrates der DDR wird überwiegend begrüßt. Die große Autorität und Popularität des Genossen Honecker betonend, wird erklärt, diese Festlegung sei als folgerichtiger Schritt zu betrachten, da Genosse Honecker maßgeblichen Anteil an der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft in der DDR habe und dadurch unter der Bevölkerung der DDR und im internationalen Maßstab großes Ansehen erlangte. Die Übertragung der Funktionen des Generalsekretärs der SED und des Vorsitzenden des Staatsrates in eine Hand sei darüber hinaus das folgerichtige Ergebnis der weiteren Festigung der sozialistischen Staatsmacht auf internationaler Ebene, zumal einige Generalsekretäre/1. Sekretäre der kommunistischen und Arbeiterparteien in den sozialistischen Ländern zwar international als Staatsoberhäupter anerkannt werden, aber de jure nicht bestätigt sind. Der Generalsekretär der SED sei jetzt auch erster Repräsentant des Staates, was die Vertretung der DDR gegenüber dem Ausland erleichtere.
Es sei zu begrüßen, dass mit der Verkörperung dieser beiden Funktionen durch den Generalsekretär des ZK der SED die führende Rolle der Arbeiterklasse und der marxistisch-leninistischen Partei im Staat unterstrichen wird.
Die Wahl des Genossen Honecker zum Staatsratsvorsitzenden und mehrerer Politbüromitglieder zu Mitgliedern des Staatsrates wird als Erhöhung der Bedeutung und Wirksamkeit dieses Gremiums eingeschätzt.
Die Wahl des Genossen Sindermann als Präsident der Volkskammer begrüßen zahlreiche Bürger, vor allem Mitglieder der SED.
Häufig wird betont, die SED-Fraktion sei in der Volkskammer die stärkste, und allein daraus bestehe die Notwendigkeit, dass der Präsident aus dieser Fraktion hervorgehe.2 Es sei zu erwarten, dass die Volkskammer durch den Einsatz des Genossen Sindermann, der als einflussreicher Politiker gelte, noch mehr an Autorität gewinnt.
In einigen Meinungsäußerungen wird die Wahl des Genossen Sindermann zum Präsidenten der Volkskammer jedoch als eine gewisse Abwertung seiner Person empfunden. Er habe in der neuen Funktion nicht mehr die Verantwortung wie bisher und verfüge über geringere Entscheidungsbefugnis.
Die Wahl des Genossen Willi Stoph zum Vorsitzenden des Ministerrates wird besonders unter Mitarbeitern des Staatsapparates lebhaft diskutiert und gleichzeitig begrüßt. In vielen Meinungsäußerungen wird Genosse Stoph als ein konsequenter Leiter bezeichnet, der es verstehe, den Ministerrat mit straff organisierten Methoden zu leiten.
Mehrfach wird jedoch auch Verwunderung über diese Besetzung zum Ausdruck gebracht, da Genosse Stoph früher wegen seines labilen Gesundheitszustandes von dieser Funktion entbunden worden sei. Es wird die Frage aufgeworfen, inwieweit Genosse Stoph – der in den letzten Jahren sichtbar gealtert wäre – physisch dieser Funktion gewachsen sei. Die Besetzung der leitenden Positionen ließe insgesamt die Schlussfolgerung zu, wonach keine fähigen jüngeren Kader für diese Funktionen, besonders für die des Vorsitzenden des Ministerrates, an die hohe Anforderungen gestellt würde, herangebildet worden seien.
Während ein Teil der Meinungsäußerungen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen das Ausscheiden des Genossen Sindermann aus dem Ministerrat »als Verlust für die Wirtschaft der DDR« wertet, da durch ihn eine neue Qualität in der Staats- und Wirtschaftsführung erreicht worden sei, wird in anderen Meinungsäußerungen gleichermaßen hervorgehoben, mit der Wahl der Genossen Sindermann und Stoph in ihre jetzigen Funktionen sei eine »richtige Profilierung« vorgenommen worden, denn Genosse Sindermann sei eigentlich mehr als Politiker zu sehen, während Genosse Stoph ein stärkerer Organisator wäre.
Mitarbeiter der Staatlichen Plankommission knüpfen an die Neubesetzung der Funktion des Vorsitzenden des Ministerrates die Erwartung nach einer »militärisch straff organisierten Wirtschaftspolitik«.
Auch in anderen Institutionen wird die Wahl des Genossen Stoph mit der Begründung begrüßt, er habe in der Vergangenheit bereits seine Qualifikation in organisatorischen Fragen bewiesen. Als erfahrener und bescheidener Mensch genieße er das Vertrauen der Bürger.3
Im Interesse einer fundierten Argumentation bringen viele Mitarbeiter des Staatsapparates sowie Genossen den Wunsch nach Informierung über die Gründe der Umbesetzung zum Ausdruck. Durch das Fehlen der Begründung für die personelle Besetzung der Funktionen des Vorsitzenden des Ministerrates und des Präsidenten der Volkskammer werde eine sachliche Einschätzung und Beurteilung der Entscheidungen erschwert. In diesem Zusammenhang treten Unklarheiten auf, wie zum Beispiel: Warum würden alle Spitzenpositionen von Vertretern der SED besetzt? Bleibe damit das Prinzip der Blockpolitik gewahrt? Wird mit diesen Entscheidungen eine Beeinträchtigung der Zusammenarbeit im demokratischen Block erreicht? (vor allem unter Mitgliedern der Blockparteien)4
Unverständnis gab es wiederholt über Gründe, weshalb Genosse Sindermann nicht wieder zum Vorsitzenden des Ministerrates gewählt wurde. Es wurden spekulative Vermutungen geäußert, ob er seinen bisherigen Aufgaben »nicht gewachsen« gewesen sei, ob man ihn nicht »abgeschoben« habe. Eine andere Version ist, er sei »beim großen Bruder in Ungnade gefallen« bzw. er »habe die wirtschaftlichen Probleme nicht mehr in der Hand« gehabt. Deshalb sei seine »Zurückstufung als Volkskammerpräsident« mit einer »Degradierung« und rückläufigen Entwicklung gleichzusetzen. (Argumentation besonders im Bezirk Halle)
In einigen Meinungsäußerungen wird die Wiederwahl des Genossen Friedrich Ebert nicht verstanden, wobei auf sein hohes Alter und seinen Gesundheitszustand hingewiesen wird. Auch die Wahl des Genossen Norden und des Prof. Correns stoßen aufgrund deren Alters auf Erstaunen.5
Die nicht erfolgte Wiederwahl Gerald Göttings6 findet besonders bei Mitgliedern der CDU und Mitgliedern der anderen Blockparteien starke Beachtung und stieß zum Teil auf Unverständnis, das bis zu negativen Bewertungen der Blockpolitik reicht. Mitglieder und Funktionäre der CDU stellen die Frage, warum Gerald Götting abgelöst wurde, obwohl er in seiner Funktion gut gearbeitet habe. Es wird für möglich gehalten, dass der Gegner diese Umbesetzung für Aktivitäten gegen unsere Blockpolitik nutzt. Daher sei eine entsprechende Orientierung in der politischen Massenarbeit notwendig. Vermutungen gehen weiter in die Richtung, ob Gerald Götting mit dieser Maßnahme Gelegenheit erhalten solle, wieder stärker als Vorsitzender der CDU zu wirken, zumal sich in kirchlichen Kreisen der DDR eine »Rechtsentwicklung« vollziehe.
Vereinzelt traten Äußerungen auf, die »Abwahl« Gerald Göttings sei Ausdruck für »Differenzen zwischen Staat und Kirche«; anstehende Probleme habe Götting nicht gemeistert.
Von Kreissekretären der CDU, die sich in der zentralen CDU-Schulungsstätte Burgscheidungen auf einem Lehrgang befinden, werden Schwierigkeiten in der Diskussion mit den CDU-Mitgliedern erwartet, die »bewusstseinsmäßig noch nicht so weit seien«.
Einzelne Mitglieder der LDPD und NDPD fassten die Nicht-Wiederwahl Göttings zum Volkskammerpräsidenten dahingehend auf, dass die Blockparteien »immer mehr in den Hintergrund gedrängt würden«. Man habe ihnen »das letzte repräsentative Amt entzogen«.
In kirchlichen Kreisen wird verschiedentlich die Nicht-Wiederwahl Göttings im Zusammenhang mit dem »Fall Brüsewitz« gesehen, dessen Ausweitung von der CDU nicht wirksam genug abgewehrt worden sei.7
In einzelnen negativen Reaktionen von politisch indifferenten und feindlich-negativ eingestellten Bürgern der verschiedensten Bevölkerungskreise – in allen Bezirken auftretend – wird die Wahl des Genossen Erich Honecker zum Vorsitzenden des Staatsrates mit der damaligen Wahl Walter Ulbrichts zum Staatsratsvorsitzenden verglichen und auf die »Machtkonzentration in seiner Hand« hingewiesen. Mit der Parallele zur Politik Walter Ulbrichts wird auf ein mögliches »Wiederaufleben des Personenkults« verwiesen. Bei der Ablösung Walter Ulbrichts als 1. Sekretär habe das Argument, es sei ungünstig, beide Funktionen in einer Person zu konzentrieren, wiederholt durchgeklungen, und heute befänden wir uns wieder auf dem gleichen Stand.
Vereinzelt wird geäußert, die Umbesetzungen in den leitenden Positionen seien »Ausdruck starker Machtkämpfe in den Spitzenpositionen«. Erich Honecker befände sich auf dem »Höhepunkt seiner Macht« und habe Einfluss genug, alle ihm nicht genehmen Funktionäre »abzuschießen«.
Diese Entscheidungen hätten deutlich gemacht, dass die SED die anderen Blockparteien nach Belieben in die »Schranken weisen« könne, um ihnen ihre »Unwichtigkeit« zu beweisen.
Es sei eine Farce, wenn weiter von sozialistischer Demokratie und dem Prinzip der kollektiven Leitung in Führungsgremien der DDR gesprochen werde, denn jetzt sei für alle sichtbar geworden, dass die Politik von »einem oder einigen Mächtigen« gemacht werde, die sich in allen Fragen die Entscheidungsbefugnis sichern.
Verschiedentlich wurden die Schlussfolgerungen gezogen, man müsse sich im Westfernsehen erst einmal über die »wahren Gründe« dieser überraschenden personellen Veränderungen informieren.