Bevölkerungsreaktion auf die Materialien zum IX. SED-Parteitag
3. Februar 1976
Information über erste Reaktionen unter der Bevölkerung der DDR auf die in Vorbereitung des IX. Parteitages veröffentlichten Materialien [Bericht O/21]
Die Veröffentlichung der Dokumente in Vorbereitung des IX. Parteitages fand starkes Interesse unter der Bevölkerung der DDR.1
Viele Meinungsäußerungen beweisen, dass sich breite Kreise der Bevölkerung intensiv mit dem Inhalt der Dokumente beschäftigen, besonders zutreffend für das Programm der SED und den Entwurf der Direktive zur Entwicklung der Volkswirtschaft. Eine Reihe von Meinungsäußerungen geht über globale Zustimmung hinaus, wobei Schlussfolgerungen für das jeweilige Arbeitsgebiet gezogen werden. Weitere Aktivitäten werden sichtbar in regen Diskussionen innerhalb der Arbeitskollektive sowie in der Qualität der verschiedenen individuellen Meinungen.
In vielen Gesprächen drückt sich die tiefe Befriedigung der Werktätigen über die konsequente Fortführung des erfolgreichen Weges des VIII. Parteitages der SED zur weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und zur Schaffung grundlegender Voraussetzungen für den allmählichen Übergang zum Kommunismus in der DDR aus.2 Auch von vielen Arbeitern wird anerkannt, dass die Interessen der Werktätigen im Mittelpunkt der Arbeit der Partei stehen.
Andere global zustimmende Meinungsäußerungen beinhalten Lob und Anerkennung für die Dokumente und heben im Wesentlichen hervor:
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Bei den drei Dokumenten handelt es sich um eine Einheit, sie sind inhaltlich miteinander abgestimmt.
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Aus den Dokumenten spricht großer Optimismus, und wer sie intensiv studiert, wird zur schöpferischen Aktivität angeregt.
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Besonders Programm und Direktive vermitteln anschaulich und konstruktiv Erkenntnisse aus der Vergangenheit und zeigen gleichzeitig auf, wie es auf diesem Wege weitergehen soll.
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Aus den Dokumenten spricht die tiefe Freundschaft zur Sowjetunion und zu den anderen sozialistischen Ländern. Das ist richtig, weil die DDR ohne deren Hilfe und Einheit der sozialistischen Staatengemeinschaft nicht bestehen kann.
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Es ist zu begrüßen, dass dem Programm der Sicherung des Friedens große Bedeutung beigemessen wird; denn der Frieden ist Voraussetzung für die Verwirklichung unserer Ziele.
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Die großen Ziele sind nur dann zu erreichen, wenn von jedem Einzelnen noch größere Anstrengungen im täglichen Arbeits- und Produktionsprozess unternommen werden.
Anerkannt wird besonders, dass die Partei die drei Dokumente allen Werktätigen zur Diskussion vorlegt; diese Maßnahme sei Beweis für die Verbundenheit und das Vertrauen der Partei zu allen Bürgern der DDR. Die Dokumente seien sprachlich auch so abgefasst und nach Schwerpunkten gegliedert, dass sie für alle Bürger verständlich und überschaubar seien.
In den Reaktionen aller Bevölkerungsschichten ist festzustellen, dass die Entwürfe der Direktive und des Programms die am meisten diskutierten Dokumente sind. Übereinstimmend wird gleichzeitig in allen Bezirken der DDR festgestellt, dass bestimmte Abschnitte dieser beiden Dokumente miteinander auf Aussage und bestimmte terminliche Festlegungen verglichen werden, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, inwieweit bestimmte Maßnahmen bereits im laufenden Fünfjahrplan realisiert werden.
Bei überwiegend globaler Zustimmung zu den Dokumenten und positiver Aussage in den Diskussionen – wie eingangs eingeschätzt – ist jedoch in starkem Maße festzustellen, dass in der Reaktion eine zum Teil einseitige Orientierung auf bestimmte Abschnitte der Dokumente vorhanden ist, welche die differenzierten individuellen Interessen der Bürger unmittelbar berühren. Dies findet seinen Ausdruck unter anderem darin, dass vorrangig über
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Entwicklung der Arbeits- und Lebensbedingungen,
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sozialpolitische Maßnahmen,
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Ziele und Aufgaben im jeweiligen Tätigkeitsbereich,
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die Entwicklung der Territorial- und Wohnbereiche
diskutiert wird.
In Meinungsäußerungen zu diesen Detailfragen werden häufig vielfältige Lücken im gegenwärtigen Stand der Kenntnisse über den Gesamtinhalt der Dokumente – sowohl hinsichtlich der Aussagen zu außenpolitischen Fragen als auch größerer politisch-ökonomischer Zusammenhänge – deutlich, teilweise auch zurückzuführen auf den großen Umfang der Materialien.
In diesem Zusammenhang ist weiter festzustellen, dass gegenwärtig in allen Bevölkerungsschichten spekulative Erwartungen zunehmen, wobei Bezug genommen wird auf bestimmte Passagen in den Entwürfen des Programms und der Direktive. Diese Spekulationen beziehen sich zumeist auf
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den Zeitpunkt der Einführung der 40-Stunden-Woche,
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konkrete Festlegungen hinsichtlich einer leistungsorientierteren Lohnpolitik,
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konkretere Formen der Urlaubsregelung,
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mögliche Rentenerhöhungen und Herabsetzung des Rentenalters,
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weitere Konkretisierung dieser Probleme unmittelbar in den Referaten des IX. Parteitages.
Besonders das im Programm gestellte Ziel zur Erreichung der 40-Stunden-Woche wird breit diskutiert und Fragen, zu welchem Zeitpunkt mit der Einführung zu rechnen ist und warum dazu keine konkreten Festlegungen erfolgten, sind weit verbreitet. Während ein Teil der sich dazu äußernden Bürger davon ausgeht, mit der Einführung der 40-Stunden-Woche sei noch bis 1980 zu rechnen, sonst wäre dieser Fakt nicht so konkret im Programm formuliert, äußert ein anderer, größerer Teil der Bürger, wenn die Einführung im Jahre 2000 erfolge, sei das Programm auch noch erfüllt.3
Hinsichtlich konkreterer Festlegungen zur leistungsorientierten Lohnpolitik wird in bestimmten Produktionszweigen erwartet, dass für die gleiche Arbeit in bisher geringer bezahlten Zweigen der Volkswirtschaft eine Lohnangleichung an die Entlohnung in den Schwerpunktbereichen der Volkswirtschaft erfolgt.
Von einer Veränderung der Urlaubsregelung wird insbesondere von den Werktätigen, die weniger als drei Wochen Urlaub erhalten, erwartet, dass der Mindesturlaub auf 21 Tage festgelegt wird. Gleichzeitig wird spekuliert, inwieweit in neuen Festlegungen der arbeitsfreie Sonnabend weiterhin auf den Urlaub angerechnet wird. Fragen gibt es in der Hinsicht, ob eine Erhöhung des Mindesturlaubs und die gleichzeitige Einführung der 40-Stunden-Woche bei erhöhten Produktionsanforderungen miteinander zu vereinbaren seien. Unklarheiten bestehen darüber, wie eine Erhöhung des Mindesturlaubs und die Einführung der 40-Stunden-Woche in bestimmten Zweigen, wie zum Beispiel Landwirtschaft, Volksbildung, Handel, Gesundheitswesen und andere, durchzusetzen seien, wobei mit der Überwindung größerer Schwierigkeiten gerechnet werden müsste. Unklarheiten gibt es dahingehend, wie die Festlegungen mit dem gegenwärtig noch hohen Stand der Überstundenstatistik zu vereinbaren seien.
Die bereits in der Vergangenheit zum Teil sporadisch aufgetretenen Erwartungen und Spekulationen bezüglich der Herabsetzung des Rentenalters und erweiterter Reisetätigkeit nehmen erneut an Umfang zu. Dabei wird die Erwartung auf eine mögliche uneingeschränkte Reisetätigkeit in sozialistische und nichtsozialistische Staaten durch Lockerung der derzeitigen Bestimmungen teilweise verbunden mit der Einräumung von Möglichkeiten der Erweiterung der Reisetätigkeit zu Fachtagungen, Kongressen, Meinungsaustauschen und Urlaubsgestaltung. Die Herabsetzung des Rentenalters wird teilweise als Nachholbedarf gegenüber anderen sozialistischen Ländern bezeichnet.
Gegenwärtig werden in allen Bevölkerungsschichten bei positiver Wertung der in den Dokumenten genannten Ziele in bestimmtem Umfang skeptische Meinungen und Zweifel an der unmittelbaren Erreichbarkeit und Verwirklichung der Aufgaben geäußert. Besonders unter Arbeitern sind Argumente vorhanden mit solcher Aussage:
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die Ziele sind zu hoch gestellt, sie sind vorläufig nicht zu erfüllen,
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bei vielen Bürgern der DDR sind Rudimente bürgerlicher Denkweisen nicht überwunden – das wird in den Dokumenten nicht in Rechnung gestellt,
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es ist nicht überzeugend, wenn bereits jetzt das Ziel des Aufbaus des Kommunismus gestellt wird, aber gegenwärtig noch Schwierigkeiten beim Aufbau des Sozialismus für jeden Einzelnen im täglichen Leben sichtbar sind.
Gleichzeitig wird eine Reihe von Fragen gestellt, die in den Dokumenten nicht ausreichend beantwortet würden, z. B. inwieweit die Perspektive des Aufbaues des Sozialismus und Kommunismus mit den anderen Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft abgestimmt sei und die anderen Länder ähnlich präzise formulierte Programme besitzen. Die DDR allein könne das Ziel nicht erreichen, und unser kleiner Staat würde eine Aufgabe, Vorhut oder Beispiel für andere zu sein, nicht bewältigen können, ohne Rückschläge in Kauf nehmen zu müssen. Dabei taucht die Fragestellung auf, ob zu diesen Grundfragen zwischen den Bruderparteien einheitliche Auffassungen – auch über Termine und Perspektivzeiträume bestehen.
Es wird erwartet, dass in den Referaten des IX. Parteitages konkretisierte Erläuterungen zur weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft der DDR erfolgen, da die Dokumente über Detailfragen bisher ungenügend Auskunft geben würden. Es sei erforderlich, den Zeitpunkt des Beginns des Aufbaues des Kommunismus näher zu definieren.4 Zur Zusammensetzung der Arbeiterklasse sei bisher keine klare Antwort erfolgt, besonders auch zu dem Problem, ob Arbeiter, die sich zu Angehörigen der Intelligenz qualifiziert haben, weiterhin zur Arbeiterklasse gehören. Unklar sei die Rolle der selbstständigen Handwerker im Kommunismus; ihre Förderung stehe im Widerspruch zur Ökonomie im Sozialismus/Kommunismus.
Fragen werden in Verbindung mit dem Problem der weiteren Abgrenzung der DDR von der BRD aufgeworfen. Es sei bisher nicht ersichtlich, ob die Trennung Deutschlands nun endgültig oder an eine Wiedervereinigung zu einem späteren Zeitpunkt unter sozialistischen Bedingungen gedacht sei.5
Neben den überwiegend positiven Bewertungen der Dokumente, die zum Teil auch viele Fragen und Unklarheiten mit einschließen, sind dem MfS jedoch auch im geringeren Umfang solche Meinungsäußerungen bekannt, die in gehässiger Form die Dokumente herabwürdigen und eine politisch negative bis feindliche Einstellung zu unserem Staat erkennen lassen. Es handelt sich dabei um Personen, die dem MfS bereits als negativ-feindlich bekannt sind, sowie um solche, die in starkem Maße einer Beeinflussung der Argumente westlicher Sender unterliegen. Solche Meinungen werden überwiegend in individuellen Gesprächen und im kleinen Kreis geäußert. Sie sind als nicht massenwirksam einzuschätzen. Dabei sind besonders folgende Tendenzen festzustellen:
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Außenpolitisch wird wieder ein »harter Kurs« gefahren; statt Annäherung erfolgt eine weitere Abgrenzung zwischen der DDR und der BRD und eine Verschärfung des ideologischen Kampfes; damit orientiert sich die Partei weg vom Willen der Massen.
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Der Geist von Helsinki spiegelt sich in den Dokumenten nicht wider; wo bleiben die dort geforderten Erleichterungen?6
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Es wird von einem Bewusstsein ausgegangen, das bei der breiten Masse überhaupt noch nicht vorhanden ist; die Partei macht sich etwas vor; »oben« weiß man nicht, was »unten« los ist.
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Es ist unreal, vom Aufbau des Kommunismus zu sprechen, wenn einfachste Fragen aus dem persönlichen Existenzbereich, zum Beispiel in Verbindung mit Versorgungsproblemen, nicht gelöst sind; mit solchen Zielstellungen macht sich die Partei lächerlich und wird bei den Arbeitern unglaubwürdig.
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Dokumente stellen hinsichtlich der sozialpolitischen Aspekte eine »Verdummung« der Massen dar, da keine Termine genannt werden (z. B. Einführung 40-Stunden-Woche); mit dieser Zusicherung ohne Termine sollen alle Bevölkerungsgruppen mit Mindesturlaub und -einkommen beruhigt werden.
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Die vorgesehenen Steigerungsraten in der Produktion und die weitere Intensivierung sind mit der Ausbeutung in kapitalistischen Staaten gleichzusetzen; Intensivierung kann nicht grenzenlos erweitert werden; in vielen Produktionsbereichen werden bereits Höchstanforderungen erfüllt, eine weitere Intensivierung kann nur noch auf Kosten der Kraft und Gesundheit der Arbeiter erfolgen (letztgenannte Tendenz teilweise auch aus Meinungsäußerungen von Arbeitern mit positiver Grundhaltung zur DDR).
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Die Auslassung präziser Festlegungen zur Stabilität der Verbraucherpreise in der DDR beweist die Unrichtigkeit bisheriger Versprechungen; Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise gehen auch in der DDR zu Lasten der Arbeiter.
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Die Orientierungen auf dem Gebiet der Landesverteidigung sind überspitzt und unnötig, bringen für den Einzelnen zusätzliche Härten, verschärfen [das] Verhältnis zu westlichen Nachbarn, sind nach Helsinki und im Zusammenhang mit Politik der Entspannung unverständlich (Unterschätzung der Gefährlichkeit des Imperialismus auch bei Bürgern mit positiver Grundeinstellung!).7