Brief von Bischof Krusche an den Staatssekretär für Kirchenfragen
1. Dezember 1976
Information Nr. 836/76 über einen provokatorischen Brief von Bischof Krusche (Magdeburg), den er dem Staatssekretär für Kirchenfragen zu übersenden beabsichtigt
Dem MfS wurde bekannt, dass am 26./27. November 1976 in Magdeburg eine interne Sitzung der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen stattfand, in deren Verlauf u. a. auf die Ereignisse um Biermann eingegangen wurde. Im Ergebnis dieser Beratung wurde ein Brief der Kirchenleitung Magdeburg an den Staatssekretär für Kirchenfragen formuliert, in dem die Ereignisse um Pfarrer Brüsewitz mit »Äußerungen von Schriftstellern der DDR« in Zusammenhang gebracht und die Forderung erhoben wird, »dass die Stimmen verantwortungsbewusster Mitbürger nicht überhört und nicht zum Verstummen gebracht werden«.
Der Formulierung des Briefes war ein »Bericht zur Lage« durch Bischof Krusche vorausgegangen. Darin erwähnte Krusche, im Zusammenhang mit den Ereignissen um Biermann und Reiner Kunze hätten sechs Pfarrer aus den Kirchenkreisen Eisleben und Hettstedt ein Protestschreiben an den Vorsitzenden des Staatsrates sowie 42 Seminaristen des Katechetischen Oberseminars Naumburg eine Protestresolution an die Regierung der DDR unterschrieben. Abschriften dieser Schreiben und Unterschriftenlisten befänden sich im Besitz der Kirchenleitung Magdeburg. Krusche betonte, im Zusammenhang mit der gesamten Entwicklung in den letzten Monaten mache sich ein Gespräch mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen unbedingt erforderlich; seinen entsprechenden Bitten sei bisher aber nicht entsprochen worden.
In diesem Zusammenhang verwies Krusche darauf, bereits im September 1976 habe sich der Sekretär des Bundes, Oberkonsistorialrat Stolpe, ergebnislos um ein Gespräch zwischen dem Staatssekretär für Kirchenfragen, Vertretern des Bundes und der Kirchenleitung bemüht. Für dieses Gespräch sei in der Kirchenleitung Magdeburg von Propst Bäumer ein »Brief« vorbereitet gewesen, der dort mündlich vorgetragen werden sollte.
Dieser Brief – der jedoch durch das Nichtzustandekommen eines Gesprächs bisher nicht verwendet worden sei – beinhalte »Vorwürfe an den Staat«, die der Staatssekretär während des Gesprächs beantworten sollte.1
Es handelt sich dabei u. a. um folgende Aussagen:
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Die staatlichen Organe hätten sich im Zusammenhang mit der Beerdigung des Brüsewitz in Rippicha in innerkirchliche Belange eingeschaltet.
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Von den staatlichen Organen werde ungerechtfertigt eine Distanzierung der Kirchenleitung, des Kirchenkreises Zeitz und der Kirchengemeinde von Brüsewitz verlangt.
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Seitens staatlicher Organe werde der Kirchenleitung »unterstellt«, sie hätte Einfluss auf die Veröffentlichungen zum Vorkommnis um Pfarrer Brüsewitz in westlichen Massenmedien genommen.
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Kirchlichen Stellen sei der Inhalt der Plakate, die Brüsewitz vor seiner Verbrennung aufgestellt hatte, nicht zur Kenntnis gegeben worden.
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Im Zusammenhang mit der Beerdigung von Brüsewitz seien in Zeitz und Umgebung mehrere Personen ungerechtfertigt verhaftet bzw. von der Teilnahme an der Beerdigung ferngehalten worden.2
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Von staatlichen Organen sei keine öffentliche Distanzierung zu den Artikeln und Kommentaren in »Neues Deutschland« und »Neue Zeit« vorgenommen worden.
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Die Kommentare in »Neues Deutschland«3 und »Neue Zeit« würden zur Propaganda gegen die Kirche genutzt werden.
Bischof Krusche betonte weiter, ein Gespräch, das am 29. November 1976 vom Staatssekretär Seigewasser mit Kirchenpräsident Natho, Dessau, als Vertreter des Vorstandes des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, und zwei Vertretern der Kirchenleitung Magdeburg (Bischof Krusche und Propst Bäumer) vor allem im Zusammenhang mit den Ereignissen um Pfarrer Brüsewitz geführt werden sollte, sei ebenfalls abgesagt worden. Dadurch sei die Zeit herangereift, sich nachdrücklich beim Staatssekretär Gehör zu verschaffen.
Bischof Krusche stellte weiter fest, durch die Entsendung eines neuen, von ihm und Propst Falcke formulierten Schreibens könne erreicht werden, dass das vom Staatssekretär Seigewasser abgesetzte Gespräch doch noch durchgeführt werde.
Es wurde der Beschluss gefasst, dieses Schreiben abzusenden, sobald es vom Vorstand des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR am 29. November 1976 bestätigt worden sei. Sollte eine Bestätigung nicht erfolgen, so sehe sich die Kirchenleitung der Kirchenprovinz Sachsen trotzdem veranlasst, den Brief abzusenden.
Am 29. November 1976 fand die routinemäßige Sitzung des Vorstandes des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR unter der Leitung von Bischof Schönherr statt. Zu Beginn informierte der Sekretär des Bundes, Oberkonsistorialrat Stolpe, über eine kurze Unterredung im Staatssekretariat für Kirchenfragen, bei der ihm mitgeteilt wurde, dass das für den 29. November 1976 geplante Gespräch zwischen Staatssekretär Seigewasser, einem Vertreter des Vorstandes des Bundes und zwei Vertretern der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (Magdeburg) auf unbestimmte Zeit verschoben worden sei.
Daraufhin teilte Bischof Krusche, Magdeburg, mit, dass die Kirchenleitung den Beschluss gefasst hat, an den Staatssekretär für Kirchenfragen einen Brief zu richten. Er habe sich bisher an die Weisung gehalten, keine Maßnahmen im Alleingang, ohne vorherige Abstimmung mit den anderen Bischöfen bzw. dem Vorstand des Bundes, durchzuführen. Nachdem das für den 29. November 1976 zugesagte Gespräch mit Staatssekretär Seigewasser jedoch auf unbestimmte Zeit verschoben wurde, sehe sich die Kirchenleitung der Kirchenprovinz Sachsen nicht mehr veranlasst, sich an diese Vereinbarung zu halten und habe in Ergänzung des bisher nicht verwendeten Schreibens vom September 1976 »einen allgemein gehaltenen Brief« entworfen und dessen Absendung an den Staatssekretär beschlossen.
Krusche forderte die Anwesenden auf, ihre Zustimmung zu geben und den Brief als gemeinsamen Standpunkt des Vorstandes des Bundes zu akzeptieren, verwies jedoch darauf, dass diese Angelegenheit absolut vertraulich sei. Dabei verteilte Krusche einige Exemplare des Briefes – eine Abschrift davon befindet sich im vollen Wortlaut in der Anlage – und sammelte die Exemplare nach Kenntnisnahme durch die Beteiligten wieder ein.
Nach Kenntnisnahme des Inhalts des Schreibens sprachen sich alle Anwesenden gegen die Absendung des Briefes aus. Bischof Schönherr erklärte, durch ein derartiges Schreiben würden weitere geplante Gespräche mit dem Staatsapparat erschwert werden, weil »das Vertrauen gestört und das Verhältnis zwischen Staat und Kirche erheblich belastet« werde. Schönherr warnte in diesem Zusammenhang vor einer Parallelisierung zwischen Brüsewitz und einigen Aktivitäten von Schriftstellern.
Obwohl Bischof Krusche äußerte, den Brief nochmals überarbeiten zu wollen, war es die einheitliche Auffassung der Anwesenden, dass der Vorstand des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR seine Zustimmung zu diesem Brief nicht geben könne. Auch Bischof Hempel/Dresden, der Bischof Krusche bisher häufig in dessen Auffassungen unterstützte, äußerte starke Bedenken gegen die Entsendung des Briefes und erklärte, dass dies auch nicht den Beschlüssen der Synode des Bundes vom September 1976 in Bezug auf die weitere Behandlung des Falles Brüsewitz entspräche.
Bischof Krusche zeigte sich sehr enttäuscht über die Haltung des Bundes, verteidigte jedoch seinen Standpunkt und äußerte die Absicht, den Brief eventuell nach einer nochmaligen Überarbeitung Anfang Dezember 1976 beim Staatssekretär für Kirchenfragen abgeben zu lassen.
Bischof Krusche wurde erwidert, seine Haltung stoße auf Unverständnis des Bundes, und diese Angelegenheit müsse unter diesen Umständen die Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen allein verantworten.
Weiter wurde intern bekannt, dass Bischof Krusche auf einer kurzfristig von ihm einberufenen außerordentlichen Sitzung der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen in Magdeburg am Abend des 30. November 1976 deren Mitglieder von der ablehnenden Entscheidung des Vorstandes des Bundes informierte und betonte, dass damit die Verantwortung für den Brief allein bei der Kirchenleitung Magdeburg liege. In der Diskussion in der Sitzung der Kirchenleitung gab es erstmalig von einigen Mitgliedern Widerspruch zum Inhalt und zur Absendung des Briefes an Staatssekretär Seigewasser. (An der Konkretisierung der Information wird gearbeitet.) Bischof Krusche hat sich trotzdem vorgenommen, den Brief abzusenden. Zu diesem Zweck hat er die Bemerkung »An eine Veröffentlichung oder Verbreitung ist nicht gedacht« hinzugefügt.
Die Information ist nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Anlage zur Information Nr. 836/76
Wortlaut des Briefes der Kirchenleitung Magdeburg an den Staatssekretär für Kirchenfragen
Wir bedauern sehr, dass das für den 29. November 1976 vorgesehene Gespräch mit dem Vorstand der Konferenz der Kirchenleitungen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR und Vertretern unserer Kirchenleitung jetzt nicht stattfinden soll. Wir hatten gehofft, bei diesem Gespräch drängende Probleme erörtern zu können, die uns seit einigen Monaten bewegen. Wir meinen, dass das Bemühen um Klärung keinen Aufschub mehr duldet.
Wir legen unserem Schreiben einen Brief bei, der im Auftrage der Kirchenleitung im September verfasst, aber in der Erwartung eines in Aussicht gestellten Gespräches zurückgehalten worden ist. Ereignisse der letzten Wochen, die auch uns beunruhigen, verstärken unseren Wunsch nach einem Gespräch mit Ihnen. Wir sind uns bewusst, dass wir mit unseren Äußerungen Gefahr laufen, in die Reihe derer eingeordnet zu werden, die der DDR feindlich gegenüberstehen. Damit wären wir aber missverstanden.
Wir leben in der sozialistischen Gesellschaft der DDR und nehmen an den Ereignissen und Bewegungen in dieser Gesellschaft teil. Die Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz hat in erster Linie im Raum der Kirche Beunruhigung ausgelöst und zu intensiven Gesprächen genötigt. Die Geschehnisse im Zusammenhang mit Äußerungen von Schriftstellern der DDR haben darüber hinaus in weiteren Kreisen der Bevölkerung Betroffenheit verursacht. In beiden Vorgängen zeigt sich das Problem, in welcher Weise reale Widersprüche, die in unserer Gesellschaft existieren, zur Sprache gebracht werden können, um so bewältigt zu werden.
Wir können nicht zureichend überschauen, welche Motive und Umstände bei den Geschehnissen im Einzelnen eine Rolle spielen. Wir sehen aber, dass Menschen, die sich diesen Widersprüchen stellen, vielfach nicht die Möglichkeit haben, ihre Erfahrungen und Einsichten in ausreichendem Maße in die Diskussion zu bringen.
Wir haben die Sorge, dass da, wo dem offenen Wort nicht Raum gegeben wird oder wo dieser Raum unzumutbar eingegrenzt wird, der Mut zu verantwortlichem Mitreden in der Gesellschaft erlahmt; stattdessen Opportunismus und Aufdringlichkeit wachsen, Aggressionen sich anstauen oder Schweigen sich ausbreitet.
Wir meinen, dass sich solche Entwicklungen für das politische Bewusstsein in unserer Gesellschaft und für die Existenz des einzelnen Menschen in ihr nur nachteilig auswirken können.
Wir bitten Sie, sich dafür einzusetzen, dass die Stimmen verantwortungsbewusster Mitbürger nicht überhört und nicht zum Verstummen gebracht werden. So könnten wertvolle Begabungen und Kräfte gewonnen werden.