Drohungen gegen die DDR zur Erzwingung einer Ausreise
9. September 1976
Information Nr. 611b/76 über die Androhung einer Protestkundgebung vor der Ständigen Vertretung der DDR in der BRD am 13. September 1976 sowie terroristischer Gewaltakte gegen die DDR [Langfassung]
Es wurde bekannt, dass der ehemalige Bürger der DDR [Name], geboren am [Tag] 1946 in [Ort], wohnhaft: [Adressen], September 1971 von der StVA Brandenburg nach der BRD ausgewiesen, von 1962 bis 1970 insgesamt neunmal vorbestraft, gegenwärtige Staatsbürgerschaft nicht bekannt, in einem an den Rat der Stadt [Name der Stadt], Abteilung Innere Angelegenheiten, adressierten Schreiben eine Protestkundgebung vor der Ständigen Vertretung der DDR in der BRD am 13. September 1976 sowie terroristische Gewaltakte gegen die DDR androhte. [Der Verfasser] verfolgt mit diesen Drohungen das Ziel, auf die staatlichen Organe der DDR Druck auszuüben und die Genehmigung der Übersiedlung seines Halbbruders [Name], geboren am [Tag] 1956 in [Stadt in der DDR], wohnhaft: [Adresse in der DDR], beschäftigt: VEB [Betrieb], als Heizer, und dessen Ehefrau [Name], geboren am [Tag] 1955 in [Stadt], wohnhaft: wie Ehemann, beschäftigt: VEB [Betrieb] als Maschinistin, mit dem Kind [Name] (2 Jahre), nach der BRD zu erzwingen.
In seinem von hetzerischen und verleumderischen Aussagen strotzenden Pamphlet, führt [der Verfasser] im Zusammenhang mit der Forderung nach Genehmigung der Übersiedlung der Familie [Name] nach der BRD u. a. aus:
»Sollte meinem Bruder oder dessen Familie auch nur das Geringste passieren, weil selbige in Wahrnehmung der Menschenrechte einen Antrag auf Ausreise gestellt haben, so wird es ein Inferno geben … Des Weiteren werde ich Ihnen verbindlich die Mitteilung machen, sollte ich nicht innerhalb von drei Wochen von meinem Bruder [Name] die verbindliche Mitteilung erhalten, dass er mit seiner Familie ausreisen darf, so werde ich mit mehreren hunderten Anhängern der NPD am Montag, dem 13. September 1976 vor der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn eine Protestkundgebung veranstalten und dabei symbolisch eine Mauer und Stacheldraht aufbauen usw. Das ist nur eine legale Protestaktion, bevor es zu folgenschweren Auseinandersetzungen kommen kann …«
Die bisherigen Überprüfungen durch das MfS ergaben:
Der in der DDR von 1962 bis 1970 insgesamt neunmal vorbestrafte [Verfasser] (wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts in vier Fällen, Körperverletzung und Sittlichkeitsdelikten in je zwei Fällen und Urkundenfälschung) wurde im September 1971 aus der StVA Brandenburg nach der BRD ausgewiesen. [Angaben zu Familienstand und Wohnsitz]. Mehrfache Versuche der Einreise des [Verfassers] in die DDR wurden von den zuständigen Organen der DDR abgelehnt. Bisherigen Erkenntnissen zufolge soll er bei der US-Militärpolizei in Worms tätig sein.
Seit seiner Ausweisung aus der DDR unterhält er aktive postalische Rückverbindungen zu seinen in [Stadt in der DDR] wohnhaften Verwandten (Mutter und Geschwister) und Bekannten. Dabei hetzte er in übelster Art und Weise gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung. Besonders auf seinen Halbbruder [Name] übt er feindlich-negativen Einfluss aus.
So hat [Verfasser] u. a. den [Halbbruder] bereits im Jahr 1970 zu Vorbereitungshandlungen zum ungesetzlichen Grenzübertritt animiert, und im März 1975 forderte er ihn zur Übersiedlung nach der BRD auf, wobei er seiner Forderung mit dem Hinweis auf zu erwartende ca. 6 000 Mark Häftlingsentschädigung Nachdruck verleihen wollte. Beide stehen in ständiger postalischer Verbindung und trafen sich mehrfach in der ČSSR. Während dieser Treffen wurde u. a. auch das Vorgehen des [Halbbruders] hinsichtlich einer Übersiedlung nach der BRD beraten und abgestimmt.
Inspiriert durch die feindlich-negativen Einflüsse des [Verfassers] stellte [der Halbbruder] am 5. August 1976 beim Ministerium des Innern einen Antrag auf Aberkennung der Staatsbürgerschaft der DDR und Übersiedlung nach der BRD für sich, seine Ehefrau und seinen Sohn. In diesem Antrag bezeichnet [der Halbbruder] sich und seine Ehefrau als Antikommunisten, die sich stets in passiver Opposition gegenüber der DDR befanden. Weiterhin enthält dieser Antrag an das Ministerium des Innern folgende Drohung:
»Diesen Antrag stellen wir insbesondere deshalb, um Menschenleben zu schützen (das der anderen) – unser Leben in der DDR ist uns – wie gesagt – nur einen Dreck wert. Gleichzeitig machen wir Sie darauf aufmerksam, dass mein Bruder uns verbindlich Mitteilung gemacht hat, sollte uns etwas passieren, so sagt mein Bruder, ist ihm das Leben eines DDR-NVA-Soldaten so viel wert, wie ich einen Monat unschuldig eingesperrt werde und wie Sie wissen dürften, macht der keinen Spaß!«
Am 17. August 1976 erfolgte daraufhin beim Rat der Stadt [Name der Stadt], Abteilung Innere Angelegenheiten, eine Aussprache mit dem Ehepaar [Halbbruder und Ehefrau]. Hier brachten die [Name des Ehepaars] zum Ausdruck, dass sie ihre persönliche Meinung in dem Antrag an das Ministerium des Innern geschrieben hätten.
Am 20. August 1976 stellte die Familie [Name] erneut einen Antrag auf Aberkennung der Staatsbürgerschaft der DDR und Übersiedlung nach der BRD. In diesem, an den Rat der Stadt [Name der Stadt], Abteilung Innere Angelegenheiten gerichteten Antrag wird erneut betont, dass beide Antikommunisten sind und dass sich ihre passive Opposition gegen die DDR auch in der Verletzung der Gesetze der DDR ausgedrückt hat.
Bei der Familie [Name] handelt es sich um Personen, die eine feindlich-negative Grundeinstellung zur sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung haben und unabänderlich das Ziel verfolgen, nach der BRD zu gelangen.
[Der Halbbruder], als Kind einer Arbeiterfamilie geboren, besuchte von 1957 bis 1967 die Polytechnische Oberschule in [Stadt] und erreichte aufgrund von Faulheit und Desinteresse nur das Ziel der Klasse 8. [Der Halbbruder] brach seine Lehrzeit vorzeitig ab, war in der Folgezeit in verschiedenen Betrieben des Kreises [Stadt] als ungelernter Arbeiter tätig und hat zu einem späteren Zeitpunkt die Prüfung als staatlich geprüfter Kesselwärter abgelegt. In seiner beruflichen Tätigkeit zeigte er nur durchschnittliche Arbeitsleistungen und bedurfte einer ständigen Anleitung und Kontrolle. In den Jahren 1969 bis 1971 wurde [der Halbbruder] in zwei Fällen wegen vorsätzlicher Körperverletzung und in einem Fall wegen Vorbereitung zum ungesetzlichen Grenzübertritt strafrechtlich zur Verantwortung gezogen.
Wegen Diebstahl zum Nachteil sozialistischen und persönlichen Eigentums wurde [der Halbbruder] im Jahr 1972 erneut inhaftiert. Seine jetzige Ehefrau wurde in einen Jugendwerkhof eingewiesen und außerdem zu Schadenersatz verurteilt.
Die [Ehefrau des Halbbruders] hat ebenfalls die Polytechnische Oberschule in [Stadt] besucht und begann nach achtjähriger Schulzeit die Lehre als Facharbeiter für Textiltechnik im VEB [Name und Ort des Betriebes]. Aufgrund mangelhafter Leistungen konnte sie jedoch ihre Lehre nicht abschließen, da ihr Lehrvertrag gekündigt werden musste. In der Folgezeit war sie in verschiedenen Betrieben als ungelernte Arbeiterin tätig. In allen Betrieben zeigte die [Ehefrau des Halbbruders] nur durchschnittliche Leistungen. Sie bedurfte einer ständigen Kontrolle. Ebenfalls traten des Öfteren Verstöße hinsichtlich Disziplin und Pünktlichkeit auf.
An der gesellschaftlichen Arbeit nahm die Familie [des Halbbruders] keinen Anteil, sie verherrlichen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der BRD. Im Jahr 1974 nahmen beide nicht an der Wahl teil.
Es wird vorgeschlagen, dass im Interesse der Einleitung erforderlicher Maßnahmen die Ständige Vertretung der DDR in der BRD durch das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten entsprechend informiert wird. Maßnahmen zur Genehmigung des Übersiedlungsantrages der Familie [des Halbbruders], verbunden mit der entschiedenen Zurückweisung der Versuche, Druck auf staatliche Organe der DDR auszuüben, sind eingeleitet.