Explosion im Sprengstoffwerk Schönebeck
16. März 1976
Information Nr. 158/76 über die Untersuchungsergebnisse im Zusammenhang mit der Explosion im VEB Sprengstoffwerk Schönebeck, [Bezirk] Magdeburg am 4. Februar 1976
Am 4. Februar 1976, gegen 14.38 Uhr ereignete sich im VEB Sprengstoffwerk Schönebeck, Bezirk Magdeburg, Produktionsbereich I – Nitroaromatenanlage – eine Explosion mit Brandfolge. Durch die Explosion wurden die Nitroaromatenanlage und die entsprechende Produktionshalle vollständig zerstört. (Die Nitroaromatenanlage wurde 1971 von der Firma Meißner/Köln/BRD mit einem Aufwand von 4,5 Mio. VM importiert.) Der Sachschaden beträgt 9,2 Mio. Mark.
Infolge der Explosion erlitten die Betriebsangehörigen [Anlagenfahrer 1], geboren: [Tag] 1946, wohnhaft: Schönebeck, [Adresse]; beschäftigt gewesen als Anlagenfahrer und [Schlosser], geboren: [Tag] 1920, wohnhaft: Schönebeck, [Adresse]; beschäftigt gewesen als Schlosser, tödliche Verletzungen. Die beiden zu diesem Zeitpunkt in der Produktionshalle Anwesenden, Schichtleiter [Schichtleiter 1] und der Anlagenfahrer [Anlagenfahrer 2], erlitten mittlere bis schwere Verletzungen und wurden zur stationären Behandlung in das Krankenhaus Schönebeck eingeliefert. Es besteht für beide Personen keine Lebensgefahr.
Im Gebäude der Nitroaromatenanlage wurden seit 1971 im Wesentlichen ohne größere Störungen Mononitrotoluol (MNT), Dinitrotoluol (DNT) und Nitrobenzol (NB) hergestellt. Die Nitrieranlage besteht aus den Fertigungsstraßen NB und der Fertigungsstraße MNT und DNT. Voraussetzung für die DNT-Herstellung ist die Verfügbarkeit von MNT und Nitriersäure, wobei im Produktionsprozess das MNT nach Durchlaufen der ersten Stufe in die zweite Stufe gelangt und dort zu DNT nitriert wird.
Durch die Zerstörung der Nitroaromatenanlage fällt vorerst die Produktion von Mononitrotoluol (Vorstufe für DNT), Dinitrotoluol (DNT – Zwischenprodukt für Trinitrotoluol, einem handhabungssicheren, stoßunempfindlichen Explosivstoff, nur durch Initialzündung zur Explosion zu bringen) und Nitrobenzol (Zwischenprodukt für die Herstellung von Anilin, Farbstoffen und Arzneimitteln sowie Benzidin – Farbstoff und Reagenz) aus. (Die genannten Produkte werden in erster Linie vom VEB Synthesewerk Schwarzheide als Komponente für die Herstellung von Polyurethansystemen benötigt bzw. im Sprengstoffwerk Schönebeck selbst für die Sprengstoffherstellung eingesetzt.)
Nach dem MfS vorliegenden Informationen wurden zwischenzeitlich durch den VE Außenhandelsbetrieb Chemie Maßnahmen eingeleitet, um durch entsprechende Importe von Nitrobenzol und Dinitrotoluol aus dem sozialistischen Wirtschaftsgebiet die weitere Produktion zu sichern. Gleichzeitig begannen das Ministerium für chemische Industrie und die VVB Agrochemie und Zwischenprodukte Verhandlungen mit der Firma Meißner/Köln sowie einer schwedischen und japanischen Firma über die Lieferung einer neuen Nitroaromatenanlage.
Die vom MfS gemeinsam mit Fachexperten geführten Untersuchungen zur Aufklärung der Ursachen und begünstigenden Bedingungen dieser Explosion ergaben Folgendes:
Die Ursachen der Explosion sind nach dem gegenwärtigen Stand der Untersuchung noch nicht zweifelsfrei feststellbar.
Die Explosion in der Nitroaromatenanlage entstand nach Einschätzung der Experten als eine Folge des Zusammentreffens mehrerer Faktoren.
Bei der Explosion handelt es sich um eine spontane exotherme Zersetzung von Reaktionszwischen- und -endprodukten im Dinitrotoluol-Hauptnitrierer. (Der Hauptnitrierer ist ein Reaktor, in dem der Nitriervorgang abläuft, d. h. die Behandlung organischer Substanzen mit Salpetersäure erfolgt. Dieses Verfahren stellt eine der wichtigsten Operationen der organischen Chemie dar und dient der Herstellung von Explosivstoffen.)
Die thermische Zersetzung ging in Form einer spontanen exothermen Reaktion so schnell vonstatten, dass sie wärmetechnisch nicht mehr beherrscht werden konnte. Sie verlief vorwiegend im oberen Drittel des Hauptnitrierers, wobei die beim Zerknall des Hauptnitrierers freiwerdenden Gase zu einer Raumgasexplosion führten.
Die zur Explosion führenden Faktoren und begünstigenden Bedingungen werden von den Experten wie folgt eingeschätzt:
- 1.
Durch eine Funktionsminderung bzw. Funktionsuntüchtigkeit der Umwälzpumpe bestand eine Beeinträchtigung der Umwälzung der Produkte innerhalb des Hauptnitrierers. Die Funktionsminderung bzw. -untüchtigkeit der Umwälzpumpe kann eintreten durch
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mechanische Störungen bzw. Beschädigungen,
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Lufteintritt in das Pumpengehäuse infolge undichter Stopfbuchse,
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Bildung einer organischen Gasphase im Pumpengehäuse als Folge der Verringerung des statischen Druckes auf der Saugseite der Umwälzpumpe,
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erhöhten Anteil eines Toluol-MNT-Gemisches mit Schwefelsäure, wodurch sich ein starkes nitroses Gas im Pumpengehäuse bildet und ebenfalls den statischen Druck auf der Saugseite der Umwälzpumpe beeinträchtigt.
(Aufgrund der totalen Zerstörung des Hauptnitrierers ist ein objektiver Nachweis nicht mehr möglich.) Beim Ausfall dieser Umwälzpumpe entsteht ein Temperaturanstieg im oberen Teil des Hauptnitrierers, und es kommt zu einer spontanen exothermen Reaktion und einem Zerknall der Apparatur.
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- 2.
Bei der Untersuchung von Rückständen im Hauptnitrierer wurde ein Anteil von 21 Prozent Toluol vorgefunden. Laut Betriebsvorschrift darf der Anteil aber nur 0,1 Prozent betragen. Die Überdosierung von Toluol im Hauptnitrierer, begünstigt durch Funktionsuntüchtigkeit der Umwälzpumpe, führt zu der schon genannten spontanen exothermen Reaktion. Die Überdosierung entsteht als Folge nicht ausreichender Ausnitrierung nach Beendigung der Mononitrotoluolproduktion, der Funktionsuntüchtigkeit bzw. des Fehlens von Ringkolbenzählern in den Dosierleitungen für 98-prozentige Schwefelsäure.
- 3.
Mängel an der Dosierpumpe für Schwefelsäure (Ringkolbenzähler), die durch Verklemmen eines Druckhalteventils für Schwefelsäure am Hauptnitrierer entstanden bzw. verunreinigte Schwefelsäuren auftraten, wodurch es zur Verstopfung an der Druckseite der Dosierpumpe (Druckhalteventil) kam.
Bei den Untersuchungen wurde eine Reihe von Mängeln und Missständen in der Nitroaromatenanlage festgestellt, welche als begünstigende Bedingungen zur Auslösung der Explosion zu betrachten sind.
Am 2. Februar 1976, gegen 2.00 Uhr wurde die DNT-Anlage aus produktionsbedingten Gründen abgestellt. Bis zum 4. Februar 1976 erfolgten Reparaturen an einem Salpetersäure-Druckhalteventil u. a. Anlagenteilen. Am gleichen Tage sind mit Beginn der Frühschicht durch den Schichtleiter [Schichtleiter 2] Vorbereitungsarbeiten zum Anfahren der DNT-Anlage getroffen worden, u. a. wurde ab 10.30 Uhr mit dem Aufheizen begonnen. In der Zeit zwischen 13.05 Uhr und 13.20 Uhr wurde dem Schichtleiter [Schichtleiter 2] die DNT-Anlage ordnungsgemäß übergeben, der weitere Maßnahmen für den Anfahrprozess durchführte. Die DNT-Anlage wurde jedoch nicht nach den im Betriebshandbuch der Firma Meißner enthaltenen Vorschriften gefahren. (Das betrifft nicht nur die Anfahrphase am 4.2.1976.) Die im Betriebshandbuch enthaltenen Vorschriften waren noch nicht von der Kombinatsleitung als verbindliche Arbeitsanweisung bestätigt worden. Das Betriebshandbuch befand sich nicht im Produktionsgebäude der Nitroaromatenanlage und konnte bisher vom Anlagenpersonal nicht eingesehen werden. Die für die Produktion von DNT und Nitrobenzol ausgearbeiteten technologischen Unterlagen befanden sich ebenfalls nicht in der Anlage.
Die leitenden Kader der Nitroaromatenanlage hatten ihre Wiederholungsprüfung für den Befähigungsnachweis des Arbeitsschutzes teilweise nicht abgelegt. Erfolgte Belehrungen des Anlagenpersonals durch die verantwortlichen Leiter über geltende Bestimmungen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes und die bestehenden betrieblichen Arbeitsschutzinstruktionen konnten von den Leitern nicht nachgewiesen werden.
Funktionspläne der verantwortlichen Meister, Schichtingenieure und Bereichsleiter entsprechen nicht den Erfordernissen und sind unvollständig.
Eintragungen in Schichtbüchern über aufgetretene Störungen und die notwendigen Veränderungen in der DNT-Anlage sowie Hinweise über mit der Sicherheit der DNT-Anlage besonders zu beachtende Probleme werden von den verantwortlichen Kadern nicht mit der notwendigen Konsequenz ausgewertet.
Die Erfassung und Auswertung von Störungen im Bereich Nitroaromatenanlage wurde von der Kombinatsleitung vernachlässigt. Es gibt keine Übersicht über das Störgeschehen. Der Kombinatsdirektor, Genosse Labs, versuchte im Zusammenhang mit den Untersuchungen von vorgenannten Mängeln in der Leitungstätigkeit abzulenken und die Havarie als »menschliches Versagen« darzustellen.
Wie weiter festgestellt wurde, entstanden durch das Fehlen von Ringkolbenzählern Schwierigkeiten in der Fahrweise der DNT-Anlage, sodass zur Dosierung der Schwefelsäure eine Handsteuerung erforderlich wurde. Der Verschleiß der Ringkolbenzähler vollzog sich wesentlich schneller als ihre Beschaffung möglich war. Aus diesem Grund wurde im Jahr 1973 eine befristete Ausnahmegenehmigung zum Fahren der DNT-Anlage, d. h. ohne die erforderlichen Ringkolbenzähler, erteilt. Am 4. Februar 1976 lief die Anlage sowohl ohne Ringkolbenzähler als auch ohne Ausnahmegenehmigung, die zwischenzeitlich zurückgezogen worden war.
Die Schutzgütekommission des Werkes leistete nach der Generalreparatur der Nitroaromatenanlage (1975) eine mangelhafte Arbeit, indem sie in einigen Fällen die Schutzgüte bestätigte, obwohl diese noch nicht voll hergestellt war.
Die verantwortlichen Leiter der Nitroaromatenanlage unterbanden nicht den während der Arbeitszeit bei Anlagenfahrern mehrfach festgestellten Alkoholmissbrauch. Die Anlagenfahrer und die anderen in der Anlage tätigen Personen verließen die DNT-Anlage während der Arbeitszeit und hielten sich außerhalb der festgelegten Pausen für längere Zeit im Speiseraum auf.
Die fachliche Qualifikation einzelner Anlagenfahrer der Nitroaromatenanlage entspricht nicht den Anforderungen. So wurden z. B. beim Versagen von Druckhalteventilen keine fachgerechten Arbeiten verrichtet und versucht, Verstopfungen von Ventilen durch das Gegenschlagen mit einem Gummihammer zu beseitigen. Eine andere Methode zur Beseitigung der durch verunreinigte Schwefelsäure hervorgerufenen Verstopfung des Druckventiles bestand darin, dass ein Ventil in der Druckleitung geschlossen wurde, um einen Druck in der Leitung aufzubauen. Durch schnelles Öffnen der Ventile sollten die Druckhalteventile freigespült werden.
Die Druckeinstellschrauben und Federn für die Druckhalteventile waren teilweise nicht mehr vorhanden, und die Gewinde der Druckeinstellschrauben passten nicht mehr.
Die Steuerluftversorgung der Nitroaromatenanlage ist in ihrer Qualität und Quantität völlig unzureichend. Die ständig schwankenden Druckverhältnisse und vorhandenen Verschmutzungen beeinträchtigen bereits seit längerer Zeit die Funktionssicherheit der BMSR-Geräte und führten zur völligen Instabilität der Regelkreise. Nach den bisher vorliegenden Untersuchungsergebnissen gibt es keine Anzeichen für eine feindliche oder vorsätzliche Handlung von Personen.
Der in der Vergangenheit aufgetretene Brand (1972) und eine Verpuffung (1974) in der Nitroaromatenanlage stehen in keinem Zusammenhang mit der Explosion am 4. Februar 1976.
Im Rahmen der Untersuchungen wurde weiter bekannt, dass im VEB Sprengstoffwerk Schönebeck Hinweise auf eine analoge Explosion in einer Nitroaromatenanlage in Frankreich vorliegen. Diese Hinweise sind in der in Mannheim/BRD erscheinenden Zeitschrift »Chemie – Ingenieur – Technik« Heft 45/1974 (November), Abschnitt »Chemische Sicherheitstechnik« veröffentlicht worden. (Der VEB Sprengstoffwerk Schönebeck erhält diese Zeitschrift monatlich aus der BRD übersandt.) Wie aus diesen Hinweisen hervorgeht, sind die Temperaturen beim Anfahren der Nitroaromatenanlage automatisch zu überwachen. Bei fehlender automatischer Überwachung, so wird betont, kann eine spontane exotherme Reaktion nicht rechtzeitig bemerkt und die Anlage demzufolge nicht abgefahren werden.
Erst im Jahr 1975 wurde dieser Hinweis von zwei Mitarbeitern des Sprengstoffwerkes Schönebeck ausgewertet. Sie unterrichteten die Leitung des Betriebes über ihre Feststellungen und unterbreiteten entsprechende Vorschläge für den Einbau einer automatischen Steuerung in der Nitroaromatenanlage. Bis zum Zeitpunkt der Explosion war der Einbau einer automatischen Steuerung nicht erfolgt.
Das MfS setzt in Verbindung mit Fachexperten die Untersuchungen zur allseitigen Aufklärung der weiteren Ursachen und begünstigenden Bedingungen sowie der Schuldfrage fort.