Flucht zweier Grenzsoldaten im Grenzabschnitt Hoyersburg
28. Dezember 1976
Information Nr. 909/76 über die bisherigen Ergebnisse der Untersuchung der Fahnenflucht von zwei Angehörigen der Grenztruppen der DDR nach der BRD am 27. Dezember 1976
Am 27. Dezember 1976 in der Zeit zwischen 0.00 Uhr und 2.00 Uhr wurden im Sicherungsabschnitt Hoyersburg, Grenzregiment Salzwedel, Grenzkommando Nord, die Angehörigen der Grenztruppen der DDR, Gefreiter Zwiener, Manfred, geboren am [Tag] 1956, wohnhaft: 102 Berlin-Mitte, [Adresse], Beruf: Trabrennfahrer im VEB Rennstall Prieros, Betriebsteil Karlshorst, Grenztruppen seit Herbst 1975, Grundwehrdienst, Postenführer in der 5. Grenzkompanie Hoyersburg und Soldat [Name], geboren am [Tag] 1957, wohnhaft: [Adresse], Beruf: Heizungsinstallateur im VEB [Betrieb], Grenztruppen seit Mai 1976, Grundwehrdienst, Posten in der 5. Grenzkompanie Hoyersburg, während der Ausübung des Grenzdienstes unter Mitnahme ihrer Waffen (MPi) und Munition (je 60 Schuss) nach der BRD fahnenflüchtig.
(Rundfunk und Fernsehen der BRD und Westberlins berichteten am 27.12.1976 in kurzen Meldungen über diese Fahnenflucht; in der Westpresse erfolgten entsprechende Veröffentlichungen am 28.12.1976.)1
Die bisher durch das Ministerium für Staatssicherheit im Zusammenwirken mit den Grenztruppen der DDR und dem zuständigen Militärstaatsanwalt geführten Untersuchungen ergaben:
Gefreiter Zwiener und Soldat [Name] waren befehlsgemäß vom 26. Dezember 1976, 17.00 Uhr, bis 27. Dezember 1976, 2.00 Uhr, im Sicherungsabschnitt Hoyersburg zur Grenzsicherung eingesetzt. Am 26. Dezember 1976 um 24.00 Uhr meldete sich der Postenführer Gefreiter Zwiener letztmalig über das Grenzmeldenetz bei seinem Führungspunkt und gab durch, dass es in seinem Sicherungsabschnitt keine besonderen Vorkommnisse gäbe.
Vom Führungspunkt aus wurden bis zu der für 2.00 Uhr vorgesehenen Ablösung keine weiteren Meldefristen für das Postenpaar festgelegt.
Im Zusammenhang mit der Ablösung dieses Postenpaares wurde gegen 1.30 Uhr durch den Kontrollposten festgestellt, dass sich das Postenpaar Zwiener/ [Name des Soldaten] nicht mehr im befohlenen Sicherungsabschnitt befindet. Die sofort eingeleiteten Such- und Überprüfungsmaßnahmen führten um 3.30 Uhr zum Auffinden der Schuhspuren des Postenpaares, die vom Einsatzort in Richtung Staatsgrenze zur BRD verliefen. Dabei wurde weiter festgestellt, dass Zwiener und [der Soldat] in Höhe der Grenzsäule 377 den Kontrollstreifen überschritten und mit einem noch nicht identifizierten Tatwerkzeug die zwei Schlösser des Gassentores der dort befindlichen Minensperre geöffnet hatten. Nach dem Überwinden der unverminten Gasse bewegten sie sich noch ca. 500 m auf dem den Grenzsicherungsanlagen vorgelagerten Territorium der DDR parallel zur Staatsgrenze, die sie in Höhe der Grenzsäule 379 in Richtung Dangenstorf/BRD überschritten.
Begünstigend auf die Gruppenfahnenflucht wirkte u. a., dass sich die Schlösser des Gassentores der Minensperre bereits mit einfachsten Hilfsmitteln ohne Schwierigkeiten öffnen lassen und dieser Umstand in der Grenzkompanie allgemein bekannt war. Eine am Gassentor vorhandene Hundetrasse ist weitgehend unwirksam. Die Tiere zeigen gegenüber Grenzsoldaten in Uniform kaum Reaktionen, was gleichfalls allgemein bekannt ist.
Die Fahnenflüchtigen Zwiener und [Name des Soldaten] erfüllten die ihnen übertragenen Aufgaben in der Grenzkompanie entsprechend den Forderungen. Es lagen keine Hinweise auf Unzuverlässigkeit vor. Zu Soldat [Name] war bekannt, dass er charakterlich leicht beeinflussbar war und bei der Erfüllung seiner dienstlichen Aufgaben einer straffen Führung bedurfte.
Die bisherigen Untersuchungen des MfS zum Persönlichkeitsbild der Fahnenflüchtigen ergaben:
[Angaben zu den familiären Verhältnissen Zwieners]
Nach erfolgreichem Abschluss der 10. Klasse erlernte Zwiener den Beruf eines Trabrennfahrers, den er bis zur Einberufung zu den Grenztruppen der DDR ausübte.
Zwiener war politisch nicht organisiert, wurde jedoch als politisch zuverlässig eingeschätzt. Seine Arbeitshaltung und Einstellung zum Kollektiv wurden als vorbildlich beurteilt. Zwiener wurde als hoffnungsvolles Talent im Trabrennsport eingeschätzt.
Im Ergebnis der bisherigen Untersuchungen wurde festgestellt, dass Zwiener durch den mehrmaligen Champion der DDR, Bandermann, ausgebildet und trainiert wurde. Für Zwiener war Bandermann das große »Idol«. Auch während seines Wehrdienstes unterhielt Zwiener Verbindungen zu Bandermann.
Während seines letzten Urlaubes Anfang Dezember 1976 habe Zwiener nach Äußerungen gegenüber einem Zeugen den Bandermann aufgesucht und von ihm erfahren, dass er wegen [Nennung der Gründe] aus der SED ausgeschlossen und ihm seine Lizenz als Trabrennfahrer entzogen worden wäre. Bandermann habe deshalb den Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und Übersiedlung nach der BRD gestellt.
Die hierzu geführten Überprüfungen ergaben, dass Bandermann Anfang September 1976 seinen Austritt aus der SED erklärte. Durch die SED-Kreisleitung Zentrale Organe des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft wurde diesem Ersuchen stattgegeben und am 20. September 1976 der Austritt aus der Partei bestätigt. Bandermann wurde am 21. September 1976 von diesem Beschluss in Kenntnis gesetzt.
Am 1. November 1976 hat Bandermann für sich, seine Ehefrau und seine zwei Töchter Antrag auf Übersiedlung nach der BRD gestellt. Diesen Antrag begründete er – ebenso wie die Erklärung seines Austrittes aus der SED – damit, dass der Trabrennsport der DDR isoliert sei, er selbst trotz Einladungen keine Ausreise zur Teilnahme an Rennen im nichtsozialistischen Ausland erhalte und somit für sich in der DDR keine Perspektive sehe. Im Ergebnis der Bearbeitung dieses Antrages durch die zuständigen staatlichen Organe wurde am 22. November 1976 mit Bandermann und seiner Ehefrau eine Aussprache geführt, wo ihnen die Ablehnung des Antrages auf Übersiedlung mitgeteilt wurde.
[Angaben zu Zwiener] Gleichen Zeugenaussagen zufolge soll Zwiener während seines Urlaubes auf der Trabrennbahn Berlin-Karlshorst Kontakt zu einem BRD-Bürger erhalten haben, der ihm in der BRD günstige Entwicklungsmöglichkeiten im Trabrennsport offeriert haben soll.
In diesem Zusammenhang hat sich Zwiener dem Zeugen gegenüber geäußert, dass er aufgrund der »Maßregelung« des Bandermann seine berufliche Laufbahn im Trabrennsport der DDR gefährdet sehe. (Die Zeugen haben nach ihren eigenen Angaben diesen Erklärungen des Zwiener nicht die erforderliche Bedeutsamkeit beigemessen und es deshalb auch unterlassen, darüber Meldung zu erstatten bzw. andere Personen zu informieren. Sie hegten keine Zweifel an der politischen Zuverlässigkeit des Zwiener.)
Soldat [Name] entstammt einer Arbeiterfamilie. [Angaben zu seinen beruflichen und familiären Verhältnissen]. Ebenso wie seine Eltern hatte [der Soldat] einen guten Leumund. Er wurde als bescheiden und zurückhaltend eingeschätzt. In politischer Hinsicht trat er nicht negativ in Erscheinung. Er hatte zu politischen und persönlichen Problemen keinen gefestigten Standpunkt und ließ sich leicht beeinflussen. Charakteristisch für ihn war, dass er sich kommentarlos der Meinung anderer anschloss. [Angaben zum Privatleben des Soldaten]
Die Untersuchungen der zuständigen Organe des MfS zur umfassenden Aufklärung der Ursachen, Motive und begünstigenden Bedingungen dieser Gruppenfahnenflucht – besonders auch zu den sichtbar gewordenen Mängeln in der Wirksamkeit der Grenzsicherungsanlagen – werden fortgeführt.