Flugblattaktion bei der Deutschen Reichsbahn, Westberlin
16. Februar 1976
Information Nr. 119/76 über die Ergebnisse der Aufklärung einer Flugblattaktion auf dem Gelände der Deutschen Reichsbahn in Westberlin
Am 19. und 21. Januar 1976 haben jugendliche Westberliner Bürger an Angehörige der Deutschen Reichsbahn in Westberlin Flugblätter verteilt und am 4. und 5. Februar 1976 Klebezettel in Einrichtungen der Deutschen Reichsbahn angebracht. Durch die Flugblatt- und Klebeaktion sollten offensichtlich die lohnpolitischen Maßnahmen für Angehörige der Deutschen Reichsbahn in Westberlin vom Oktober 1975 abgewertet und als wenig wirksam dargestellt werden.
Wie aus dem Inhalt der Flugblätter bzw. Klebezettel hervorgeht, werden die Reichsbahnangehörigen aufgefordert, gegenüber der Betriebsleitung der Deutschen Reichsbahn sowie den Partei- und Gewerkschaftsleitungen eine
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Lohnerhöhung in Höhe von 100 DM ab März 1976,
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jährliche Kündigung der Tarife und die
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Offenlegung der Tarifverhandlungen
zu verlangen.
Nach den Feststellungen des MfS waren etwa 300 bis 400 Flugblätter zur Verteilung vorgesehen. Durch das sofortige Einleiten geeigneter Maßnahmen wurde jedoch erreicht, dass nur wenige Flugblätter in die Hände von Reichsbahnangehörigen gelangten. So haben z. B. Angehörige des RAW Tempelhof am 19. Januar 1976 den Verteilern – vier Jugendlichen – insgesamt rund 200 Flugblätter abgenommen und sichergestellt. An den weiteren Schwerpunkten der Flugblattaktion (S-Bahnhöfe Zoologischer Garten, Tiergarten, Bellevue, Gesundbrunnen, Charlottenburg, Eichkamp, Lehrter Bahnhof und der Poliklinik West)1 stellten Reichsbahnangehörige weitere rund 100 Flugblätter sicher.
Am 4. und 5. Februar 1976 wurde diese Aktion mit dem Anbringen von Klebezetteln (Größe A3) mit inhaltlich gleichen Forderungen in der Nähe des RAW Tempelhof sowie den S-Bahnhöfen Papestraße und Lehrter Bahnhof fortgesetzt.
Über die Organisatoren dieser Aktionen liegen gegenwärtig noch keine ausreichenden Hinweise vor, obwohl die von einem der Verteiler mitgeführten Exemplare »Die revolutionäre Stimme« – Zeitung der Kommunistischen Partei Deutschlands/ Marxisten/Leninisten – (einer anarchistischen Gruppierung)2 auf den politischen Charakter der Organisatoren hindeuten.
Nach bisher vorliegenden Hinweisen haben die genannten Aktionen unter dem überwiegenden Teil der Reichsbahnangehörigen in Westberlin keine grundsätzlichen Lohndiskussionen ausgelöst. Ungeachtet dessen verfolgen jedoch Westberliner Angehörige der Deutschen Reichsbahn aufmerksam die Tarifverhandlungen der Gewerkschaften ÖTV bzw. Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED) zum Tarifabkommen für das Jahr 1976 und ähnliche tarifliche Regelungen in Abhängigkeit von den Ergebnissen dieser Tarifverhandlungen. Zumindest werden auch für die Angehörigen der Deutschen Reichsbahn in Westberlin daraus resultierende Maßnahmen erwartet.
Im Rahmen der geführten Untersuchungen wurde weiter bekannt, dass verschiedentlich Angehörige der Deutschen Reichsbahn in kleinerem Kreis in sachlicher Form über die gegenwärtige Lohnsituation sprechen. Von ihnen werden die seit Oktober 1975 in Westberlin wirksam gewordenen Preissteigerungen (Mieten, Tarife für Strom und Gas, Preise für Kohlen und Lebensmittel) als Gründe für die nach ihrer Auffassung bereits eingetretene Verschlechterung des allgemeinen Lebensstandards genannt. Trotzdem wird von dem genannten Personenkreis der nach wie vor vorhandene »hohe Lebensstandard« anerkannt, der zum Teil über dem Lebensniveau des vergleichbaren Personenkreises in der DDR liegen würde.
Wie aus Kreisen leitender Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn in Westberlin bekannt wurde, wird gegenwärtig nicht mit einer stärkeren Lohndiskussion und damit im Zusammenhang stehenden Aktivitäten durch Angehörige der Deutschen Reichsbahn in Westberlin gerechnet, da Letztere zum großen Teil um ihren Arbeitsplatz bangen und nicht als »Meckerer« angesehen werden wollen. Diese Lage wird offensichtlich durch die in Westberlin bestehende konjunkturelle Lage, die u. a. auch durch eine relativ hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist, begünstigt.
Das MfS setzt die Untersuchungen zur Aufklärung des Täterkreises sowie der Organisatoren fort.