Geplante Modernisierung des VEB Chemisches Kombinat Bitterfeld
13. Oktober 1976
Information Nr. 706/76 über im Zusammenhang mit der geplanten Stabilisierung und Modernisierung der Grundfonds im VEB Chemisches Kombinat Bitterfeld (CKB) zusätzlich zu beachtende Probleme
Im Zusammenhang mit der geplanten Stabilisierung und Modernisierung der Grundfonds1 im VEB Chemisches Kombinat Bitterfeld macht das MfS auf der Grundlage interner Informationen und entsprechender Gutachten von Fachexperten zusätzlich auf einige ausgewählte Einzelprobleme aufmerksam:2
Die geplanten Stabilisierungsmaßnahmen, so z. B. für das Vorhaben Chlor-Nord-Bitterfeld, werden für unbedingt erforderlich gehalten. Diese Anlagen sind physisch und moralisch total verschlissen.3 Die Zellen und anderen Aggregate sind unterschiedlicher Bauart und in den Jahren 1917 bis 1930 installiert worden, sodass Ersatzteile häufig nicht mehr zu beschaffen sind (Chlor-Nord sollte bereits 1971 stillgelegt werden.)
Weitere Stabilisierungsmaßnahmen über das Jahr 1980 hinaus seien nicht mehr möglich, weil die dadurch ausfallende Produktion bis 1982/83 nicht durch die des Vorhabens Chlor 4 des VEB Chemisches Kombinat Bitterfeld ersetzt werden könne, da die dort ab Ende 1979 anfallenden Mengen bereits verfügt sind. Die Stabilisierungsmaßnahmen bis 1980 in Bitterfeld und die Intensivrationalisierung und Neuinvestitionen von 1980 bis 1990 müssen entsprechend ineinander übergehen.
Aus objektiv bestehenden Zusammenhängen zwischen der Produktion von Chlor und Natronlauge könne nach intern vorliegenden Hinweisen geschlussfolgert werden, dass, nachdem sowohl die Quecksilberverfahren als auch die mit Diaphragma ausgerüsteten Chlorelektrolysen mit dimensionsstabilen Elektroden gebaut werden, der Anteil der Quecksilberverfahren weiter zurückgehe. (Die USA haben lediglich aufgrund der hohen Kosten der Umstellung der Anlagen auf Diaphragmen eine beabsichtigte Einschränkung der Quecksilberverfahren, trotz der Gefahren für die Umwelt, hinausgezögert.)
Das Quecksilber sei bei Verschärfung der politischen Situation (im Ernstfall) für Staaten des RGW schwer zu beschaffen.
Nur die Natriumchloridelektrolyse mit Diaphragmen ergibt Natronlauge, die frei von Spuren von Quecksilber ist, sich also für Zwecke der Lebensmittelindustrie, der Pharmazie, der Landwirtschaft usw. eignet. Andererseits sei die verdünnte Lauge für Exportzwecke dann nicht geeignet.
Die DDR habe trotz dieser Situation bei Hoechst/Uhde ein Quecksilberverfahren kaufen müssen, da seitens dieser Firma kein anderes Verfahren angeboten wurde.Von dieser Situation ausgehend haben die Staatliche Plankommission und das Ministerium für Chemische Industrie eine entsprechende Bilanz (Stand vom Juni 1976) erarbeitet.
Die Rohstoffsituation für die Herstellung von Schwefelsäure wird von Fachexperten dahingehend eingeschätzt, dass die Vorräte an Schwefel und schwefelhaltigen Verbindungen in der Welt sehr groß seien und die erforderliche Erweiterung der Schwefelsäureproduktion entsprechend dem Bedarf der Weltwirtschaft möglich wäre.
Internen Hinweisen zufolge halten verschiedene kapitalistische Schwefelsäurehersteller ihre Vorräte zurück, um spekulative Preisgewinne auf dem Weltmarkt zu erzielen. So betrugen u. a. die Preisschwankungen 20 bis 80 Dollar pro Tonne Schwefel für Mitteleuropa in den vergangenen zehn Jahren.
Die DDR wäre von diesen Vorgängen unabhängig, wenn die Schwefelsäureherstellung auf der Basis der inländischen Rohstoffvorräte – Anhydrit und Gips – weiter ausgebaut werden könnte. Die Fachexperten weisen jedoch darauf hin, dass die Erweiterung der Schwefelsäureherstellung in der DDR zu investitionsintensiv sei und die Beseitigung der Rohstoffimportabhängigkeit der DDR durch erweiterte Eigenherstellung erst dann betrieben werden sollte, wenn die Importpreise für Schwefel durch den Hauptlieferanten der DDR, die VR Polen, das rechtfertigen würden. Die Beseitigung der Importabhängigkeit mittels der Errichtung entsprechender Gewinnungsanlagen in der DDR erfordere jedoch einen längeren Realisierungszeitraum, der möglicherweise über Jahrzehnte reiche. Hinzu käme, dass die DDR für diesen langen Zeitraum trotzdem importabhängig bliebe.
Der in einer Studie der VVB Agrochemie und Zwischenprodukte enthaltene Vorschlag zur Stilllegung der Gipsschwefelsäureanlage in Coswig ist nach dem bisherigen Stand der Planung im Ministerium für Chemische Industrie noch nicht vorgesehen.
Nach Auffassung der Fachexperten sollte der Ablösung der Gipsschwefelsäureherstellung in Coswig nicht zugestimmt werden. Der Ablösung der Gipsschwefelsäureherstellung in Wolfen wäre jedoch aus technisch-ökonomischen Gründen zuzustimmen. Die Anlage in Coswig müsse als Verarbeitungsanlage einheimischer Rohstoffe und als Prototyp der Störfreimachung auf alle Fälle erhalten bleiben.
Die Preissituation für Quecksilber und Schwefel müsse in diesem Zusammenhang unbedingt genau verfolgt werden, da diese jeweils mit zur Entscheidung über das einzusetzende Verfahren bestimme.
Im Vertrag mit der Firma Uhde/BRD ist kein Festpreis für den Bezug von Quecksilber vereinbart. Es erfolgt von Fall zu Fall eine Orientierung an den jeweiligen Weltmarktpreisen des nichtsozialistischen Wirtschaftsgebietes.
Zur Möglichkeit der Auslagerung der Kalkammonsalpeterherstellung aus dem CKB und deren Verlagerung in den Norden der DDR nach 1990 weisen Fachexperten darauf hin, dass sich dadurch bereits bestehende Disproportionen bei hochkonzentrierter Salpetersäure eventuell vergrößern könnten. Außerdem könnten sich zusätzliche Gefahren für den Transport ergeben, was u. a. bereits in einigen Industriestaaten zu Überlegungen geführt habe, den Transport konzentrierter Salpetersäure durch die Eisenbahn bzw. durch den Straßenverkehr zu verbieten. Zur Verarbeitung der konzentrierten Salpetersäure wären aber wiederum zusätzliche Investitionen erforderlich.
Übereinstimmenden Meinungen von Fachleuten zufolge stellt die komplizierte Situation in den verschiedenen Produktionsbereichen des VEB Chemisches Kombinat Bitterfeld höhere Anforderungen an die Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung, als das gegenwärtig der Fall ist.
So stellten diese z. B. fest, dass der im Ergebnis der folgenschweren Explosionskatastrophe im CKB am 6. November 1968 gefasste Ministerratsbeschluss zur Überwindung von schwerwiegenden Mängeln sowie ein weiterer Ministerratsbeschluss vom 16. November 1971 zur Stabilisierung der Rohrbrücken und gefährdeten Gebäude bisher nur ungenügend erfüllt seien, nach wie vor eine ernste Gefahrensituation bestehe, die sich teilweise noch verschärft habe. Dies zeige sich in folgenden Tatsachen:
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Für über 3 000 Werktätige bestehen unzumutbare Arbeitsbedingungen und erhebliche Gefahren für Leben und Gesundheit.
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Eine große Anzahl von Leitern ist nicht mehr in der Lage, die Verantwortung für die Sicherheit der Werktätigen zu übernehmen.
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55 Anlagen des CKB entsprechen nicht den gesetzlichen Bedingungen der technischen Sicherheit, wobei 18 dieser Anlagen bereits ohne die erforderliche Ausnahmegenehmigung zuständiger Organe betrieben werden.
Aufgrund der seit Jahren bestehenden Mängel und des ungenügenden Erfüllungsstandes der Maßnahmen zu ihrer Beseitigung sei nach Meinung von Fachleuten die Überwindung des Gefahrenzustandes bis 1980 nicht möglich. Es komme vielmehr darauf an, die erforderlichen Mittel und Kräfte so zum Einsatz zu bringen, um die erteilten Auflagen zur Rekonstruktion von Gebäuden, Rohrbrücken und anderen betrieblichen Anlagen kontinuierlich zu realisieren. Die dazu in der Beschlussvorlage (VVS B-2-B 152/337/76) detailliert dargestellten Festlegungen und Maßnahmen sind geeignet, die komplizierte Situation im CKB schrittweise zu überwinden.
Dazu wäre nach Meinung von Fachexperten jedoch die Schaffung folgender Voraussetzungen zu prüfen:
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Einsatz eines Regierungsbevollmächtigten zur stabsmäßigen Leitung und Kontrolle der geplanten Rekonstruktionsmaßnahmen nach Rang und Reihenfolge entsprechend der konkreten Gefahrensituation,
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Bildung und Einsatz einer staatlichen Kommission aus Vertretern der Staatlichen Bauaufsicht, der Technischen Überwachung, der Arbeitsschutzinspektion, des Umweltschutzes, der Staatlichen Versicherung, der Staatsanwaltschaft, der Feuerwehr und des Gesundheitswesens, welche den tatsächlichen Zustand von Gebäuden, Anlagen und technischen Einrichtungen permanent überwacht, den Regierungsbevollmächtigten entsprechend berät und bei Eintreten von akuten Gefahren für Leben und Gesundheit der Werktätigen geeignete Sondermaßnahmen einleitet,
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In den Fällen, wo gefährdete Anlagen aus ökonomischen Gründen ohne Ausnahmegenehmigung weiter betrieben werden müssen, wäre in jedem Fall zu prüfen, ob die Risikoentscheidung den Kriterien des § 169 StGB (Wirtschafts- und Entwicklungsrisiko) entspricht.
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Der Minister für Chemische Industrie sollte sichern, dass die im Maßnahmeplan vom 22. März 1976 zur Auswertung der Havarie im Olefinkomplex Böhlen festgelegten Aufgaben bezüglich der Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit in den Chemiekombinaten wie vorgesehen erfüllt werden. Dies betrifft besonders
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den Einsatz eines Direktors für Betriebssicherheit im CKB,
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die Durchsetzung eines straffen Betriebsregimes unter Abgrenzung der konkreten Verantwortlichkeit,
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den Einsatz von hochqualifizierten Werktätigen in gefährdeten Anlagen,
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die Durchführung von Antihavarietraining zur Abwendung katastrophaler Folgen bei Eintreten von akuten Gefahrensituationen.
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Zur Realisierung komplexer Rekonstruktionsmaßnahmen im CKB sollten aus den Bereichen Bauwesen, Schwermaschinen- und Anlagenbau und Chemieanlagenbau GAN eingesetzt werden.
Es wäre darüber hinaus auch zu prüfen, inwieweit vorgenannte Maßnahmen eine stärkere Unterstützung durch die örtlichen Organe erhalten könnten.