Günter Gaus zur Lage in der BRD und der Politik gegenüber der DDR
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Information Nr. 735/76 über Äußerungen des Leiters der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, Gaus, zu einigen Fragen der Lage in der BRD und der Politik der BRD gegenüber der DDR
Wie dem Ministerium für Staatssicherheit bekannt wurde, erklärte Gaus in einem Gespräch mit einem Bürger der DDR, von dessen positiver Einstellung zur DDR er Kenntnis hat, dass das sehr knappe Ergebnis der Bundestagswahl von den Mitarbeitern der Ständigen Vertretung mit Besorgnis aufgenommen wurde.1 Die FDP werde keine andere Möglichkeit haben, als erneut mit der SPD zu koalieren; es sei aber nicht gewiss, ob diese Koalition bis 1980 Bestand haben werde. Es brauchten nur wenige FDP-Abgeordnete ihre Fraktion zu verlassen, um im Bundestag eine Patt-Situation und damit die Regierungsunfähigkeit der Koalition herzustellen. Gaus verwies darauf, dass man den Übergang von FDP-Abgeordneten zur CDU/CSU-Fraktion in den Jahren 1970 bis 1972 in unguter Erinnerung habe. Was man von dem »Gewissen« von Abgeordneten zu halten habe, hätten auch die Vorgänge in Niedersachsen demonstriert.
Gaus erklärte, er lege Wert darauf, seine politischen Freunde in Bonn zu beeinflussen, dass trotz der schwachen Mehrheit der Koalition im Verkehr mit der DDR keine Stagnation eintrete. Es gelte, sich nicht zu ducken oder hinhaltend zu lavieren, sondern die begonnenen Aktivitäten in den Beziehungen zur DDR fortzuführen. In diesem Zusammenhang äußerte Gaus die Überzeugung, dass es zu regen Aktivitäten in den Beziehungen der BRD zur DDR kommen werde. Sie seien darauf gerichtet, den Grundlagenvertrag durch die Lösung einzelner spezieller Probleme der Beziehungen weiter auszufüllen. Es gehe darum, zu einem geregelten Nebeneinander und schließlich zu einem Miteinander zu gelangen.
Gaus stellte weiter fest, dass bei der Existenz einer CDU/CSU-Regierung in Bonn die erwähnten Aktivitäten verlangsamt würden oder zeitweilig zum Erliegen kämen. Daher glaubt er, dass auch die DDR an der Fortsetzung der SPD/FDP-Koalition interessiert sei.
Er behauptete, die DDR-Führung befinde sich in folgendem »Dilemma«: Einerseits befürwortete sie die Entspannung, andererseits werde die DDR durch die Entspannung anfälliger für die Politik der Sozialdemokratie, für Ideengut des Westens und dabei besonders der BRD. Er erwarte künftig einen Abbau der »Liberalisierungstendenzen« in der DDR bei Aufrechterhaltung gewisser »Ventile«, um gelegentlich »innenpolitischen Überdruck« ablassen zu können. Dass in der DDR ein gewisser »politischer Überdruck« herrsche, sehe er daran, dass der Fall Brüsewitz2 in kurzer Zeit zu außerordentlichen Zuspitzungen geführt habe.
Im Übrigen betrachte er das Problem des Reiseverkehrs von der DDR nach der BRD als das Hauptproblem der Führung der DDR.
Nach seiner Auffassung müsse die Führung der DDR früher oder später Folgendes abwägen: Entweder sie verliere bei der Öffnung der Grenze nach dem Westen einen weiteren Teil der Bevölkerung oder sie stehe vor der Notwendigkeit, ständig mit einem »politischen Überdruck« im Innern fertig werden zu müssen. Für die weitere Zukunft sehe er die Konvergenz der beiden deutschen Staaten und der beiden Systeme als eine logische Fortsetzung der bereits eingetretenen Entwicklung. Unsere Generation werde aber das Ergebnis dieser Entwicklung nicht mehr erleben.
Gaus erklärte, er werde voraussichtlich nicht bis zum Ende der Legislaturperiode als Leiter der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR tätig sein.
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