Hauptmitarbeitertagung des Ev. Jungmännerwerks in Berlin
22. Oktober 1976
Information Nr. 718/76 über die Hauptmitarbeitertagung des Evangelischen Jungmännerwerkes in der DDR vom 7. Oktober bis 10. Oktober 1976 in der Hauptstadt Berlin
Die jährlich stattfindende Hauptmitarbeitertagung des Evangelischen Jungmännerwerkes in der DDR, die in der Pfingstgemeinde Berlin, Petersburger Platz 5, unter dem Thema: »In der Spannung zwischen Leben und Tod« stattfand, wurde am 7. Oktober 1976 durch den theologischen Leiter des Evangelischen Jungmännerwerkes in der DDR, Pfarrer Hilmar Schmid, eröffnet. An der internen Tagung nahmen ca. 200 geladene Personen – Angehörige des Jungmännerwerkes – teil. Gäste aus der BRD und westliche Pressevertreter waren nicht anwesend. Folgende bemerkenswerte Einzelheiten wurden bekannt:
Pfarrer Schmid führte zu Beginn aus, nachdem sich die vergangenen Hauptmitarbeitertagungen mit solchen Themen wie »Der Mensch im Sozialismus«, »Der Mensch in seiner Umwelt«, »Der Mensch in der Gemeinde« befasst haben, solle sich die diesjährige Tagung mit Problemen der Bewältigung des Lebens beschäftigen.
Er betonte, jeder Mensch werde sowohl im Kapitalismus als auch im Sozialismus bis an die Grenzen des Erträglichen gefordert. Bewältige er die an ihn gestellten Anforderungen, so sei er anerkannt und angesehen, schaffe er es nicht, so lasse ihn die Gesellschaft fallen und nur die kirchliche Gemeinde kümmere sich um ihn.
Schmid erwähnte weiter zum Verhältnis Staat – Kirche, im Zusammenhang mit dem Vorfall Brüsewitz1 hätten sich Spannungen zwischen Staat und Kirche ergeben, zu deren Beseitigung gegenwärtig vielfache Aussprachen zwischen Vertretern staatlicher Organe und kirchlichen Amtsträgern geführt würden. Er wies darauf hin, es sei jedoch nicht vorgesehen, während der Tagung des Jungmännerwerkes das Thema Brüsewitz näher zu erörtern. Schmid bat die Teilnehmer, sich in der Hauptstadt »unauffällig zu bewegen«, nicht in Gruppen in der Öffentlichkeit zu diskutieren und nicht für kirchliche Veranstaltungen zu werben. Diese Zusage habe er den staatlichen Stellen gegeben und damit die Genehmigung für die Durchführung der Tagung erhalten.
In einem anschließenden Lichtbildervortrag »Es ist eine Lust zu leben – es ist eine Last zu leben« wurde eine Gegenüberstellung von glücklichen und unglücklichen Menschen vorgenommen. Unter den Bildern von denjenigen, die ihr Leben nicht bewältigen, befanden sich u. a. Rauschgiftsüchtige und Soldaten der NVA.
Der erste Beratungstag wurde mit einem Gebet beendet, das von fünf Mitarbeitern des Arbeitskreises des Jungmännerwerkes der DDR gesprochen wurde. In die Fürbitte wurden die »politischen Häftlinge in aller Welt« und »junge Christen in der DDR, die nicht den von ihnen gewünschten Beruf erlernen können«, eingeschlossen sowie dafür gebetet, dass der »Herr in der Welt eine Front der Vernunft errichten möge«.
Der zweite Beratungstag begann mit einer »Bibelarbeit zum Sinn des Lebens«, gehalten von Werner Lidtke, Landesjugendpfarrer in Görlitz. Neben rein theologischen Problemen befasste sich Lidtke mit der Gegenüberstellung der Lebensziele von Christen und Marxisten. Er erklärte, für die Christen würden im Vordergrund solche Begriffe stehen wie Gnade und Freiheit, während die Marxisten nur Arbeit und Leistung fordern würden. Auf die Frage, wie das Leben weitergehen wird, wenn alle materiellen Güter für alle erreichbar sind, wüssten die Marxisten bisher noch keine Antwort. Zur Untermauerung seiner Ausführungen zitierte Lidtke u. a. Ernst Bloch, Günter Kunert und August Bebel.
Die Tagung wurde in fünf Arbeitsgruppen
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Lebensunwertes Leben?
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Selbstmord?
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Werte des Lebens (Arbeit, Freizeit, Liebe)?
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Leben aus der Retorte?
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Umweltverantwortung?
fortgesetzt.
Aus der Arbeit dieser Gruppen ist bemerkenswert: Die Arbeitsgruppe »Lebensunwertes Leben« beschäftigte sich u. a. mit der Euthanasie (Verkürzung des Todeskampfes durch Verabreichung von Medikamenten). In weiteren Diskussionen klang eine Ablehnung der Schwangerschaftsunterbrechung an.
In der Arbeitsgruppe »Selbstmord«, deren Leiter Oberkonsistorialrat i. R. Ringhandt, Berlin, war, wurde kein Vortrag gehalten. Ringhandt forderte zu Beginn der Arbeit zu Fragen und Diskussionen auf. Bereits die erste Frage eines Teilnehmers bezog sich auf die näheren Umstände der Selbstverbrennung des Pfarrers Brüsewitz.
Ringhandt antwortete, er sei nicht befugt, sich hierzu zu äußern. Es habe aber schon immer Menschen gegeben, die »Zeichen setzten«, so z. B. Winckelmann in der Schweiz, der sich für seine Eidgenossen von Speeren durchbohren ließ, und der antifaschistische Pastor Jochen Klepper. Ringhandt erklärte, er verurteile Brüsewitz nicht als Selbstmörder, er sehe in dessen Freitod das »Signal für eine Diskussion im großen Maßstab über die gesellschaftlichen Missstände in der DDR«. Die DDR besitze »Weltniveau« an Selbstmorden, die z. T. auf den enormen »Leistungsdruck« zurückzuführen seien. Man würde sie aber verschweigen, die Presse dürfe hierüber nichts veröffentlichen.2
Landeswart Kerst (Thüringen) meldete sich darauf zur Diskussion und betonte, man müsse auch sehen, was in der DDR für die Menschen getan werde; das sei gerade das Neue in unserer Gesellschaft.
Ringhandt meinte dazu, dies könne man vor den Wahlen3 dick in den Zeitungen lesen. Bisher gebe es aber keinen Beweis dafür, dass Christen und Marxisten wirklich zusammenarbeiten können.
In der weiteren Diskussion beschäftigten sich die Teilnehmer mit der Frage, wie sich Christen für »gefährdete Mitmenschen« einsetzen könnten.
In den anderen Arbeitsgruppen gab es im Zusammenhang mit den gehaltenen Vorträgen keine negativen Bezugspunkte bzw. Diskussionen.
Hervorgehoben werden muss die Aufführung des DEFA-Filmes »Ikarus« mit einer anschließenden Diskussion mit dem Drehbuchautor Klaus Schlesinger (der bereits durch seine negative Einstellung zur Entwicklung der DDR bekannt ist) und dem Regisseur Karow. An der Veranstaltung – die öffentlich war – nahmen außer den Tagungsteilnehmern weitere ca. 50 Personen teil.
Nach der Filmvorführung begann sofort eine lebhafte Diskussion. [Name], Jungmännerwerk Thüringen, fragte u. a. nach dem Sinn des Films.
Karow antwortete, es sei nicht Absicht gewesen, eine evangelische, katholische oder kommunistische Familie, sondern eine Durchschnittsfamilie zu zeigen, die den Kindern die Entscheidung überlässt, ob sie in die Kirche oder in die FDJ gehen wollen. Bei der Vorlage des Drehbuches sei er gefragt worden, ob mit der Darstellung einer katholischen Familie die christliche Familie verherrlicht werden solle. Er habe geantwortet, wer sei damit einverstanden, anstelle der katholischen z. B. eine Bauarbeiterfamilie zu zeigen, wo der Vater das Westfernsehen anstellt, die Kinder darüber vernachlässigt und sich nicht um deren Entscheidungsfindung kümmert. Daraufhin habe man es bei der katholischen Familie belassen.
Auf die Frage, wem die mit dem Film geübte Kritik gelte, antwortete Karow, dass u. a. Kritik am Staat geübt werden sollte. Er verwies dabei auf die Szene, in der ein Junge von der Polizei verhört und eingeschüchtert wird. Mit dieser Szene sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass viele Menschen gegenüber den Staatsorganen verängstigt sind. Hier erfolgte ein Zwischenruf eines Teilnehmers, im Rahmen des sozialistischen Bildungssystems werde »zur Hörigkeit erzogen und eine eigene Meinungsbildung unterdrückt«. Nach dem IX. Parteitag4 habe die »Verängstigung der Bevölkerung noch zugenommen«.
Karow erklärte darauf, es sei nicht das Anliegen des Films gewesen, das Bildungssystem zu kritisieren, es sei nur das Erlebnis eines Jungen dargestellt worden. Heute existiere noch nicht die ideale Gesellschaft, sie befände sich noch im Zustand der Bewegung. Jeder Bürger sei aufgerufen, an der weiteren Humanisierung der Gesellschaft mitzuarbeiten.
Schlesinger ergänzte, man müsse lernen, den demokratischen Sozialismus aufzubauen und dafür den besten Weg zu suchen.
Dr. Fink, Humboldt-Universität Berlin, stellte die Frage, weshalb dieser Film beim Publikum so wenig Anklang fände. Schlesinger antwortete, es sei eben ein »unbequemer Film«, der die Menschen provoziere. Karow unterstrich diese Feststellung.
Weiter ist die mit Bischof Krusche, Magdeburg, am Abend des 9. Oktober 1976 durchgeführte »aktuelle Stunde«, die ebenfalls öffentlich war, hervorzuheben.
Nach der Eröffnung durch Generalsuperintendent Grünbaum, Berlin, hielt Bischof Krusche zunächst einen kurzen Vortrag über den Kirchentag der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (17.9.– 19.9.1976) in Halle und die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (24.9.–28.9.1976) in Züssow.
Er hob hervor, der Kirchentag habe weitestgehende Unterstützung durch staatliche Organe gefunden. Ein Gast des Kirchentages aus der BRD sei überrascht gewesen, wie frei die Christen in der DDR über gesellschaftliche Probleme diskutieren.5
Auf der Synode des Bundes sei unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausführlich über den Vorfall Brüsewitz diskutiert worden. Dabei sei man zu der Feststellung gelangt, dass sich die Kirchenleitungen bisher »zu lasch in Fragen der Jugend und des Bildungswesens verhalten« haben. Der Tod von Brüsewitz habe »Dinge zum Durchbruch gebracht, die sich schon jahrelang angestaut haben«. Über das Motiv der Tat bestehe keine Klarheit. Brüsewitz habe Plakate mit sich geführt, aber niemand wisse genau, was darauf gestanden habe, bekannt seien nur die Worte »Jugend« und »Kommunismus«.6
In den Presseveröffentlichungen sehe er einen doppelten Zynismus:
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In der Westpresse habe man betont, der Fall sei typisch für die DDR und sei überhaupt nur in der DDR möglich.
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In der Presse der DDR sei zum Ausdruck gebracht worden, dass es in der DDR keine Begründung für einen Selbstmord gebe. Wer eine solche Tat vollbringe, müsse verrückt sein.
Die Kirche habe auf die Selbstverbrennung sachlich reagiert. Erst nach dem Erscheinen der Artikel im »Neuen Deutschland« und in der »Neuen Zeit«7 habe man sich entschlossen, sich vor Brüsewitz zu stellen. Der Staatssekretär für Kirchenfragen allerdings habe verlangt, dass sich die Kirchenleitung von Brüsewitz distanziere.
Nach der Tat von Brüsewitz habe er eine Reihe von Briefen mit Anfragen zu diesem Vorkommnis erhalten, aber auch Drohbriefe, u. a. mit solchen Aufforderungen: Treten Sie ab, Sie sind unfähig! Sie sind schuld am Tod des Pfarrers Brüsewitz. Die Absender der Briefe seien zur Beantwortung ihrer Anfragen zu einer Fragestunde am 4. Oktober 1976 nach Halle eingeladen worden.
Nach einer kurzen Schilderung des Lebenslaufes von Brüsewitz betonte Krusche abschließend, wenn er heute noch einmal mit Brüsewitz sprechen könnte, so würde er ihm sagen, dass Protest das ungeeignetste Mittel überhaupt sei. Jedem Christen müsste klar sein, dass Christus am Kreuz ohnmächtig war. Ein Christ müsse leiden können, und wenn er es nicht könne, müsse er es lernen. Die Christen in der DDR müssten sich damit abfinden, in der Minderheit zu sein.
Von den Teilnehmern wurden anschließend u. a. folgende Fragen gestellt:
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Warum wurde Brüsewitz von der DDR-Presse als geisteskrank hingestellt? Antwort von Krusche: »Nach dem Gesetzbuch der DDR ist das eine Verleumdung.« Von der Kirche seien Maßnahmen gegen diese Verleumdung eingeleitet worden. Zwischenruf: Es sei die Praxis, dass derjenige, der gegen den Staat oder staatliche Maßnahmen auftrete, als geistesgestört bezeichnet und in eine Anstalt gesperrt werde.
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Wie hat sich die Kirchenleitung zu den Veröffentlichungen im »Neuen Deutschland« und in der »Neuen Zeit« verhalten? Antwort von Krusche: Die Kirchenleitung habe sich mit einem Protest an die Redaktionen dieser Zeitungen gewandt8 und dieses Schreiben als offenen Brief an die Gemeinden herausgegeben.9 Dadurch sei die Vertraulichkeit nicht gewahrt worden, aber die Redaktionen hätten nicht geantwortet.
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Stimmt es, dass die Kirchenleitungen bereits die Genehmigung für den Druck der Erklärung der Konferenz der Kirchenleitungen hatten, aber der Druck durch den Streik der Drucker verhindert worden ist? Antwort von Krusche: Er habe gehört, dass in Dresden oder Leipzig die Erklärung der Konferenz der Kirchenleitungen bereits gesetzt war, doch die Drucker der CDU-Zeitung hätten sich geweigert, sie zu drucken. Krusche brachte zum Ausdruck, er bedaure es, dass die Kirchenzeitungen nicht gedruckt werden konnten. Die Kirche habe die Absicht, dieses Problem an den Staat heranzutragen und sich dabei auf die Beschlüsse von Helsinki in Bezug auf Pressefreiheit zu berufen. Die DDR habe hier die Beschlüsse der KSZE missachtet.
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Ist etwas über Solidaritätsaktionen zu Brüsewitz in der DDR bekannt? Antwort von Krusche: Ihm sei lediglich bekannt, dass gegen die Artikel im »Neuen Deutschland« und in der »Neuen Zeit« protestiert wurde.
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Hat es im Zusammenhang mit Solidaritätsaktionen für Brüsewitz auch Verhaftungen gegeben? Antwort von Krusche: Im Zusammenhang mit den Protesten gegen die Artikel im »Neuen Deutschland« und in der »Neuen Zeit« seien Verhaftungen erfolgt. Genaueres darüber könne er nicht sagen. Es seien aber von ihm »entsprechende Schritte« eingeleitet worden, und er nehme an, dass die Verhafteten bald wieder auf freiem Fuß seien.
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Hat die Selbstverbrennung des Brüsewitz der Kirche genutzt? Antwort von Krusche: Im gewissen Sinne ja, denn die Kirche sei zum Nachdenken gezwungen worden.
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Wie schätzt Krusche die staatlichen Reaktionen ein bzw. die Veränderungen in der staatlichen Kirchenpolitik? Antwort von Krusche: Es gebe nur zwei Möglichkeiten: Entweder vertritt der Staat eine harte Linie, oder er sieht sich aufgrund der Unruhe unter der Bevölkerung zur Vertiefung der Zusammenarbeit und der Behandlung anstehender Probleme genötigt. Beide Möglichkeiten seien vorhanden, bis jetzt sei nicht zu erkennen, welche sich durchsetzen wird.
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Hat sich durch die Tat von Brüsewitz das Gemeindeleben aktiviert? Antwort von Krusche: Leider nicht, es kommen nicht mehr Leute in die Kirchen als vorher.
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Was erwartet der Bischof von den Wahlen10 und wie steht er dazu, dass sich Christen und kirchliche Amtsträger in Fernsehen und Presse zum Sozialismus bekennen? Antwort von Krusche: Christen seien bereit, gute Dinge auch gut zu nennen. Kirche und Christen in der DDR hätten keine Antihaltung zum Staat.
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Prof. Dr. Fink, Theologische Sektion der Humboldt-Universität Berlin, forderte auf, über diese Angelegenheit sachlich zu sprechen und sich nicht von Emotionen leiten zu lassen. Die Kirchenleitung sollte sich theologische Gedanken machen, wie man im Zusammenhang mit dem Vorfall Brüsewitz das Eintreten für die Gemeinden auszulegen habe.
Krusche stimmte den Ausführungen von Fink zu und schloss damit die Diskussion ab.
Die Tagung wurde am 10. Oktober 1976 mit einer theologisch angelegten Predigt von Pfarrer Schmid beendet.
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