Kritik kirchlicher Kräfte an Jugendweihe und Menschenrechtssituation
1. Juli 1976
Information Nr. 502/76 über Ausarbeitungen negativer kirchlicher Kräfte aus den evangelischen Landeskirchen Berlin-Brandenburg und Sachsen zum Thema »Jugendweihe« und »Menschenrechte«
Dem MfS wurde intern bekannt, dass von zwölf Pfarrern aus den Landeskirchen Berlin-Brandenburg und Sachsen eine drei Seiten lange Ausarbeitung zu dem Thema »Das erste Gebot und die Jugendweihe« fertiggestellt wurde (Anlage 1).
Bei diesen zwölf Pfarrern handelt es sich um eine Gruppierung streng konservativer Lutheraner, die sich zu der Arbeitsgemeinschaft »Bekenntnis und Bekennen« zusammengeschlossen haben und bereits früher mit DDR-feindlichen Auffassungen offiziell in Erscheinung traten. Ihre Zusammenkünfte finden in unregelmäßigen Abständen (etwa vierteljährlich) in Räumen des »Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR«1 in Berlin, Auguststraße 80, statt.
Bei den darunter befindlichen Pfarrern aus dem Raum Berlin handelt es sich um Mitglieder einer Gruppierung, die Vorbehalte gegen die Politik der Regierung der DDR haben und schon mehrmals zu Synoden der Landeskirche mit Ausführungen im Sinne der beiliegenden Ausarbeitung in Erscheinung getreten sind. Ihre Zusammenkünfte finden in der Superintendentur Berlin-Weißensee statt.
Das neue Papier zur Jugendweihe wurde von ihnen am 11. Mai 1976 verfasst und in der 2. Junihälfte als »streng geheim« unter kirchlichen Mitarbeitern der Landeskirchen Berlin-Brandenburg und Sachsen verteilt. Die Ausarbeitung enthält Angriffe gegen die Jugendweihe in Verbindung mit der Diffamierung der Bildungspolitik der DDR.
Die Ausarbeitung zur Jugendweihe wurde, wie dem MfS weiter intern bekannt wurde, zum Zwecke der Vervielfältigung durch den Westberliner Dr. Julius Rieger, geboren 1901, wohnhaft: Berlin-Schöneberg, Superintendent a. D., von der Hauptstadt der DDR nach Westberlin gebracht. Es ist beabsichtigt, dieses Papier unter den Christen in der DDR zu verbreiten.
Der Mitunterzeichner Dr. J. Ihmels ist gleichzeitig Verfasser eines hetzerischen Papiers in Bezug auf die angebliche Verletzung der Menschenrechte in der DDR. Diese Ausarbeitung trägt die Bezeichnung:
»Acht Sätze zur öffentlichen Verantwortung der Kirche und der Christen – ein Beitrag zur Frage der Menschenrechte in der DDR.« (Anlage 2)
Obwohl diese Ausarbeitung nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch bestimmt sein soll, ist mit Sicherheit eine gewisse Öffentlichkeitswirkung zu erwarten.
Vom MfS wird empfohlen, in geeigneter Form – und unter Beachtung des vertraulichen Charakters der vorliegenden Information – eine Auswertung des Sachverhaltes durch den Staatssekretär für Kirchenfragen mit den Bischöfen Schönherr, Berlin, und Hempel, Dresden, durchzuführen mit dem Ziel, die Verbreitung dieser Materialien zu verhindern.
Außerdem wird vorgeschlagen, die politisch-ideologische Arbeit mit den Unterzeichnern der beiden Ausarbeitungen durch die Referenten für Kirchenfragen bei den entsprechenden Räten der Kreise zu verstärken.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur in geeigneter und abgedeckter Form auswertbar.
Anlage 1 zur Information Nr. 502/76 [Abschrift]
Das erste Gebot und die Jugendweihe
Fragen um die Jugendweihe bewegen die christliche Gemeinde nach wie vor. Allerdings besteht unter dem Druck der Verhältnisse die Gefahr, dass sich Resignation ausbreitet. Es heißt dann: »Der Zug ist durch«. Niederlagen dürfen jedoch nicht zu einer Verdrängung des Problems und zur Einschläferung der Gewissen führen. Immer wieder bedarf es eines deutlichen Wortes, das die Geltung des ersten Gebotes unterstreicht: »Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir.«
Deshalb haben alle evangelischen Kirchen in der DDR die Unvereinbarkeit von Konfirmation und Jugendweihe festgestellt. Es seien einige oft gestellte Fragen genannt, auf die wir eine klare Antwort geben müssen:
- 1.
Warum kann ein Christ nicht guten Gewissens an der Jugendweihe teilnehmen?
Der Glaube an Jesus Christus, unseren Herrn, lässt sich nicht vereinbaren mit dem Herrschaftsanspruch einer Weltanschauung, die den Glauben an Gott bewusst und radikal verneint.
- 2.
Kann man die Jugendweihe nicht unter Absehung von der weltanschaulichen Seite als ein bloßes Treuebekenntnis politischer Art gegenüber dem Staat verstehen?
Die Veranstalter der Jugendweihe lehnen diese Deutung ab. Sie ist auch vom marxistischen Verständnis aus gar nicht möglich. Das im Jugendweihegelöbnis geforderte Bekenntnis zum Sozialismus ist unlöslich verbunden mit dem Bekenntnis zur marxistisch-leninistischen Weltanschauung. Nur dieser Sozialismus ist gemeint. Als Ziel der Jugendstunden bezeichnet das vom »Ausschuss für Jugendweihe in der DDR« im Jahre 1974 herausgegebene Handbuch zur Jugendweihe (S. 54): »Herausbildung und Festigung ideologischer Überzeugungen und sozialistischer Verhaltensweisen im Sinne der Moral und Weltanschauung der Arbeiterklasse.« Außerdem steht z. B. in dem vom gleichen Ausschuss herausgegebenen Buch »Der Sozialismus – deine Welt« (S. 98): »…, dass ein Schöpfer der materiellen Welt nicht existiert.«
- 3.
Warum gerade in der Jugendweihefrage ein Nein, wo wir es doch auf allen Lebensgebieten mit dem »Totalitätsanspruch der atheistischen Weltanschauung zu tun haben, besonders im gesamten Unterrichtswesen?
Es ist ein Unterschied, ob ich in einer öffentlichen Einrichtung wie der Schule es erleiden muss, dieser Weltanschauung ausgeliefert zu sein, oder ob ich in einem feierlichen Akt mich dazu ausdrücklich bekenne. Das Wort »Weihe« stammt aus dem religiösen Bereich! Hier ist die Frage nach dem ersten Gebot besonders hart gestellt.
- 4.
Ist nicht auch die Jugendweihe schon längst zu einer Pflichtveranstaltung geworden, der man sich nicht mehr entziehen kann?
Es ist nicht zu bestreiten, dass hier unter Androhung beruflicher Nachteile ein mehr oder weniger massiver Druck ausgeübt wird. Dies ist ein klarer Verstoß gegen die in der Verfassung garantierte Glaubens- und Gewissensfreiheit. In dem schon genannten »Handbuch für Jugendweihe« steht ausdrücklich auf Seite 11: »Die Teilnahme an der Jugendweihe ist freiwillig«. Wenn wir nicht jeden Raum der Freiheit bis zum Äußersten nutzen, machen wir uns schuldig. In vielen Fällen hat das Eintreten gegen eine Benachteiligung von Nichtteilnahme an der Jugendweihe Erfolg gehabt.
- 5.
Hat die Kirche sich nicht mit diesem Konflikt übernommen, der ausgerechnet in der Verbindung mit der Konfirmationsfrage die Kirche an einer schwachen Stelle traf?
Unsere Kirche hat den Konflikt nicht gesucht, er ist ihr aufgezwungen worden. Wir können uns nicht die Stellen aussuchen, wo wir unseren Glauben zu bewahren haben. In Verhandlungen mit staatlichen Stellen ist von kirchlicher Seite bereits in den 50er Jahren eine Entschärfung der weltanschaulichen Spitze der Jugendweihe angestrebt worden. Alle Vorschläge wurden abgelehnt. Mit bewusster Stoßrichtung gegen die Konfirmation wurde die Durchsetzung der Jugendweihe gezielt als Schlag gegen die Kirche in Angriff genommen.
- 6.
Hätte nicht dieser Angriff durch Nichtbeachtung der Jugendweihe unwirksam gemacht werden können?
Durch ein Verschließen der Augen vor der Jugendweihe und durch Verharmlosung des Problems wird die nihilistische Grundeinstellung gefördert, die nichts mehr ernst nimmt und jeder Entscheidung ausweicht. Das ist die eigentliche Gefahr unserer Tage. Im Übrigen haben die Gemeinden, in denen man die Gleichzeitigkeit von Jugendweihe und Konfirmation bedenkenlos praktiziert hat, in der Regel keine größeren Konfirmandenzahlen aufzuweisen als andere.
- 7.
Ist das Verlangen nach einer klaren Entscheidung in der Jugendweihefrage nicht eine Überforderung der betroffenen Jugendlichen und ihrer Eltern?
Es gilt für viele biblisch begründete Weisungen, dass sie als eine Überforderung des Menschen erscheinen. Aus eigener Kraft können wir sie nicht erfüllen, nur durch Gottes Beistand. Das vielfältige Versagen in der Jugendweihefrage hängt damit zusammen, dass wir nach jahrhundertelanger Verwöhnung zu wenig darauf eingestellt sind, für unseren Glauben etwas zu riskieren. Auch in dieser Hinsicht gibt es eine Erziehung von Kindheit an, wie sie in anderen Konfessionen oft zielbewusster betrieben wird als bei uns.
- 8.
Sollte die Kirche nicht Barmherzigkeit gegenüber denen zeigen, die aus menschlicher Schwachheit dem Druck einfach erlegen sind?
Niemand darf richten und verurteilen, wenn diese ehrlich bekannt wird: »Ich hatte nicht die Kraft zum Widerstehen.« Schlimmer als ein Nachgeben in der Situation der Anfechtung ist die Ausschaltung des Gewissens. Die Art, wie viele Gemeindemitglieder die Jugendweihe häuslich feiern, lässt darauf schließen, dass hier nicht mehr unter dem Unrecht gelitten wird. Die Regelung, dass Jugendgeweihte frühestens nach einem Jahr konfirmiert werden können, ist keine Bestrafung, sondern ermöglicht eine Zeit der Besinnung. Es wird damit unterstrichen, dass nicht im gleichen Zeitraum das Bekenntnis zum wahren Gott und der feierliche Akt der Unterwerfung unter die Gott leugnenden Mächte vollzogen werden kann.
Eine letzte gewichtige Frage könnte lauten, ob nicht alles zu diesem Thema Gesagte zu sehr vom »Nein« und vom »Anti« geprägt sei. Ist es nicht die Aufgabe der Christenheit, zum »Für« zu ermutigen? Wir leben aus dem »Ja« der Gnade. Das schließt unser »Nein« zu allem ein, was uns von Gott trennen will.
Mit unserem Nein zur Jugendweihe treten wir ein für die Gewissensfreiheit, für eine Erziehung zur Charakterfestigkeit, vor allem aber für ein Leben im Gehorsam des Glaubens, für die Geltung des ersten Gebotes.
Berlin, den 11. Mai 1976
Für die Arbeitsgemeinschaft »Bekenntnis und Bekennen«: gez. Hermann Klemm/ gez. Reinhard Steinlein/ gez. Kurt Lehmann/ gez. Günter Knecht/ gez. Walter Demel/ gez. Gerhard Ahlsdorff/ gez. Dr. Jochen Ihmels/ gez. Dr. Hans-Otto Furian/ gez. Wolfgang Lommatsch/ gez. Siegfried Oertel/ gez. Werner Zacharias/ gez. Hellmann
Anlage 2 zur Information Nr. 502/76 [Fotokopie]
Der Landesbruderrat der Bekennenden Ev.-Luth. Kirche Sachsens/ Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch/ 806 Dresden, den 23.4.1975/ [Auslassung der Kontaktdaten]/ Nur zur eigenen Unterrichtung, nicht weitergeben
Acht Sätze zur öffentlichen Verantwortung der Kirche und der Christen
Ein Beitrag zur Frage der Menschenrechte in der DDR.
- 1.
»Er hält die Welt in seiner Hand.« Gott herrscht auch durch Regierungen, die davon nichts wissen. Darum erscheint in den Rechtsordnungen aller Staaten trotz Unglaube, Sünde und Irrtum etwas von Seinem Willen. Das ist auch in den Grundrechten der Verfassung der DDR und in den Menschenrechten der Vereinten Nationen zu erkennen.
- 2.
Gott will, dass der Mensch als sein Geschöpf leben und zu Jesus Christus kommen kann. Dem darf das Recht nicht widersprechen. Darum muss das Recht Raum zur freien Entscheidung für Christus und zum Leben seiner Gemeinde gewähren.
- 3.
Gott gibt den Menschen Ehe, Familie, Bildung, Beruf, Gemeinschaft und Staat. Daraus ergeben sich Grundrechte und Grundpflichten, die wir als Christen zu fordern und zu erfüllen haben.
- 4.
Gott zeigt uns in Jesus Christus das wahre Menschentum. Durch ihn wissen wir, dass Versöhnung, Barmherzigkeit, Schutz der Schwachen und Eintreten für Unterdrückte zur Menschlichkeit gehören.
Trotz unserer eigenen Schuld wissen wir als Christen, dass wir für die damit gegebenen Elemente des Menschenrechtes eine besondere Verantwortung in der Welt tragen.
- 5.
In der heutigen Krise des Normenbewusstseins sollten wir nicht vergessen: Auch in den überstaatlichen und in den staatlichen Rechten und Gesetzen begegnet uns das Menschenrecht Gottes, wie es z. B. die zehn Gebote und das Gebot der Liebe bezeugen.
Wir Christen machen uns schuldig, wenn wir wegen des ideologischen Vorzeichens eines staatlichen Gesetzes die Möglichkeit von vornherein ausschließen, dass uns auch hier Gottes Wille anspricht.
- 6.
Damit ein Gesetz das Gewissen des Menschen trifft, darf es in seinem Inhalt dem göttlichen Ursprung und Ziel des Menschen nicht widersprechen. Kritik an Gesetzen und Verordnungen von hieraus bedeutet Stärkung des Rechtes. Darum stellen wir z. B. fest:
Es ist nicht recht, dass christliche Jugendliche noch immer um ihres Glaubens willen in der DDR gegenüber anderen Schülern im Fortkommen auf ihrem Bildungsweg benachteiligt werden.
Es ist nicht recht, dass noch immer religionsunmündige Kinder in unseren Schulen gegen den Glauben ihrer christlichen Eltern erzogen werden.
Es ist nicht recht, dass zwar Kritik an Verbrechen anderer Staaten bei uns in den Massenmedien geübt werden kann, aber nicht an Verstößen gegen die Menschenrechte in unserem Staat.
- 7.
Weil die Kirche in Gottes Namen reden soll, braucht sie Gewissheit über den Willen Gottes. Deshalb sollte sie nur zu elementaren und zentralen Themen sprechen.
Wenn menschliches Leben an Leib oder Seele bedroht wird, darf die Kirche dazu nicht schweigen, denn beides gehört zum göttlichen Ursprung und Ziel des Menschen. Schweigen aus Furcht ist hier Sünde.
Wer für den fernen Nächsten eintritt, wird unglaubhaft, wenn er bei den Benachteiligten im eigenen Lande schweigt. Wenn wir z. B. gegen die Rassendiskriminierung in anderen Ländern auftreten, dann sollten wir uns auch gegen die Gesinnungsdiskriminierung im Bildungswesen der DDR wenden.
- 8.
Im Eintreten für die Menschenrechte ist jeder Christ auf seiner Ebene mitverantwortlich: z. B. die Eltern bei den Schulen, die Pfarrer bei den örtlichen Organen, die Bischöfe und der Bund der Evangelischen Kirchen bei der Regierung in Berlin.
Die Benachteiligung christlicher Kinder in den Schulen der DDR ist nicht nur ein privates Problem christlicher Eltern, sondern auch ein öffentliches Unrecht, das die ganze Kirche betrifft. Die Diskussion muss deshalb in der Öffentlichkeit geführt werden. Kirchen, Gemeinden und Christen untereinander haben hier Solidarität zu üben. Keiner lasse den anderen allein.
Es geht um die Glaubwürdigkeit der Kirche.
Es geht um die innere Gesundheit des Staates, dessen Bürger wir sind.
Der Landesbruderrat/ (gez.) Dr. Jochen Ihmels/ D.483.4.75.1000.