Lage in Polen angesichts der Änderung der Preisstruktur (2. Bericht)
28. Juni 1976
2. Bericht zur Lage und Entwicklung in der VR Polen im Zusammenhang mit dem polnischen Regierungsprojekt über die Änderung der Preisstruktur [Bericht O/26f]
Im Zusammenhang mit dem polnischen Regierungsprojekt über die Änderung der Preisstruktur wurden dem MfS weitere Stimmungsberichte und Hinweise aus Kreisen der polnischen Bevölkerung intern bekannt, in denen vor allem zum Ausdruck kommt, dass
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die konzipierten Preiserhöhungen in breiten Kreisen der Bevölkerung der VR Polen bis in die Ebenen der staats- und wirtschaftsleitenden Organe abgelehnt werden,
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die angekündigte Rücknahme des polnischen Regierungsprojektes über die Änderung der Preisstruktur durch den Vorsitzenden des Ministerrates nur zeitweiligen Charakter tragen würde und nunmehr wohl etappenweise durchgesetzt werden solle,
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die versprochenen sozialen Verbesserungen und Lohnanhebungen in keinem Verhältnis zu den geplanten Belastungen stehen würden, was vor allem die Schichten mit niedrigem Einkommen besonders treffe,
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die von der polnischen Regierung vorgesehenen Maßnahmen eine Reihe von Schwächen in der politischen und wirtschaftlichen Führung des Landes offenbaren.
Diese Schwächen und Mängel der staatlichen Führungs- und Leitungstätigkeit beträfen in erster Linie
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die unverständliche enge Bindung an nichtsozialistische Länder, insbesondere an die BRD und an die USA,
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die seit geraumer Zeit laufenden Strukturveränderungen im Staats- und Wirtschaftsapparat, die sich zunächst erschwerend und lähmend auswirken,
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das »Hochspielen« des Besuchs des 1. Sekretärs der PVAP, Gen[ossen] Gierek, in der BRD in der Öffentlichkeitsarbeit der VR Polen sowie
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der Export von Nahrungsmitteln (Fleisch), für die auch ein hoher Inlandbedarf bestehe.
Nach den vorliegenden inoffiziellen Einschätzungen würde in diesem Zusammenhang bei den Diskussionen in der polnischen Bevölkerung ein ideologischer Differenzierungsprozess sichtbar. Es wird erwartet, dass das Verhältnis der Partei- und Staatsführung zur Bevölkerung gegenwärtig ernsten Belastungen ausgesetzt werde. Allgemein wurden Feststellungen getroffen, nach denen breite Kreise der Bevölkerung der VR Polen die aufgetretenen Arbeitsniederlegungen und andere Aktionen in verschiedenen Städten gebilligt hätten.
Aus polnischen katholischen Kreisen, die der »Berliner Konferenz katholischer Christen aus europäischen Staaten«1 nahestehen (Sejm-Abgeordneter, Journalisten, Arzt), wurde intern Folgendes bekannt:
Besonders seit der März-Sitzung des Sejm wäre in Vorbereitung auf den neuen Volkswirtschaftsplan bereits wiederholt auf Preise und deren Regulierungen orientiert worden. In Schwerpunktbetrieben wurde auf Arbeiterversammlungen durch Funktionäre argumentiert, dass in der Perspektive der polnische Staat nicht mehr in der Lage sein wird, die bisher gewährten Subventionen in bestimmten Kategorien von Einzelhandelspreisen aufrechtzuerhalten. In diesen Versammlungen wurde allgemein festgestellt, dass sich etwa 70 Prozent der angesprochenen Arbeiter gegen diesen Vorschlag wandten.
Obwohl in den letzten drei Monaten eine sogenannte schleichende Preiserhöhung für Industriewaren des täglichen Bedarfs, Haushaltsgegenstände und Bekleidung festzustellen war, wäre die Ankündigung der Maßnahmen zur Änderung der Preisstruktur vom 24. Juni 1976 völlig überraschend gekommen.
Am 25. Juni 1976 sei es daraufhin zu Streiks in Katowice, Czestochowa, Kalisz und in den URSUS-Werken in Warschau zu totalen Arbeitsniederlegungen gekommen.2 Inwieweit auch Streiks in anderen Orten auftraten, konnten die Betreffenden nicht feststellen. Die Bevölkerung selbst wurde von einer allgemeinen Unruhe ergriffen, und es setzte ein Ansturm auf die Lebensmittelgeschäfte ein, die in kürzester Zeit ausgekauft waren und die Reaktionen auf der Straße noch verschärften. Manche Familien hätten bis zu 40 Pfund frisches Fleisch eingelagert.
Die Reaktionen der Bevölkerung würde sich zwar nicht gegen die PVAP und auch nicht gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der VR Polen richten, sondern einzig gegen die vorgesehenen Änderungen der Preisstruktur.
Die öffentliche Ordnung wurde durch den verstärkten Einsatz der Miliz aufrechterhalten, militärische Kräfte hatte man jedoch nicht eingesetzt.
Die Stimmungen in der Bevölkerung richteten sich vorrangig gegen den Ministerpräsidenten Jaroszewicz und den Ministerrat, jedoch nicht gegen die Polnische Arbeiterpartei und den Genossen Gierek.
Die allgemeine Tendenz der Reaktion in der Bevölkerung lief darauf hinaus, dass mit dieser Beschlussfassung die sozialistische Demokratie in der VR Polen mit Füßen getreten würde und sich die Änderungen in der Preisstruktur gegen die Arbeiter und das Volk richten. In Warschau selbst soll es zu einigen Unregelmäßigkeiten im System des örtlichen Nahverkehrs gekommen sein, da die Beschäftigten ebenfalls ihr Geld in den Geschäften ausgaben.
Am 25. Juni und 26. Juni 1976 sollen unter anderem auch Reisezüge nicht in industriellen Schwerpunkten gehalten haben, insbesondere um weitere Ausschreitungen wie in den URSUS-Werken zu vermeiden.
Mit den Streikenden sprachen Partei- und Wirtschaftsfunktionäre und sollen erreicht haben, dass die Streiks beendet wurden. Die Funktionäre sicherten zu, weiter über diesen Preisregulierungsbeschluss auf Staats- und Regierungsebene zu diskutieren mit dem Ziel, dass die Masse der polnischen Bevölkerung nicht mehr als unbedingt nötig von den Maßnahmen betroffen wird.
Die in diesem Zusammenhang angekündigten Lohn- und Gehaltsverbesserungen würden nur zu etwa 15 Prozent die entstehenden Mehrkosten eines polnischen Haushaltes abdecken.
Die allgemeine Stimmung in der polnischen Öffentlichkeit wird als äußerst gespannt eingeschätzt. Hauptamtliche Mitarbeiter in staatlichen Dienststellen vertreten zwar aus beruflichen Gründen die Notwendigkeit einer Preisregulierung, sind jedoch persönlich nicht damit einverstanden. In diesem Zusammenhang treten auch verstärkt Spekulationen über Hilfsmaßnahmen sozialistischer Länder für die VR Polen auf.
In der Masse der polnischen Bevölkerung wird allgemein die Absicht geäußert, die persönliche finanzielle Situation bei eintretenden Preisveränderungen durch entsprechende Einkäufe in der DDR auszugleichen.
So ist zum Beispiel in Journalistenkreisen bekannt, dass die privaten Spareinlagen in der VR Polen eine Höhe von 200 Milliarden Zloty haben. Einen gewissen Teil dieses Geldes würde man eher im Ausland ausgeben als es dem polnischen Staat zur Verfügung zu stellen.
Mit der Erklärung des Ministerpräsidenten am 25. Juni 1976 habe die polnische Regierung nach Ansicht vorgenannter Kreise den einzig richtigen Schritt getan, um eine Revolte zu verhindern.3 Da die Mehrzahl der polnischen Bevölkerung davon ausgeht, dass sie auch in Zukunft bei Preisregulierungen am härtesten betroffen werde, wäre nicht auszuschließen, dass es in der Zukunft bei diesbezüglichen Beschlüssen erneut zu Unruhen kommen könne.
Wie die Bezirksverwaltung Dresden informiert, blieb die Handelssituation in den Grenzkreisen zur VR Polen – Görlitz und Zittau – bisher stabil. Es gab keine Veränderungen im Warenabkauf durch einreisende polnische Bürger.