Lesungen von Ulrich Plenzdorf
5. Februar 1976
Information Nr. 79/76 über Lesungen bzw. Autorengespräche des Schriftstellers Ulrich Plenzdorf
Dem MfS wurde bekannt, dass der Autor Ulrich Plenzdorf in letzter Zeit in stärkerem Maße an Lesungen bzw. Autorengesprächen interessiert ist, die er an verschiedenen Orten nach individuellen Absprachen mit interessierten Partnern durchführt.
Dabei liest Plenzdorf u. a. aus seiner Erzählung »kein runter kein fern«,1 die sowohl von der kulturpolitischen, thematischen Aussage her als auch von der Sprache, die sich verselbstständigt, ungeeignet ist zur Edition in einem DDR-Verlag. (Es handelt sich bei »kein runter kein fern« um den von Plenzdorf vorgesehenen Beitrag zur Anthologie von Erzählungen unter dem Titel »Berliner Geschichten«, in der das Kritische zum eigentlichen Wesen des sozialistischen Realismus erhoben werden soll.)
Die sich den Lesungen anschließenden Diskussionen und Autorengespräche benutzte Plenzdorf wiederholt zu politisch zweideutigen bis politisch negativen Äußerungen gegen unseren Staat und unsere gesellschaftliche Entwicklung.
Typisch für solche Veranstaltungen war, dass die Veranstalter offensichtlich die Meinung vertraten, in Plenzdorf als Mitglied der SED und Träger des Heinrich-Mann-Preises der Akademie der Künste einen repräsentativen Autor gefunden zu haben, der politisch offensiv auftritt und infolge seines Namens als Autor der »Neuen Leiden des jungen W.«2 die jeweils laufende Veranstaltungsreihe bereichern würde. Meistens gab es seitens des Veranstalters, z. T. auf der Basis des Vertrauens zu Plenzdorfs Namen als Autor, auch keine konkreten Vereinbarungen über den von ihm zu lesenden Text, sodass Plenzdorf die Auswahl selbst überlassen blieb.
Seit Dezember 1975 wurden in diesem Zusammenhang insbesondere drei Lesungen Plenzdorfs bekannt:
Am 5. Dezember 1975 fand eine Lesung von Plenzdorf im Studentenklub »Kasseturm« der Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar vor ca. 100 Personen, vor allem Studenten der Hochschule, statt. Initiator dieser Veranstaltung war ein Leitungsmitglied des FDJ-Studentenklubs »Kasseturm«, das Plenzdorf anlässlich einer seiner Lesungen in Berlin ansprach und fragte, welche Forderungen er im Falle einer Lesung in Weimar stelle. Plenzdorf brachte zum Ausdruck, er stelle keine großen Ansprüche, ihm würden eine kostenfreie Übernachtung und ein Honorar von 150 Mark genügen. Der Zentrale Klubrat der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar sowie die Hochschulparteileitung bestätigten die Veranstaltung.
Plenzdorf las jedoch nicht, wie vom Veranstalter erwartet, aus »Die neuen Leiden des jungen W.«, sondern ca. 45 Minuten die Erzählung »kein runter kein fern«, wobei er mitteilte, dass sie noch nicht veröffentlicht sei. Das anschließende Autorengespräch, bei dem Plenzdorf einige Fragen beantwortete, die unmittelbar auf die Erzählung abzielten und keinen negativen oder provokatorischen Charakter trugen, benutzte Plenzdorf zu negativen Äußerungen wie: die Sprache schwachsinniger Personen sei »humaner« als die der offiziellen Massenmedien der DDR; es sei erschreckend, wie der in der DDR übliche offizielle Sprachgebrauch dem des »Dritten Reiches« ähnele; seine Erzählung stütze sich auf authentisches Material aus Presseveröffentlichungen der DDR, er habe es aber erst fünf Jahre später verarbeitet, weil er glaube, jetzt könne man besser über Mängel und Schwächen unserer sozialistischen Entwicklung sprechen.
Plenzdorf wurde von den Teilnehmern nicht widersprochen, aber auch nicht zugestimmt. Einige Studenten erklärten nach der Veranstaltung, diese sei »mal etwas anderes« gewesen und habe zum Nachdenken angeregt.
Am 16. Dezember 1975 fand im Literaturklub Rostock eine Lesung und Diskussion mit Plenzdorf statt, welche die Leitung des Klubs in Zusammenarbeit mit einem Mitarbeiter des Hinstorff Verlages Rostock organisiert hatte. Im Gegensatz zu den sonst mäßig besuchten Klubveranstaltungen erschienen zu dieser Lesung etwa 80 Personen, vor allem Studenten und Angehörige der Universität Rostock sowie einige Mitarbeiter des Hinstorff Verlages. Plenzdorf teilte zu Beginn der Veranstaltung mit, er lese nicht, wie vorgesehen, aus seiner Arbeit »Karla«, da dieses Szenarium für einen Film zehn Jahre zurückliege und der Film zwar damals abgedreht, aber verboten wurde. Er verlas daraufhin seine Erzählung »kein runter kein fern«, die er, wie er betonte, dem Hinstorff Verlag bereits vorgelegt habe, und die als »Gedanken- und Gefühlsprotokoll« gedacht sei.
Die sich dieser Lesung anschließende Diskussion verlief im Wesentlichen sachlich. Plenzdorf betonte zunächst, er beabsichtige keine Identifikation des Lesers bzw. Zuhörers mit dem Helden der Erzählung (einem schwachsinnigen Jungen, der in Konflikt mit der sozialistischen Gesellschaft gerät), hob dann aber hervor, er wolle durch die Darstellung des Extremen die »Reizschwelle« erreichen und damit zum Nachdenken anregen.
Die eigene politisch-ideologische Position versuchte Plenzdorf offensichtlich vor den Veranstaltungsteilnehmern zu verschleiern, indem er auf Fragen seine Erzählung als »subjektive Reflexion« darzustellen versuchte.
Im Verlaufe der Diskussion wurde deutlich, dass die Mehrheit der anwesenden Personen Thema und Aussage der Erzählung akzeptierten. Dem Vortrag Plenzdorfs und verschiedenen provokatorischen Feststellungen in der Diskussion – z. B. auf die DDR bezogen: »Das Milieu sei geschädigt« – widersprachen weder der Leiter der Lesung noch die anwesenden Mitarbeiter des Hinstorff Verlages.
Am 20. Januar 1976 fand mit Plenzdorf ein Autorengespräch des Klubs der Intelligenz im Haus des Kulturbundes »Johannes R. Becher«, Cottbus, statt, das von ca. 75 Personen, vor allem Jugendlichen, besucht wurde. Die Leiterin der Veranstaltung eröffnete die Lesung u. a. mit der Bemerkung, es sei dem Autor überlassen worden, was er lesen wolle. Plenzdorf las daraufhin 50 Minuten aus seinem dramatischen Stück »Buridans Esel«, seiner Adaption auf de Bruyns gleichnamiges Buch. Anschließend an die Lesung betonte Plenzdorf, er habe sein ursprüngliches Vorhaben, eine Geschichte über Erlebnisse eines 14-jährigen Jungen am 7. Oktober 1969 in Berlin zu lesen, kurzfristig fallen gelassen. Gründe dafür nannte er nicht. Im Verlaufe der Diskussion äußerte Plenzdorf jedoch u. a. weiter, sein Film »Die neuen Leiden des jungen W.« sei »leider verhindert worden«, da es über die Sprache unterschiedliche Meinungen gegeben habe. Der »rechte Flügel«, zu dem Prof. Kaul gehöre, habe sogar von »Sprachverschandelung« gesprochen. Andererseits habe er aber für die Handhabung der deutschen Sprache den »Heinrich-Mann-Preis« bekommen, und die Akademie müsse es ja einschätzen können.
Auf die Frage an Plenzdorf nach seinen literarischen Vorbildern nannte er Volker Braun und [Günter] de Bruyn, betonte aber, alle Literatur sei uns ja nicht zugänglich, schließlich gäbe es außer einer östlichen auch eine westliche Weltliteratur.
Weiter erläuterte Plenzdorf im Verlaufe der Diskussion, er wünsche sich für die Einschätzung der Literatur in der DDR einen »Literatur-Papst«, der, unbeeinflusst von »tagespolitischen Kulturauffassungen«, »objektiv« urteile.
Im Ergebnis von Aussprachen mit Initiatoren dieser Veranstaltungen, insbesondere der Lesung in Weimar, und der erkannten Rolle des Ulrich Plenzdorf gab es bei diesen z. T. Unruhe und Verunsicherung, welche Schriftsteller erwünscht seien und welche nicht, um auszuschließen, dass sich zukünftig gute Absichten in ihr Gegenteil verkehren. (Z. B. hatten Initiatoren der Lesung in Weimar vor der Veranstaltung bei übergeordneten staatlichen Institutionen und Parteileitungen das Einverständnis eingeholt.)
Vom MfS wird empfohlen zu prüfen, inwieweit zwischen dem Minister für Kultur, dem Minister für Hoch- und Fachschulwesen und dem 1. Sekretär des Zentralrates der FDJ gegenseitige Abstimmungen zum verstärkten Zusammenwirken in Vorbereitung derartiger Veranstaltungen notwendig sind, eventuell mit dem Ziel, für Klubhäuser, Bibliotheken, FDJ-Leitungen u. ä. eine zentrale Informations- bzw. Beratungsstelle zur Vorbereitung von Lesungen, Autorengesprächen, Treffs mit Schriftstellern und Kulturschaffenden zu schaffen.3