Mängel am Oberbau der Eisenbahnmagistrale Halle–Erfurt–Gerstungen
17. September 1976
Information Nr. 642/76 über festgestellte betriebsgefährdende Mängel im Oberbauzustand der Eisenbahnmagistrale Halle – Erfurt – Gerstungen
Im Zusammenhang mit dem durch das MfS im Zusammenwirken mit Fachexperten geführten Untersuchungen des schweren Bahnbetriebsunfalles am 23. Juni 1976 auf dem Bahnhof Eisenach (D 354 Berlin – Paris – u. a. 24 Personen z. T. schwer verletzt, Sachschaden von 2,4 Mio. Mark) wurden eine Reihe betriebsgefährdender Mängel im Oberbauzustand der Eisenbahnmagistrale Halle – Erfurt – Gerstungen (Schienen, Weichen, Schwellen, deren Befestigung und derzeitige Lage) festgestellt.
Nach bisher vorliegenden Hinweisen entstanden diese Mängel als Folge von Unterlassungen, vorschriftswidrigen Handlungen, Nichteinhaltung von Qualitätsparametern, durch mangelnde Wahrnehmung von Kontrollpflichten im Prozess der Führungs- und Leitungstätigkeit im Verantwortungsbereich der RbD Erfurt bzw. wurden durch diese Umstände begünstigt.
Dabei verdienen folgende bedeutsame Einzelheiten Beachtung:
Der Oberbauzustand der genannten Hauptstrecke (284 km Streckengleis) wird insbesondere durch neun Langsamfahrstellen mit einer Gesamtlänge von 23,5 km gekennzeichnet. Wiederholte Kontrollen – Einsatz eines Oberbaugleismesswagens – in diesem Streckenteil in den Jahren 1974 bis 1976 ergaben, dass sich der Oberbauzustand in dieser Zeit ständig verschlechtert hat. Die Auswertung der Messstreifen ergab weiter, dass 900 bis 1 000 Toleranzüberschreitungen in jedem der beiden Hauptgleise vorhanden sind (entspricht etwa sechs Toleranzüberschreitungen je Kilometer). Dabei handelt es sich um Überschreitungen der in Eisenbahnvorschriften festgelegten zulässigen Abweichungen für Spurweite, gegenseitige Höhenlage der Schienen u. a. technische Parameter der Gleise.
Die Entgleisung des D 354 ist letztlich auf technische Mängel an einer doppelten Kreuzungsweiche, die in horizontaler und vertikaler Ebene verbogen und nicht – wie vorgeschrieben – mit dem Gleis verschweißt war, zurückzuführen. Auch unsachgemäß ausgeführte Unterhaltungsarbeiten trugen zu diesem technischen Mangelzustand bei. (Der Unfall hatte erhebliche betriebliche Auswirkungen zur Folge: Transitreisezüge mussten umgeleitet werden, für Reisende musste Schienenersatzverkehr eingerichtet werden, der Güterverkehr war zeitweilig eingestellt, und es kam zu Unregelmäßigkeiten im grenzüberschreitenden Verkehr.)
Eine nach dem schweren Bahnbetriebsunfall durch Experten vorgenommene Überprüfung aller 16 in den durchgehenden Hauptgleisen des Bahnhofs Eisenach liegenden Weichen ergab, dass aufgrund der Abweichungen von den zulässigen Maßen Geschwindigkeitsreduzierungen, Auswechslung bestimmter Großteile und dringende Erneuerungen angeordnet werden mussten. Lediglich drei der 16 Weichen befanden sich in einem technisch einwandfreien Zustand.
Die entsprechend den geltenden Vorschriften im II. Quartal jedes Jahres durch den Vorsteher der Bahnmeisterei Eisenach oder dessen Vertreter (Technischer Leiter) persönlich durchzuführende Weichenhauptprüfung in den durchgehenden Hauptgleisen des Bereichs der Bahnmeisterei Eisenach fand nicht statt. Der Vorsteher der Bahnmeisterei Eisenach übertrug diese Aufgabe vorschriftswidrig einem der ihm unterstehenden Streckenmeister. Dieser führte an einem Tag 21 sogenannte Weichenhauptprüfungen durch. Nach Erfahrungswerten von Fachexperten beansprucht jedoch eine Weichenhauptprüfung ein bis eineinhalb Stunden. Die in den Vorschriften geforderte Niederschrift über die Weichenhauptprüfungen wurde nicht gefertigt. Der Vorsteher nahm durch Vermerk in den Arbeitsunterlagen von diesen Weichenhauptprüfungen Kenntnis.
Die Mängel im Oberbauzustand der Hauptstrecke Halle – Erfurt – Gerstungen und die festgestellten Verstöße gegen die auf diesem Gebiet geltenden Vorschriften (Unterlassungen insbesondere von Weichenhauptprüfungen und von Unterhaltungsarbeiten) hatten bereits in der Vergangenheit zu schweren Bahnbetriebsunfällen geführt. So wurden z. B. bei einer Entgleisung des D 49 am 6. Juni 1972 im Streckenabschnitt Eisenach – Erfurt 62 Personen verletzt (Sachschaden etwa 129 000 M), und bei der Entgleisung eines Güterzuges im Streckenabschnitt Weißenfels – Naumburg (14. Juli 1972) entstand ein Sachschaden von 236 000 M.
Bereits 1974 forderte der Bezirksstaatsanwalt von Erfurt vom Präsidenten der Rbd Erfurt (Schreiben vom 28. November 1974) vorbeugende Maßnahmen, da Hinweise vorlagen, dass im Bereich Oberbau der Rbd Erfurt die Einhaltung der der Sicherheit des Bahnbetriebes dienenden Vorschriften und Anweisungen nicht mehr gesichert war und damit Gesetzesverletzungen begangen wurden. U. a. waren Ergebnisse von Messfahrten des Oberbaugleismesswagens ungenügend ausgewertet und betriebsgefährdende Mängel nicht beseitigt worden. Wie weiter festgestellt wurde, sind die Schlussfolgerungen aus dem Jahr 1974 bisher nicht realisiert worden, und gegenwärtig ist noch immer diese Gefahrensituation vorhanden.
In diesem Zusammenhang wird von den in die Untersuchungen einbezogenen Fachexperten auch darauf hingewiesen, dass bisher keine kontinuierliche analytische Betrachtung über einen längeren Zeitraum zur vollen Durchsetzung der Grundsätze und Verfahrensweise zur Kontrolle des Oberbauzustandes und auch keine zweckmäßige Gestaltung der Reparaturprozesse insgesamt weder auf der Ebene der Reichsbahndirektion Erfurt noch im gesamten Verantwortungsbereich der Deutschen Reichsbahn erfolgt sei.
Obwohl die Rationalisierung der Kontrollen im Oberbau unter der Voraussetzung der weiteren Intensivierung der Reparaturmaßnahmen und komplexen Anwendung neuer Methoden und Bewertungsverfahren zentral angewiesen wurde, waren nach Auffassung der Fachexperten bisher die notwendigen Voraussetzungen jedoch nicht geschaffen worden, sodass bereits nach Abschluss zielgerichteter Überprüfungen in bestimmten Streckenabschnitten wieder mit Ausnahmeregelungen gearbeitet wird.
Die »Richtlinie für die Durchführung der belastungsabhängigen Erhaltung der Gleise der Deutschen Reichsbahn« vom 1. April 1973 enthält grundsätzliche Festlegungen über die Zyklen sowie die Sortimentsbreite der Reparaturarbeiten auf der Grundlage der Einstufung der Gleise in Erhaltungsklassen und Gruppen, die in der Reichsbahndirektion Erfurt aufgrund von Erhebungen hätten präzisiert werden müssen.
Die Verschlechterung des Streckenzustandes Halle – Erfurt – Gerstungen lässt erkennen, dass
- –
Rückstände in der Einhaltung der Zyklen sowie der vollen Anwendung der Sortimentsbreite der Reparaturarbeiten bestehen,
- –
die gegenwärtigen Unterhaltungsmaßnahmen nicht ausreichend sind und
- –
eine stabile Belastung der durchgehenden Hauptgleise über längere Zeit nicht gewährleistet ist.
Im Rahmen der Investitionen für die zentrale Oberbauerneuerung und Reparaturarbeiten wurden bisher auf der Magistrale Halle – Erfurt – Gerstungen (Streckengleislänge 284 km) in der Zeit von 1971 bis zum Ende des 1. Halbjahres 1976 50,5 km Gleis und 77 Weichen erneuert sowie 25,6 km Gleisuntergrund verbessert. Das Perspektivprogramm sieht für den Zeitraum 2. Halbjahr 1976 bis 1980 weitere Investitionen für die zentrale Oberbauerneuerung und für Reparaturarbeiten vor, womit insgesamt 105,0 km Gleis und 164 Weichen erneuert sowie 61,8 km Gleisuntergrund verbessert werden sollen.
Im Ergebnis von Untersuchungen und aufgrund vorliegender Hinweise ist zu erkennen, dass – auf das gesamte Streckennetz der DR bezogen – Mängel und Schäden am Oberbau die Betriebssicherheit und Leistungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigen und dass darauf ein erheblicher Teil der Unfälle bei der Deutschen Reichsbahn zurückzuführen ist. So kam es aufgrund derartiger Mängel und Schäden
- –
im Jahre 1975 zu 770 Unfällen mit einem unmittelbaren Sachschaden von 1,4 Mio. Mark (13 % der Unfälle und 22 % der Gesamtschadensumme) und
- –
im 1. Halbjahr 1976 zu 367 Unfällen mit einem unmittelbaren Sachschaden von 3,2 Mio. Mark (16 % der Unfälle und 60 % der Gesamtschadensumme).
Hinzu kommen erhebliche, nicht eindeutig konkret erfassbare Folgeschäden wie
- –
Beeinträchtigung der Gesundheit von Menschen,
- –
Verzögerungen im Güter- und Personentransport,
- –
Umleitung von Reise- und Güterzügen,
- –
Ausfall von Güterwagen und Triebfahrzeugen und
- –
Verzögerungen in der Produktion der volkseigenen Wirtschaft.
Nach wie vor ist festzustellen, dass durch Unterlassungen und vorschriftswidrige Handlungen seitens der unmittelbar verantwortlichen bzw. arbeitsausführenden Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn sowie aufgrund ungenügender Wahrnehmung von Kontrollpflichten noch nicht im erforderlichen Umfang Maßnahmen zur Beseitigung vorhandener Mängel eingeleitet und durchgeführt werden. Dabei haben auch noch solche Verhaltensweisen nachteilige Auswirkungen wie Gleichgültigkeit, des Sich-Abfindens mit einem unbefriedigenden Zustand, wobei sich Dienstvorsteher von Bahnmeistereien und Leitungskader der Direktionen teilweise auf »objektive Schwierigkeiten« berufen.
In Anbetracht des dargestellten Sachverhaltes ist es nach Einschätzung von Experten erforderlich, im Interesse der Erhöhung der Betriebssicherheit und Leistungsfähigkeit der Strecken der Deutschen Reichsbahn folgende Empfehlungen auf ihre Realisierbarkeit zu prüfen:
Im Bereich Bahnanlagen und im Baubereich des MfV sollte eine ständige analytische Arbeit zur Kontrolle des Oberbaues und der effektiven Gestaltung der Reparaturprozesse organisiert werden.
Die volle Durchsetzung der festgelegten Auswertungsprinzipien der Messstreifen in den örtlichen Dienststellen der DR einschließlich der Mängelbeseitigung sollte zum Bestandteil der Leitungstätigkeit der Reichsbahndirektionen gemacht und kontrollfähig gestaltet werden.
Eine Entscheidung wäre herbeizuführen, wie die Überleitung des Verfahrens zur Bewertung der Lagetauglichkeit der Gleise auf der Grundlage der Messergebnisse des Oberbaugleismesswagens unter Nutzung der Möglichkeiten der EDV in die Praxis schnellstmöglichst gewährleistet werden kann, um die Entscheidungsgrundlagen zur mittel- und langfristigen Planung der Reparaturarbeiten weiter zu objektivieren, einen effektiveren Einsatz der Kapazitäten zu ermöglichen und weitere Reserven zu erschließen.
Weitere Möglichkeiten zur Verbesserung der zentralen Einsatzlenkung der Bau- und Reparaturkapazität sowie ihre Konzentration auf Schwerpunkte sollten – unter Berücksichtigung der zu lösenden Transportaufgaben und der zur Verfügung stehenden Bau- und Reparaturkapazitäten – erschlossen werden.
Für die effektivere Gestaltung der Reproduktion des Streckennetzes der DR insgesamt müsste unter Berücksichtigung der für Investitionen, Zentrale Oberbauerneuerungen und Instandhaltungsarbeiten zur Verfügung stehenden Kapazitäten geprüft werden, wie die Einhaltung der Fristen für Unterhaltungsarbeiten in neu- oder umgebauten Gleisen gewährleistet werden kann, um vorbeugend Betriebsgefahren und Einschränkungen der Leistungsfähigkeit rechtzeitig zu verhindern. Durch geeignete Maßnahmen des MfV sollte darüber auch die entsprechende Kontrolle ausgeübt werden, um u. a. den Anteil des Streckennetzes, der den Qualitätsansprüchen einer internationalen Strecke bzw. Transitstrecke genügt, weiter zu erhöhen.
Die Bewertung der Planerfüllung im Hauptdienstzweig Bahnanlagen sowie im Baubereich sollte mehr auf die Gewährleistung einer hohen Qualität im Langzeitverhalten der Hauptgleise und auf eine sichere Betriebsdurchführung orientiert werden.
Das Einrichten außerplanmäßiger Langsamfahrstellen auf Schwerpunktstrecken sollte nicht wie bisher von einer Genehmigung des Ministers für Verkehrswesen abhängig gemacht werden. Im Interesse der umfassenden Durchsetzung bestehender Weisungen des Ministers für Verkehrswesen über die Sicherung festgelegter Geschwindigkeiten sollte die Einrichtung außerplanmäßiger Langsamfahrstellen auf Schwerpunktstrecken weiterhin berichtspflichtig bleiben und entschieden werden, wie diesbezügliche Angaben beim Stellvertreter des Ministers und Ersten Stellvertreter des Generaldirektors der deutschen Reichsbahn erfasst und analysiert werden könnten.
Die vorhandenen Initiativen in den Reichsbahndirektionen zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit der eigenen Tiefbaukapazitäten sollten weiter gefördert und die Realisierung der im Leitungsdokument und Maßnahmeplan Eisenbahntiefbau enthaltenen Aufgaben noch stärker unter Kontrolle genommen werden.
Die Zweckmäßigkeit der Einleitung weiterer Maßnahmen im Interesse einer schnelleren Realisierung der Forschungsvorhaben und zur Beschaffung effektiver Kleinmechanismen für die Leistungssteigerung im Eisenbahntiefbau sollte nochmals geprüft werden.
Außerdem wäre über weitere Kontrollmaßnahmen zu entscheiden mit dem Ziel, bei laufenden Überhängen geplanter Tiefbaumaßnahmen für den Bau 2. Gleise bzw. der Zentralen Oberbauerneuerung, insbesondere die für die Standfestigkeit der Gleiskörper notwendigen Unterbau- und Entwässerungsarbeiten betreffend, geeignete Sofortmaßnahmen einzuleiten.
Die Untersuchungen werden fortgesetzt.